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Wachstum

Wenn die Bevölkerungszahl explodiert

Nicht in Bern oder Biel, sondern an den Rändern und Verkehrsachsen wächst die Berner Bevölkerung am schnellsten. 
Ganz vorne steht die Seeländer Gemeinde Lyss. Wie kommt das? Und welche Konsequenzen bringt das mit sich?

Dichtestress in Lyss? Die zugeteerte Fläche hat hier stark zugenommen. Bild: Matthias Käser

Stefan von Bergen

Noch grüsse man sich in Lyss auf der Strasse. Aber ausgerechnet in der Begegnungszone am Bahnhof gebe es kaum «Platz für einen Schwatz», sagt Lorenz Eugster, Präsident der grünen Ortspartei. Parkierte Autos seien den Fussgängern und Fussgängerinnen im Weg. Und die hätten ohnehin wenig Zeit. Sie eilen auf den Zug, um wegzupendeln nach Bern und Biel, zur Arbeit. Lyss ist gross, mobil und anonymer geworden. «Ich nenne Lyss heute bewusst eine Stadt», sagt Eugster. Als er hier aufwuchs, war es noch ein Dorf.

Lyss’ Bevölkerungszahl hat allein in den letzten 20 Jahren um über 50 Prozent zugenommen – von rund 10 000 auf fast 16 000. Zwar sind 2000 Menschen im Jahr 2011 durch die Fusion mit der Nachbargemeinde Busswil hinzugekommen. Aber auch so gehört Lyss zu den Orten im Kanton Bern, die am rasantesten gewachsen sind.

«Wir haben einen guten Groove, die Bevölkerung ist entwicklungsfreundlich und will vorwärtsgehen», beschreibt Gemeindepräsident Andreas Hegg (FDP) die Stimmung des Berner Wachstumschampions. «Lyss ist aber auch ein Champion bei den versiegelten Flächen», erwidert Grünenpolitiker Eugster. Die zugeteerte Fläche habe in der Schweiz innert 24 Jahren im Schnitt um 29 Prozent zugenommen, im rasant wachsenden Lyss gar um 31 Prozent, rechnet er vor.

Kanton wächst an den Rändern

Lyss führt ein Trio von Berner Gemeinden an, deren Bevölkerungszahl seit der Jahrtausendwende um mindestens ein Drittel gewachsen ist. Niederbipp im Oberaargau, die Nummer zwei, expandierte von 3800 auf 5300. Der Berner Vorort Belp, die Nummer drei, legte von knapp 9000 auf 11 600 Einwohnerinnen und Einwohner zu.

Die drei Boomgemeinden gehören gemäss dem kantonalen Richtplan zum Raumtypus «Agglomerationsgürtel und Entwicklungsachsen», erklärt Rolf Widmer, Abteilungsleiter auf dem kantonalen Amt für Gemeinden und Raumordnung (AGR). «Sie weisen eine höhere Wachstumsrate auf als urbane Kerngemeinden», macht er deutlich.

Am stärksten gewachsen ist die Berner Bevölkerung gemäss Widmer also nicht in den Ballungszentren, sondern an deren Rand. Und insbesondere etwas ausserhalb. Auf den Hauptverkehrsachsen Bern–Biel, Bern–Thun und Bern–Solothurn – in günstiger Pendeldistanz von den Zentren.

Was die Leute nach Niederbipp lockt

Die Städte Thun und Bern sowie die Agglomerationsgemeinde Köniz haben zwar ihr Siedlungsgebiet seit 2000 auch deutlich erweitert, ihr Zuwachs ist aber weniger hoch. Grosse Gemeinden können natürlich prozentual weniger schnell wachsen. Es gibt aber auch ländliche Regionalzentren wie Langenthal und Langnau, deren Zuwachs deutlich unter dem kantonalen Schnitt von 10 Prozent liegt.

Weder Lyss noch Niederbipp oder Belp würden für ihr Ortsbild einen Schönheitspreis erhalten. Warum haben sich dort dennoch mehrere Tausend Zuzügerinnen und Zuzüger niedergelassen? «Niederbipp ist ein Strassendorf», bestätigt Gemeindepräsidentin Sibylle Schönmann (SVP). An den Neuzuzüger-Anlässen fragt sie jeweils nach den Gründen, sich im Ort niederzulassen. «Die erste Erklärung ist immer die geografische Lage», sagt sie, «noch vor dem Kostenniveau und dem Steuerfuss.»

Niederbipp liege – anders als das Oberaargauer Zentrum Langenthal – direkt an der Autobahn A1, betont Schönmann. Bern, Biel, Basel und Luzern sind gleichermassen 30 Fahrminuten entfernt, Zürich eine Stunde. Die Leute ziehen nicht wegen der zahlreichen Arbeitsplätze nach Niederbipp, sondern um hier günstig zu wohnen und für den Job wegzupendeln. 71,3 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner arbeiten auswärts.

Viele neue Überbauungen

Auch Lyss und Belp liegen an der Autobahn, die S-Bahn fährt im Viertelstundentakt zu den Jobs im Ballungsraum Bern oder Biel. Die Wohnkosten sind noch tiefer, der Leerwohnungsbestand etwas höher als im Grossraum Bern.

Wo ein Hotspot des Bevölkerungswachstums liegt, ist nicht bloss eine Frage von geografischer Lage, Erschliessung und Wohnungsangebot. Der Kanton steuert diese Entwicklung auch bewusst mit raumplanerischen Vorgaben. Er erlaubt in den drei Boomgemeinden noch eine gewisse Einzonung von neuem Bauland und eine hohe Verdichtung, damit nicht draussen auf dem Land grüne Wiesen überbaut werden. In Lyss sind gar zwei Hochhäuser geplant.

Neue Wohnüberbauungen brauchen Platz, und der ist in den boomenden Regionalzentren in höherem Masse vorhanden als in der zugebauten Agglomeration. Nach der Jahrtausendwende haben Lyss, Niederbipp und Belp am Siedlungsrand neues Bauland eingezont. In Belp entstand so etwa am Abhang des Belpbergs die Siedlung Riedli. Allein hier wohnen 1200 Menschen – das ist die Einwohnerzahl einer mittleren Berner Gemeinde. Das gewerblich und industriell geprägte Lyss hat noch einen besonderen Vorteil: Es verfügt auf dem Brachland früherer Industrieanlagen über eine Landreserve für Wohnbauten.

Finanzielles Wachstumsdilemma

«Jedes frei werdende Areal wird heute sofort überbaut», sagt Lyss’ Gemeindepräsident Andreas Hegg. Er beobachtete seit kurzem beim Bauen eine enorme Tempoverschärfung. «Niederbipp ist eine Dauerbaustelle, wo Siedlungen mit bis zu 120 Wohnungen entstehen», erzählt auch Gemeindepräsidentin Sibylle Schönmann. Es sei kaum mehr Bauland verfügbar.

Das frenetische Wachstum ist aber nicht nur ein Glück. Es ist für die Boomgemeinden in finanzieller Hinsicht ein Stresstest. «Wir kommen zeitlich und finanziell kaum nach beim Aufbau der neuen Infrastruktur», sagt Niederbipps Gemeindepräsidentin. Für die neuen Wohnquartiere müssen Strassen sowie Leitungen für Strom und Wasser ausgebaut werden.

Eine besondere Herausforderung ist der Schulraum. Die Kinder der neu hergezogenen Familien brauchen Platz. Seit 2012 müssen Berner Gemeinden vom Kanton einen höheren Anteil der Schulkosten übernehmen, seit 2010 müssen sie eine Tagesschule anbieten. Diese ist in Niederbipp laut Sibylle Schönmann derart gewachsen, dass sie schon zwei Etagen und bald auch die dritte des alten Spitals belegt.

«Mehr Zuzüger bedeuten nicht einfach mehr Steuereinnahmen», sagt sie. Die zuziehenden Familien können Steuerabzüge machen. Das Steueraufkommen pro Kopf ist in Niederbipp gesunken. 2020 liess die Gemeinde ihre Sozialstruktur analysieren, erzählt die ­Gemeindepräsidentin. Das Ergebnis: Der Anteil eher wenig Verdienender ist überdurchschnittlich gross, jener des Mittelstands unterdurchschnittlich, Vermögende gibt es kaum mehr. Die beiden natürlichen Personen, die zusammen über eine Million Franken Steuern zahlten, sind weggezogen.

So marschiert Niederbipp in ein Wachstumsdilemma: Die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen öffnet sich. Der Paradefall für diese Zerreissprobe ist die ebenfalls stark gewachsene Berner Vorortsgemeinde Köniz. Dort sind von 2010 bis 2017 die Investitionskosten stark angestiegen, der Selbstfinanzierungsgrad der Gemeinde hat aber bis auf einen Tiefpunkt 2016 abgenommen, erklärt Rolf Widmer vom AGR die Abwärtsspirale. Köniz gehöre heute zu den zwölf Berner Gemeinden mit einer hohen bis sehr hohen Nettoschuld.

Wachstumsskepsis erreicht Agglo

Die Steuererhöhung, die der Gemeinderat vorlegte, wurde von den Könizerinnen und Könizern abgelehnt. Erst eine befristete Erhöhung wurde dann akzeptiert. Niederbipps Gemeinderat berät derzeit das Budget. Eine Steuererhöhung ist laut Gemeindepräsidentin Schönmann absehbar. In Lyss ist die Finanzlage nicht angespannt. Dank zusätzlicher Steuereinnahmen von den Zuzügern sei die Infrastruktur «à jour», sagt Gemeindepräsident Hegg.

Das Wachstum verunsichert auch das lokale Identitätsgefühl. Die Boomgemeinden verspüren Wachstumsschmerzen. «Früher kannte ich in Niederbipp fast alle, aber das ist schon lange vorbei», sagt Sibylle Schönmann. «Lyss leidet an Dichtestress», findet Grünenpolitiker Lorenz Eugster. Es habe eine starke Zunahme an Beton, Mobilität und Pendlerinnen und Pendlern gegeben. Der Konkurrenzkampf von Individualisten, die sich in Lyss ihr günstiges Wohnglück erarbeiten, habe sich verschärft. Die lokalen Vereine, hört Eugster, haben Mühe, genug Leitungspersonen zu finden, Mitglieder kommen und gehen schneller, der soziale Zusammenhalt ist loser geworden.

«Wir leiden nicht am Wachstum, wir haben es vielmehr bewusst geplant», widerspricht Lyss’ Gemeindepräsident Andreas Hegg dem grünen Kritiker Eugster. Das Gemeindeparlament habe den Wachstumskurs mit seiner Zustimmung zur letzten Ortsplanungsrevision sowie zum städtebaulichen Richtplan genehmigt. «Man kann sich gegen Wachstum nicht wehren, es kommt ohnehin», findet Hegg. Lyss verfolge aber ein qualitatives Wachstum nach innen und sei um eine Aufwertung des Ortszentrums bemüht. Bei der letzten Ortsplanungsrevision habe man nur noch 7 von möglichen 14 Hektaren Bauland eingezont.

Trotz der Wachstumsakzeptanz in Lyss: Die Debatte über die Grenzen des Wachstums erreicht in den Berner Boomorten nun die Gemeindepolitik. So sah auch die jüngste Revision der Ortsplanung von Belp nur moderate Einzonungen sowie eine Verdichtung und Aufwertung nach innen vor. Dennoch wurde sie Ende September von den Stimmberechtigten überraschend deutlich bachab geschickt. Belps Gemeindepräsident Benjamin Marti (SVP) räumt nach dem Nein eine gewisse Ratlosigkeit ein.

Es sei unklar, ob das gegnerische Komitee mit dem Unbehagen gegen Belps Wachstumsschub vor zehn Jahren oder gegen die nun vorgesehene Verdichtung gepunktet habe. Belp habe bis jetzt bürgerlich und gewerbefreundlich getickt. Aber es sei möglich, dass die generelle Wachstumsskepsis, die vor einigen Jahren in Berner Vororten Überbauungen stoppte, nun auch die äussere Agglomeration erreiche.

«Gegen die simple Gleichung: Wachstum gleich Nachteile und Kosten, ist mit differenzierten Argumenten schwer anzukommen», seufzt Marti. Er glaube an das Entwicklungspotenzial seiner Gemeinde und dass dieses noch nicht ausgeschöpft sei. Die Gegner verwendeten im Abstimmungskampf den Slogan «Belp bleibt Belp». «Wenn es so bleibt, wird Belp ein Altersheim», erwidert Marti. Es könnte sein, dass Belp nach einer Wachstumsphase nun in eine Stagnation gerate, fürchtet er. «Es ist unklar, wohin die Reise nun geht und wer die Weichen stellt», zieht Marti nachdenklich Bilanz.

Lorenz Eugster, der Grüne aus Lyss, ist überzeugt, dass die noch jungen, intensiv gewachsenen Städte Lyss oder Belp ein neues, nachhaltigeres Denken erlernen müssen. «Die Politik muss die Kehrseiten des Wachstums aufgreifen und leere, grüne Begegnungsräume im Ortsinneren zulassen», findet er. Eugster plädiert für ein «genügsames Wachstum», in dem nicht nur die geteerten Flächen, sondern auch die Zufriedenheit wachse.

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