Sie sind hier

Abo

Schulanlagen

Das geliebt-gehasste Turngerät 
hat ausgedient

Früher haben sie auf keinem Pausenplatz gefehlt – heute gehören sie zum alten Eisen: Die Kletterstangen sind 
auf dem Rückzug. Wer wird sie wirklich vermissen?

Seltener 
Anblick: 
Kletterstange vor dem 
Schulhaus in Gerzensee. Bild: Christian Pfander

Stefan von Bergen

In einer luftigen Höhe von über fünf Metern treffen vier schräge auf vier senkrechte Eisenstangen und bilden auf dem Pausenplatz der Schule Gerzensee ein markantes Klettergerüst. Rost- und verblichene Farbspuren zieren die Stangen. Meist sind sie verwaist.

«Im Turnunterricht werden die Kletterstangen nicht mehr gebraucht», weiss Gerzensees Schulleiterin Silvia Scheidegger. In den Unterrichtspausen klettere kaum mehr ein Kind hoch. «Warum die Stangen noch stehen, müssen Sie auf der Gemeindeverwaltung fragen», sagt Scheidegger.

Die Kletterstangen sind Zeugen aus einer versunkenen Ära der körperlichen Ertüchtigung. Bis in die 80er-Jahre gab es sie auf allen Pausenplätzen und in zahllosen Turnhallen von Basel bis Chiasso. Sie waren so etwas wie eine nationale Ikone. Fixe Kids kletterten hoch, setzten sich oben auf die Querstange und blickten in der grossen Pause auf die anderen hinunter.

Für andere waren die Kletterstangen ein Folterinstrument, an dem sie versagten. Sie erinnern sich an erniedrigendes Scheitern, Höhenangst, Harndrang und wunde Hände.

 

Heute sind Kletterwände beliebter

Im Kanton Bern sind die Kletterstangen auf dem Rückzug wie die Gletscher. Vor allem jene, die draussen auf den Schulplätzen Wind und Wetter ausgesetzt waren, sind rar geworden. «Ich kann mich nicht genau erinnern, wann die Stangen beim Schulhaus Städtli rückgebaut wurden», sagt Schulleiter Matthias Mürner aus dem Oberaargauer Städtchen Huttwil. In den Turnhallen gebe es noch Kletterstangen, die von einigen Klassen im Sportunterricht benutzt würden.

Im Emmental haben die Kletterstangen in der Turnhalle Schützenmatte in Burgdorf oder in der Halle von Bowil überlebt. «Sie werden nur noch sporadisch benutzt», weiss Bowils Schulleiterin Carmen Dölle. Die Kletterstangen auf dem Pausenplatz seien hingegen vor einiger Zeit entfernt worden.

 

Aus dem Lehrplan 21 gestrichen

Auch in der Landgemeinde Niedermuhlern auf dem Längenberg sind die Outdoor-Stangen abgebaut worden. Diejenigen in der Turnhalle aber setzt der Hauswart und Turnlehrer Ruedi Wenger immer noch im Unterricht ein. «Klettern, Balance und Mutproben gehören weiterhin zum Turnlehrplan», erklärt er. «Aus Sicherheitsgründen legen wir als Fallschutz aber immer Matten aus.» Und Wenger erzählt, dass die Kids gern an der hippen Kletterwand in der Turnhalle des Nachbarorts Zimmerwald herumturnen.

Selbst in der Stadt Bern gibt es in den Turnhallen Tscharnergut oder Altenberg noch Kletterstangen. Eine Übersicht über die Standorte und den Bestand habe man aber nicht, richtet das Stadtberner Sportamt aus. Wegen erhöhtem Unfallrisiko würden sie entfernt oder in neuen Hallen gar nicht mehr errichtet.

Definitiv verschwunden ist die Kletterstange aus dem Lehrplan 21. «Das Stangenklettern kommt dort nicht mehr explizit vor», weiss Yves Brechbühler, Sprecher der kantonalen Bildungsdirektion. Klettern wird im Lehrplan als eine von mehreren Grundbewegungen explizit aufgeführt.

In der Liste der Geräte, die das Bundesamt für Sport für die Ausstattung von Sporthallen empfiehlt, wird die Kletterstange noch erwähnt. Allerdings bloss als eine Option neben den beliebteren Kletterwänden oder Gitterleitern, sagt Niklaus Schwarz, beim Bundesamt für Sport Leiter der Fachstelle Sportanlagen.

 

Klettern als militärische Ertüchtigung

Die Kletterstangen sind ein Kriegskind. Niklaus Schwarz blendet zurück in ihre Geschichte: 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde das Klettern an der fünf Meter hohen Stange als eine von fünf Disziplinen bei der Sportprüfung an der Aushebung der Rekruten eingeführt. Von den Kasernenplätzen aus eroberten die Kletterstangen bald die Schulhausplätze.

Sie atmen den Geist der damaligen Zeit. Die eisernen Stangen stehen militärisch in Reih und Glied nebeneinander. Das Klettern bildete ein Leistungs- und Aufstiegsdenken ab: Jeder und jede sollte aus eigener Kraft nach oben kommen. Und die Stangen stammen aus einer Epoche, die Männer bevorteilte. Mädchen und junge Frauen waren infolge kleinerer Oberarmmuskulatur benachteiligt.

 

EU-Norm gab eigentlichen Todesstoss

1982 bewältigten die Rekruten die fünf Meter lange Stange noch in einer Durchschnittszeit von 4,8 Sekunden. 2001 waren es schon 5,8 Sekunden. «Die Disziplin wurde zu selektiv, immer mehr Rekruten kamen zu langsam oder gar nicht mehr hoch», sagt Niklaus Schwarz. 2003 schaffte die Armee das Klettern an der Stange als nicht mehr zeitgemässe Sportdisziplin ab. Es war der Anfang vom Ende der Kletterstange.

Den eigentlichen Todesstoss versetzte ihr die Norm 1176/1177 «Spielplatzgeräte und Spielplatzböden» von 1997. Die Schweiz übernahm sie von der EU. Für Klettergeräte auf Spielplätzen legt die Norm eine maximal zulässige Fallhöhe von drei Metern fest und verlangt einen Fallschutz in Form von Kunststoff, Holzschnitzeln oder Rundkies. Die fünf Meter hohe, auf Sand oder Teer gebaute Kletterstange passte nicht mehr in dieses neue Sicherheits- und Vorsichtsdenken.

Zwar gelte die Norm von 1997 für Spielgeräte, und die Kletterstange sei eigentlich ein Sportgerät, differenziert Schwarz. Die Norm werde nun aber auch für die Stangen angewandt. Zumindest wenn Outdoor-Kletterstangen mit Aussichtsetagen oder Rutschbahnen zu Spielgeräten umfunktioniert werden.

Weil bei einem Unfall an Outdoor-Kletterstangen die Eigentümerin haftet, werden die alternden Stangen nun vielerorts entfernt. Überdies werden sie laut Schwarz von den Herstellerfirmen gar nicht mehr für Aussenanlagen produziert.

Ein eigentliches Verbot, eine Sperrung oder eine systematische Entfernung der Kletterstangen aber gibt es nicht. Das ist auch gar nicht nötig. «Die meisten Kinder können die Stangen ohnehin nicht mehr hochklettern, und die, die hochkommen, fallen nicht runter», sagt Niklaus Schwarz.

Niklaus Schwarz,
 Leiter der Fachstelle Sportanlagen 
beim Bundesamt für Sport

Nachrichten zu Kanton Bern »