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Schulen

Lehrkräfte benötigen vermehrt Hilfe

Erhöhtes Infektionsrisiko, fordernde Eltern, Personalausfälle – viele Lehrerinnen und Lehrer im Kanton Bern erleben derzeit schwierige Zeiten. Direktbetroffene erzählen.

Symbolbild: Keystone

Quentin Schlapbach

Seit dem Ende der Herbstferien erleben die Berner Schulen stürmische Zeiten. Das Coronavirus rast durch ganze Klassenverbände, reihenweise werden Kinder zum Ausbruchstesten aufgeboten, Hunderte von ihnen mussten in den vergangenen Wochen in Quarantäne. Die Schulen sind auch im neuen Jahr die Hauptdrehscheibe des Coronavirus – das zeigen die jüngsten Ansteckungszahlen.

Die aktuelle Situation beschäftigt vor allem die Familien. Dutzende Eltern im Kanton Bern haben sich in den letzten Wochen und Monaten zu Gruppierungen vereint, die wahlweise eine strengere oder eine lockerere Handhabung der Pandemie fordern. Als Zielscheibe ihrer Frustration dienen oft die Schulen selbst – und an vorderster Stelle die Lehrerinnen und Lehrer. Sie müssen die Corona-Massnahmen in den Klassenzimmern durchsetzen und nehmen dabei selbst täglich ein erhöhtes Risiko in Kauf, sich mit dem Virus anzustecken.

Dementsprechend belastend sind die Umstände für Lehrpersonen. Gegenüber dieser Zeitung sagt eine Primarlehrerin aus Bern:

«Ich empfinde die Situation als sehr belastend. In unserem Kollegium ist das ständige Ansteckungsrisiko ein grosses Thema. Mittlerweile sind viele richtig ‹hässig› – auf den Kanton Bern, aber auch auf die Stadt Bern. Dass beispielsweise an den Schulen über Wochen nicht getestet wurde, verstand bei uns niemand. Nicht einmal FFP2-Masken wurden uns von der Schulleitung zur Verfügung gestellt. Von manchen Eltern werden wir seit Wochen permanent kritisiert, dienen als Ventil, weil sie mit der Pandemiepolitik nicht zufrieden sind. Dabei fühle auch ich mich von den Behörden im Stich gelassen. Für mich ist klar: Auf die Dauer halte ich das nicht mehr aus.»

 

Der Fokus muss nach innen

«Corona ist für Lehrpersonen zu einem zusätzlichen, bedeutenden Belastungsfaktor geworden», sagt Patrick Figlioli, Bereichsleiter Berufsbiografie, Beratung und Unterstützung bei der Pädagogischen Hochschule Bern. Bei ihm und seinem neunköpfigen Team finden Lehrerinnen und Lehrer, aber auch andere Fachpersonen aus dem Schulbereich eine erste niederschwellige Anlaufstelle.

Im Optimalfall suchen die Betroffenen bereits frühzeitig Hilfe, bevor sie in ein Burn-out fallen. Immer wieder erleben Figlioli und sein Team aber, dass bereits erste Anzeichen einer Depression vorliegen, wenn die Ratsuchenden zu ihnen kommen. «Besonders Männer warten oft zu lange, bevor sie sich professionelle Hilfe holen, weil sie lange glauben, allein mit ihren Schwierigkeiten klarzukommen», sagt er.

Die Nachfrage nach Beratungen habe im letzten Jahr um rund 10 Prozent zugenommen. Die Pandemie verstärke bestehende Probleme, die bereits vorher vorhanden gewesen seien, so Figlioli. Als Beispiel nennt er die reduzierte Möglichkeit, wieder Kräfte zu tanken, oder die fortschreitende Digitalisierung und das dadurch verbundene Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen. Das tangiert auch Lehrpersonen immer stärker, etwa wenn sie sogar übers Wochenende per SMS oder Mail mit Anliegen der Eltern konfrontiert werden.

«Wenn jemand dauernd unter Anspannung steht, schränkt das seine Wahrnehmung ein», sagt Figlioli. Die Folgen seien Empathiemangel und Grabenkämpfe mit der Aussenwelt.

Figlioli rät den Lehrerinnen und Lehrern, ihren Blick nach innen zu richten, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Gerade in einer Zeit, wo Kolleginnen und Kollegen immer wieder aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig ausfielen, sei das aber gar nicht so leicht.

Von Lehrpersonen werde oft erwartet, dass sie für andere einsprängen, sich aufopferten. Es bestehe dieselbe Tendenz wie im Gesundheitswesen, sagt Figlioli. «Prioritäten setzen und den Freiraum nutzen, ist wichtig in der aktuellen Zeit.» Zentral sei auch, die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern zu wahren, auch wenn das auf Kosten des fachlichen Unterrichts gehe.

Eine Primarlehrerin aus dem Raum Bern schildert:

«Ich unterrichte an zwei Tagen pro Woche, Französisch und Sport. Richtig turnen können wir seit über einem Jahr nicht mehr, weil Kontaktsportarten noch immer gemieden werden sollten. Auch im Klassenzimmer ist Corona zu einem ständigen Begleiter geworden. Seit im Unterricht wieder eine Maskenpflicht gilt, fühle ich mich mehr wie eine Polizistin als eine Lehrerin. Mehrmals täglich muss ich auf das korrekte Tragen der Maske aufmerksam machen. Dass ich mich selbst anstecken könnte, beschäftigt mich nicht so. Mehr Stress bereitet mir, dass ich für Ansteckungen verantwortlich gemacht werden könnte, etwa weil ich vergessen habe, regelmässig zu lüften. Ich finde es bewundernswert, wie sich die Schülerinnen und Schüler an die neue Situation gewöhnt haben. Mir fällt das nicht so leicht.»

 

Impffrage im Lehrerzimmer

Der Berufsverband Bildung Bern setzt sich gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit für die Anliegen der Lehrerinnen und Lehrer ein. Kaspar Haller führt am Standort in Bern zweimal wöchentlich Beratungen durch. Auch er stelle eine pandemiebedingte Zunahme der Nachfrage fest, sagt der ausgebildete Jurist und Coach.

«Die Lehrkräfte befinden sich zurzeit in einer besonders schwierigen Sandwichposition», sagt Haller. Einerseits werde von ihnen erwartet, dass sie zwischen den unterschiedlichen Anliegen von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Behörden vermitteln könnten. Andererseits hätten auch sie selber zum Teil feste Überzeugungen, wie mit der Pandemie umgegangen werden müsse, und sorgten sich um ihre eigene Gesundheit. Manche konnten die behördlichen Anordnungen für die Schule zeitweise kaum mehr mittragen – sei es, weil sie sich mehr oder weniger einschneidende Massnahmen wünschten.

«Solche Beratungen drehen sich dann oft um rechtliche Fragen», sagt Haller. Im Extremfall: Wie weit kann eine Lehrperson in ihrer Ablehnung behördlicher Massnahmen gehen, ohne Gefahr zu laufen, entlassen zu werden?

An manchen Schulen habe Corona auch zu einer Spaltung innerhalb des Lehrerzimmers geführt – etwa, wenn man sich bei der Impffrage überhaupt nicht einig war. «Zu derartigen Spannungen kommt es allerdings vermehrt in Kollegien, wo bereits vor der Pandemie der Wurm drin war», so Haller.

Wenn Lehrpersonen mit psychischen Problemen zu ihm kommen, versucht er eine Erstversorgung sicherzustellen. In gravierenden Fällen müsse er Betroffenen aber raten, für umfassende, professionelle Hilfe einen Psychologen oder eine Psychiaterin aufzusuchen, so Haller.

 

Kanton führt keine Statistik

Ein Sekundarlehrer aus dem Raum Bern erzählt:

«Bis jetzt hatte unsere Schule extrem viel Glück. Es gab nur vereinzelt Ansteckungen und deshalb kaum Klassenquarantänen. Den Kopf zerbreche ich mir über die aktuelle Situation nicht. Ich sage mir: Es ist, wie es ist. Menschen in anderen Berufen müssen sich auch neu zurechtfinden. Im Lehrerzimmer haben wir glücklicherweise einen pragmatischen Umgang mit der Pandemie gefunden. Die Schülerinnen und Schüler machen ebenso diszipliniert mit – auch wenn ich nicht mehr zählen kann, wie oft ich schon ‹Maske ufe› gesagt habe. Die meisten sind einfach froh, dass sie zur Schule gehen können und dort ihre Kolleginnen und Kollgen sehen. Über das persönliche Ansteckungsrisiko mache ich mir keine Gedanken.»

Auch bei der Berner Bildungs- und Kulturdirektion (BKD) hat man das Problem «mentale Gesundheit bei Lehrpersonen» auf dem Radar. «Wir können sagen, dass die Anzahl Ausfälle bei Lehrpersonen aufgrund psychischer Probleme in den letzten beiden Jahren nicht zugenommen hat», sagt Iris Frey, Sprecherin der BKD. Statistische Erhebungen oder Umfragen zum Thema liegen bei dieser allerdings keine vor.

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