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Eishockey

Der Computer sieht viel, aber noch nicht alles

Die Statistiker haben ausgedient, seit dieser Saison werden die Daten einheitlich von einer Software erfasst. Das System bietet viele Vorteile, hat aber noch seine Tücken.

Der Lausanner Spieler Fabian Heldner macht unfreiwillig Bekanntschaft mit der Bieler Bank. Ob diese «Auswechslung» von der neuen Statistik-Software wohl korrekt erfasst worden ist? copyright: Keystone

Moritz Bill

Wer sich oft auf den Medientribünen der Schweizer Eishockeystadien bewegt, fragt sich seit dieser Saison: Wo sind die Statistiker und Statistikerinnen? Die Antwort: Es gibt sie nicht mehr – jedenfalls nicht mehr in der gewohnten Form.

Früher beschäftigte jeder Klub seine eigenen Datenerfasser, die jedes Spiel vor Ort verfolgten; in der Regel Personen, die das seit Jahren als treue Seelen und zum Lohn eines Sandwichs taten. Auf diese Saison hin ist die Zählung der Anzahl Schüsse, der Eiszeiten oder der Bullyquoten professionalisiert und vor allem zentralisiert worden. Die Daten werden nicht mehr in den Stadien, sondern via TV-Livebild gesammelt. Ligadirektor Denis Vaucher sieht den Nutzen in der vereinheitlichten Erfassung, die zudem umfassender und genauer sei: «Von Seiten der Liga sind wir sehr zufrieden mit dem neuen System. Die Datenqualität konnte dadurch gesteigert werden und sie lässt sich nun auch fortlaufend überprüfen.» Vaucher ist aber auch wichtig festzuhalten, dass der Vergleich mit der früheren Methode unfair sei. «Viele taten das ehrenamtlich und haben einen super Job gemacht.»

Komplett automatisch erfolgt die neue Datensammlung aber nicht. Die Software muss vom menschlichen Auge überwacht werden. «Der manuelle Aufwand ist noch beträchtlich und das wird er auf absehbare Zeit bleiben. Aber wir entwickeln die Software stetig weiter», sagt Andreas Hänni. Der frühere Profispieler ist mit seiner Firma 49ing für die Datenerfassung zuständig. Für einen einzigen Live-Match der National League sitzen rund drei Leute vor den Bildschirmen und überprüfen etwaige Unstimmigkeiten. Über Nacht folgen weitere, detaillierte Anpassungen. Pro Partie werden zwischen 5000 und 10000 Datenpunkte erfasst.

Auch wenn sie noch nicht selbstständig funktioniert – die eigens entwickelte Software kann schon einiges, das man vor ein paar Jahren noch für unmöglich gehalten hat. Sie erkennt zum Beispiel die Spieler anhand ihrer Rückennummern oder kann sie aufgrund ihrer Postur voneinander unterscheiden. Denn per Chip getrackt werden die Teams nicht. Ebenso sind keine zusätzlichen Kameras in den Stadien installiert.
Da drängt sich die Frage auf, wie genau die Eiszeiten erfasst werden können, wenn ein Spieler aus dem TV-Bild verschwindet. Hänni sagt dazu, dass jede Datenerfassung, egal in welcher Disziplin, Herausforderungen beinhalte und es praktisch nirgends eine hundertprozentige Korrektheit gäbe. «Doch wir erreichen ein zufriedenstellendes Mass an Genauigkeit.»

Einzelne Fehler, die für Ärger sorgen
Dennoch können einzelne Fehler für die Trainer ein Ärgernis sein. Thomas Zamboni, Videocoach des EHC Biel, ist der Meinung, dass man bezüglich der Statistikerfassung in Echtzeit, also während des laufenden Spiels und noch ohne nachträgliche Korrektur, einen Schritt zurück gemacht habe. «Bei uns war das früher präziser. Wir hatten Fälle, in denen die Eiszeiten nicht stimmten. Da geht das Vertrauen verloren, denn je nachdem sind diese Informationen für uns während des Matchs wichtig, um Anpassungen vorzunehmen.» Zudem ist das neue System onlinebasiert, was in alten Stadien mit schlechter Netzverbindung in den Drittelpausen zu Hektik führen kann, während man früher die Daten direkt auf den Tablets der Statistiker ablesen konnte. Zamboni ist aber zuversichtlich, dass sich diese Punkte bessern werden, zumal die neue Technik noch in den Kinderschuhen steckt.

An den restlichen Neuerungen findet der Bieler Coach hingegen Gefallen. Die Statistiken sind nämlich nur ein Teil einer ganzen Plattform, auf die die Klubs nun zugreifen können. So stehen zum Beispiel nach Spielsituationen oder einzelnen Spielern kategorisierte Videoclips zur Verfügung. «Diese Tools machen uns das Leben einfacher. Beispielsweise für die Analyse der Special-Teams oder für das Scouting von Spielern», sagt Zamboni. Denn auch die Swiss League und die U20-Meisterschaft werden abgedeckt. Die Einsätze eines an das Partnerteam ausgeliehenen Spielers sind zum Beispiel mit einem Klick verfügbar. Und auch die Spielnachverarbeitung ist laut Zamboni dank den angelieferten Daten äusserst informativ und ermöglichen ein tiefgehendes Feedback.

Geheimhaltung kaum mehr möglich
Bis vor ein paar Jahren war das noch unvorstellbar gewesen. Das Schweizer Eishockey behandelte die Statistiken im Unterschied zu anderen Ligen stiefmütterlich. Die Klubs sträubten sich dagegen, dass die Konkurrenz und das Publikum zu viel Einsicht in das eigene Schaffen erhalten. Diese Skepsis hat sich nun gelegt. Philipp Bohnenblust, bei der Liga für die Statistiken zuständig, sagt: «Eine Veränderung braucht immer Zeit, das ist normal. Schon im Zuge der Einführung der Eiszeiten vor rund fünf Jahren waren die Bedenken gross gewesen.»

Es ist jedenfalls angedacht, dass gewisse tiefgründige Statistiken, die sogenannten Advanced Stats, ab der nächsten oder übernächsten Saison für die Fans einsehbar sein werden. Eine Geheimhaltung ist in der heutigen Zeit ohnehin kaum mehr möglich. Bereits jetzt berechnen ambitionierte Blogger aus den Daten der Verband-Website und eigenem gesammelten Rohmaterial Advanced Stats.

In einem weiteren Schritt können aus diesen Statistiken spezifische Analysen (Analytics) abgeleitet werden, die Möglichkeiten sind riesig (siehe Zweittext). 49ing bietet dies den Klubs als zusätzliche Dienstleistung an. Wie viele davon Gebrauch machen, will Hänni aus Gründen der Vertraulichkeit nicht verraten. Ganz vorbei ist es mit der Geheimnistuerei dann doch noch nicht.

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«Der Mensch ist nie ganz objektiv»

Mit den während eines Spiels gesammelten Daten können unzählige Advanced Stats berechnet werden. Die bis jetzt bekannteste ist die Corsi-Statistik. Entscheidend sind hier nicht die Tore, weil diese ein zu seltenes Ereignis sind und ihre Aussagekraft deshalb begrenzt ist. Stattdessen basiert Corsi auf den Puckbesitz. Dieser wird anhand der Anzahl abgegebener Schüsse gemessen (auch geblockte und jene neben das Tor) und daraus die Spielanteile der beiden Teams verglichen. Vertraut man auf Corsi, heisst das also: Wer mehr schiesst, hat den Puck öfter; wer mehr Puck-Besitz hat, der dominiert das Spiel. Diese Werte können bei Bedarf auch auf einzelne Spieler heruntergebrochen werden und können davon verschiedenste Stärken und Schwächen abgeleitet werden.
Corsi ist bloss eine von zig Möglichkeiten der Advanced Stats. Doch Kritiker monieren, dass trotz dieser Datenflut entscheidende Faktoren wie die aktuelle Stimmung im Team oder die Charaktere der Spieler nicht gemessen werden könnten. Und dass Eishockey ein zu schnelles Spiel sei, als dass es mit Datenanalysen, die aus statischeren Sportarten stammen, vereinbar ist. Andreas Hänni meint dazu: «Lange Zeit basierten die Analysen auf Expertenwissen. Wir bieten eine zweite Perspektive an. Der Fortschritt ermöglicht das Erfassen dieser Daten; wie man sie nutzt, ist jedem selber überlassen.»
Hänni befindet sich als ehemaliger Spieler, unter anderem beim EHC Biel, und TV-Experte selbst manchmal im Zwiespalt. Sein Eindruck eines Spiels kann mit den Analytics übereinstimmen, oder eben nicht. Das liege auch daran, so Hänni, dass sich Menschen viel weniger merken können als Computer. «Zudem ist der Mensch nie ganz objektiv. Der Computer hingegen kann sich an Millionen von vorausgegangenen Fällen erinnern, damit Vergleiche anstellen und daraus Wahrscheinlichkeiten berechnen.» bil