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Standpunkt

Stopp dem systematischen Missbrauch

Ein Turnverein ist für viele ein Synonym für «heile Welt», für Bünzlitum, aber auch für Ehrlichkeit. Der Turnverein repräsentiert das Schweizerische uns. Wer in den «richtigen» Sportarten nicht reüssiert, wählt den Weg via Jugendriege in die Aktivsektionen. So das gängige Bild.

Rentsch Bernhard

Manch eine Turnerin und manch ein Turner sieht sich regelmässig in der Situation, sein Hobby rechtfertigen zu müssen – so von wegen überbordende Partystimmung und Alkoholexzesse an Turnfesten.

In Tat und Wahrheit ist Turnen Sport und Mehr – will heissen, dass Turnvereine wichtige Funktionen mit Blick auf Spitzenleistungen, Gesundheit, soziale Kontakte oder gesellschaftlich relevanten Zusammenhalt wahrnehmen. Nicht umsonst sind Turnvereine in grosser Zahl im ganzen Land zu finden, mitunter in den hintersten Ecken, wo keine andere Vereinstätigkeit genügend Nährboden für eine Existenz findet. Das Dach, der Schweizerische Turnverband, ist denn auch ein Moloch mit über 350 000 Mitgliedern.

Allerdings: Wo Rauch ist, ist auch Feuer – das gilt nicht zuletzt im beschaulichen System des Schweizer Turnsports. Es gärt seit langem im Konzept Spitzensport, mit den vom «Das Magazin» am Samstag veröffentlichten Vorwürfen unter dem Titel «Die Magglingen-Protokolle» ist das Feuer ausgebrochen. Es lodert und hinterlässt mit Sicherheit verbrannte Erde.

Spitzensport im Turnsport heisst Kunstturnen, Rhythmische Gymnastik und Trampolinturnen, allesamt Olympische Sportarten im gnadenlosen internationalen Konkurrenzumfeld. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gingen gerade im Frauenkunstturnen und in der Rhythmischen Gymnastik in Richtung Kindersportarten: Die geforderten Höchstschwierigkeiten lassen sich nur noch mit intensivem Training im jüngsten Alter erlernen, der Wechsel in den Leistungssport passiert noch vor den Teenagerjahren. Auch in der Schweiz wurde auf Zentralisierung, sprich Kasernierung gesetzt. Das System hat viele Vorteile und wurde in den letzten Jahren mit etlichen internationalen Grosserfolgen bestätigt. Der Preis dafür ist aber hoch, zu hoch.

Die Fragilität der geforderten bis überforderten Mädchen und jungen Frauen bringt die Perversion dieser Sportarten an den Tag: Grazilität und Gute-Laune-Mentalität stehen im Konflikt mit unmenschlichen Anforderungen an Kraft, Dynamik und Beweglichkeit. Das etwas böswillig hinter vorgehaltener Hand kolportierte Bonmot «ohne Kindesmisshandlung keine Medaillen» erhält gerade mit Blick auf die aktuell aufgedeckten Methoden des Schreckens beklemmende Bedeutung.

Wohlgemerkt, das Feuer ist ein lokaler Brandherd, (noch) kein Flächenbrand. In beiden Sportarten wird weitherum tolle Arbeit geleistet und Tausende vergnügte Kinder- wie Erwachsenenaugen glänzen auch hier bei persönlichen Erfolgen. Die Kritik am Turnsport konzentriert sich auf die Spitzenzellen und gilt auch da nicht in verallgemeinernder Form. Bestimmte Machenschaften, die seit Jahren insbesondere aus Magglingen immer wieder an die Öffentlichkeit dringen, sind aber bedenklich. Und sie fordern rasche Korrekturen.

Es handelt sich um Einzelfälle, wird entschuldigend angeführt. Ja, es reagieren nicht alle gleich, und ja, es sind nicht alle Talente, denen der Weg an die Spitze vorgegeben ist. Fehlende Menschlichkeit und Würde sind jedoch in keinem einzigen Fall eine Entschuldigung. Dass es auf allen Stufen auch Aktive gibt, die durch Überforderung und Frust nach Niederlagen unbegründet das Umfeld anklagen und die Karriere abbrechen, gehört zum Weg an die Spitze. Dort ist es eng und es hat nur für wenige Platz, die natürliche Selektion ist unvermeidlich. Die Methoden der Auswahl sind es, die im vorliegenden Fall die Gemüter zu Recht erhitzen. Kein Erfolg wird durch unmenschliches Verhalten gerechtfertigt. Erst recht nicht, wenn es nach systematischem Vorgehen aussieht.

Falsch ist an dieser Stelle eine Gesamtverurteilung des Turnsports oder gar des gesamten Spitzensports. Falsch ist auch eine zu schnelle Verantwortlichkeits-Guillotine. Es sind nicht der Turnverband, Magglingen oder gar Swiss Olympic als Ganzes schuld. Ein Stück an Verantwortung muss aber jede dieser Zellen übernehmen. Denn Vermutungen und Geschichten vom Hören-sagen sind jederzeit ein Grund, genau hinzuschauen und zu reagieren. Wegschauen ist nie eine Entschuldigung. Insistieren gilt als permanenter Handlungsbefehl.

Die Werte des Turnsports können auch ohne den kompromisslosen Leistungssport hochgehalten werden. Der Weg ohne die verzweifelte Suche nach Anschluss an die Weltspitze könnte für die genannten Sportarten ein Weg zur Befreiung von unliebsamen Altlasten sein. Der sorgfältig und matraartig wiederholte Grundsatz «keine Breite ohne Spitze» könnte ad absurdum geführt werden, ohne dass ein merklicher Schaden entsteht. Magglingen seinerseits verzichtet konsequent auf Handreichungen bei umstrittenen Förderungsmodellen und zeichnet sich noch mehr durch Ausbildungs- oder Wissenschaftskompetenzen aus.

Der Spitzensport in seiner Gesamtheit tritt den unmissverständlichen Beweis an, dass er nicht Nährboden von Betrug oder Missbrauch ist. Er schafft Transparenz und entledigt sich damit dem Generalverdacht von überbordendem Ehrgeiz und Erfolgsstrategien ohne Rücksicht. So ist er nämlich nicht – die idealistische Hoffnung auf die gesuchte Reinheit und echte Emotionen stirbt zuletzt.

Bernhard Rentsch

brentsch@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Sport, Standpunkt, Region, Kommentar