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Karate

Voegelin-Zwillinge: Zwei Charaktere, eine grosse Leidenschaft

Die 16-jährigen Amélie und Florence Voegelin sind in der Junioren-Weltklasse angekommen. Nehmen an Europa- oder Weltmeisterschaften teil und wollen am Sonntag in Aarberg ihre Schweizer-Meister-Titel verteidigen. Das Duo aus Alfermée ist in der Sportberufsschule und tut alles dafür, auch in der Elite Weltklasse zu werden.

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Beat Moning

Es ist 8 Uhr morgens. Die am 20. August 2002 zehn Minuten nacheinander geborenen Zwillinge Amélie und Florence Voegeli sind beim Frühstück. Sie besprechen bei Porridge mit Früchten und 
Joghurt mit Mutter Doris den Tagesablauf. Selten gibt es Mitfahrgelegenheiten. Doch heute ist es anders: Das BT ist dabei und der Tag ist regnerisch und stürmisch. Ansonsten aber werden die Strecken von Alfermée in die Schule am Bieler Bahnhof, danach zum Fitness in Studen und zurück sowie vom Wohnort nach Neuenburg oder Magglingen zum Training entweder zu Fuss oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln mit Zug und Bus zurückgelegt.


Hätte auch Judo sein können
Die Familie Voegelin ordnet alles dem Karatesport unter. Die Ziele sind hoch, der Weg ist steinig und lang. Die zwei Jahre ältere Schwester Valérie verschrieb sich zuvor dem Judo – später begann sie mit Rudern und Tennis. «Wir suchten für die Zwillinge ebenfalls eine zu ihnen passende Sportart, die wir mit dem Karatesport als ideale Wahl empfunden haben», erinnert sich die Mutter an diesen Moment vor zehn Jahren. «Vom ersten Training an wollten wir gar nichts anderes mehr machen», sagen Amélie und Florence gemeinsam.

Apropos gemeinsam: Auf den ersten Blick ist es schwierig, das Duo auseinanderzuhalten, Unterschiede gibt es bei den eineiigen Zwillingen nur kleine. Aber, weil es auch gespiegelte Zwillinge sind, ist schnell ersichtlich: Amélie ist jene, die mehr spricht, den Ton angibt, während Florence doch bedeutend stiller ist. «Es gibt charakterliche Unterschiede. Amélie ist die Temperamentvollere, Florence die Überlegtere», hält die Mutter fest. Mit der Ergänzung: «Sie spüren sich gut, ohne miteinander zu sprechen. Ich würde nun aber nicht behaupten wollen, dass sie aneinander kleben.»


Schule richtet sich nach dem Sport
Um 9.30 Uhr beginnt in der Bildung Formation Biel (BFB) am Walserplatz der Englisch-Unterricht mit Lehrerin Stefania Beretta Piccoli. An diesem Dienstagmorgen sozusagen Privatunterricht, denn die anderen Sportler sind im Training oder kommen, wie die Eishockey-Junioren nach ihrem Fördertraining am Morgen früh, eine Stunde später. Die Sportschule, bei der am Ende nach vier Jahren das kaufmännische Diplom stehen soll, richtet sich nach den Trainingsplänen der Teilnehmer. «So können wir Sport und Schule ideal unter einen Hut bringen. Wir sind sehr dankbar, dass wir damit unseren Sport wohl intensiver als sonst ausüben können», so die beiden Seeländerinnen.

Das Duo ist oft einer Meinung, trotz verschiedener Interessen. Amélie liebt eher Salziges und ist Linkshänderin, Florence eher Süsses und ist Rechtshänderin. Die eine hat Flugangst und interessiert sich für Leichtathletik, die andere steigt problemlos in das Flugzeug und steht dem Fussball etwas näher. Florence möchte mehr über die Klimaentwicklung, Amélie mehr von der Weltgeschichte erfahren. «Wenn es allerdings um die Kleiderwahl geht, verhalten wir uns wie echte Freundinnen», sagen die beiden lachend. Eine Gemeinsamkeit gibt es logischerweise: «Ohne Unterstützung der Familie geht es nicht. Unsere Wünsche werden erfüllt und Probleme können wir mit den Eltern immer ausdiskutieren.»

Der Tag führt uns weiter ins Fitnessstudio nach Studen im «Florida». Vater Nicolas begleitet die Zwillinge und trainiert selber auf dem Hometrainer mit. Eine Stunde lang gilt es, das von Trainer Filippo Larizza zusammengestellte Programm – von Schwinn-Velos über Kraftgeräte bis Laufbänder – individuell ausgerichtet auszuführen. Bevor der Heimweg ansteht. Die Mutter hat Zuhause bereits gekocht: Teigwaren mit frischer Tomatensauce und Eiweiss. «Als Leistungssportler braucht es eine gesunde und ausgewogene Ernährung», wissen die beiden 16-Jährigen. Und schliesslich gelte es auch, das nötige Gewicht für die verschiedenen Gewichtsklassen (Amélie bis 53 Kilogramm, Florence bis 48 Kilogramm) nicht gross zu unter- und schon gar nicht zu überbieten. Bis zur Abfahrt ins Training nach Neuenburg, wo das Duo seit Januar 2018 beim dortigen Karatedo trainiert, gehört die Zeit dem Haushalt und den Hausaufgaben. «Wir wollen unseren Eltern so auch etwas zurückgeben, helfen in der Küche und waschen.» Und: Beide kochen auch gerne selber – wenn es denn die Zeit erlaubt.


Nationaltrainer ist begeistert
Gegen 18 Uhr treffen Florence und Amélie, die vor einem Jahr Vize-Weltmeisterin U16 bis 47 Kilogramm wurde, in Neuenburg ein. Es sind Trainings, die auf die Schweizer Meisterschaften von diesem Wochenende ausgerichtet sind. «Wir trainieren in erster Linie an den Stärken», sagen die beiden mehrfachen Meisterinnen in Kumite und Kata. Ihr Augenmerk gilt seit diesem Jahr dem Kumite, da wollen sie den Anschluss zur Junioren-Weltspitze halten. Ihr Trainer Franco Pisino, einst auch Fitnesscoach während der guten alten Neuenburg-Xamax-Zeit, hält von den Voegelin-Zwillingen viel: «Sie sind leicht zu trainieren, weil sie sehr motiviert und ehrgeizig sind. Lernfähig dazu, sodass Fortschritte erkennbar sind.» Was Pisino gefällt: «Es ist ein Projekt, das von der ganzen Familie getragen wird. Die Eltern stellen die Kinder in den Mittelpunkt. Nur so ist es auch möglich, hohe Ziel anzuvisieren.» Ob es bis zu den Olympischen Spielen reicht? «Es ist eine Vision, der wir nachgehen. Eine Mission, verbunden mit vielen Unbekannten. Möglich ist im Sport vieles», so der Coach. Kurz nach 20 Uhr werden Amélie und Florence nach Hause chauffiert. In der Regel ist es der Vater, der die Töchter abholt. Das Essen, eine Suppe nach den Zwischenmahlzeiten mit Früchten und Nüssen, steht schon bereit.

Das Augenmerk gilt nun den Schweizer Meisterschaften in Aarberg, wo der frühere Klub der Zwillinge, der Karatedo Lyss/Aarberg, den Anlass organisiert (siehe Zweittext). «Wir freuen uns auf das Wiedersehen mit ehemaligen Kolleginnen. Im Zentrum aber steht der Sport.» Weitere Meistertitel sollen dem Palmares hinzugefügt werden. Erstmals in der U18-Kategorie und in unterschiedlichen Gewichtsklassen.

Die nächsten Ziele heissen: U18-Europameisterschaften in Dänemark im Februar und die Weltmeisterschaften in Chile im Oktober, wo die Qualifikationshürde noch gemeistert werden muss.

Florence wird dann vermehrt mit dem Bein punkten, Amélie mit den Armen. Eineiig ja, aber eben auch gespiegelt.


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Im Zeichen von Sport, Schule und Erholung
Eine ganz normale Woche für die 
beiden Karate-Kämpferinnen Amélie und Florence Voegelin. Je nach 
Schulbeginn ist um 6 Uhr oder 7 Uhr Tagwache. Am Nachmittag ist 
Regeneration und Hausarbeit inklusive Hausaufgaben im Programm.

- Montag: Vor dem Morgenessen ein Lauftraining im Wohngebiet. In der Schule steht vor dem Mittag Französisch auf dem Programm. Abends ein zweistündiges Karate-Training in Neuenburg unter Nationaltrainer Elite und U21 Franco Pisino.

- Dienstag: In der Schule ist Englisch-Unterricht angesagt. Am Mittag geht es ins Fitnesstraining nach Studen. Um 18 Uhr wieder Training in Neuenburg.

- Mittwoch: Wirtschaft und Gesellschaft sowie Büro (Praktikum). Danach direkt nach Magglingen zum Training mit Junioren-Nationaltrainer Roland Pfäffli. Denkbar, dass auch Pisino das Training leitet.

- Donnerstag: Nach dem Deutsch-Unterricht geht es zum zweiten Mal ins Fitness in Studen. Danach steht noch eine Laufeinheit zuhause auf dem Programm.

- Freitag: Nach dem Fach «Büro» geht es wieder nach Neuenburg ins Karate-Training.

- Samstag: Am Morgen steht, wenn keine Wettkämpfe ausgetragen werden müssen, ein zusätzliches Karate-Training in Neuenburg an. bmb


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Erste Doppel-SM in Aarberg findet nun bis 2020 statt
Für die Karate-Schweizer-Meisterschaften sind neben 139 Coaches 337 Athleten und Athletinnen (314 Nennungen im Kumite, 126 im Kata) aus 54 Klubs, zehn aus der Romandie und fünf aus dem Seeland, gemeldet. Für einen reibungslosen Ablauf sorgen 37 Schiedsrichter sowie 120 Helfer.

Die Vorbereitungen laufen seit mehreren Monaten, seit Bekanntgabe der SM-Ausrichtung im Sommer 2017. Im Dezember 2017 wurde der Verein gegründet. Das elfköpfige OK unter Präsident Bastian Stalder wurde schon in der Vorbereitung von 30 Personen tatkräftig unterstützt. Stalder, als Jugendlicher ebenfalls Karatekämpfer und danach als Schiedsrichter tätig, ist froh, dass es nach Wochen der vielen Arbeiten losgeht. «Es war eine lange Vorbereitung. Nun sind wir noch an den letzten Details. Sagen wir es so: Ich bin froh, dass ich heute und morgen noch frei habe ...» Das OK besteht aus Personen des heimischen Karateklubs. «Als wir 2015 und 2017 Kinderturniere organisierten, kam die Anfrage des Verbandes», blickt Stalder zurück. Daraufhin wurde auch aus finanziellen Überlegungen heraus ein eigener Verein gegründet.


Lyss/Aarberg hat Team-Titel 
zu verteidigen
Der Karatesport ist in Biel und Lyss/Aarberg gut verankert. Da braucht es nur den Blick in die nationalen und internationalen Siegerlisten. Im Vorjahr, als die Schweizer Meisterschaften in Liestal stattgefunden haben, kamen die Seeländer zu zahlreichen Spitzenplätzen. Insgesamt waren es 52 Ränge auf dem Podest, davon 13 ganz zuoberst. Allein Lyss-Aarberg, nun dreimal in Folge SM-Organisator, heimste 36 Medaillen ein, davon zehnmal Gold, und belegte in der Teamrangliste mit Abstand den ersten Rang. Auch diesmal dürfte der letztjährige Sieger ganz vorne ein Wörtchen mitreden. Heimdruck soll aber nicht entstehen. Bastian Stalder: «Wir verschaffen den eigenen Athleten einen Heimvorteil vor einer hoffentlich schönen Kulisse.» Ziel dieser SM sei es, den Karatesport auch Leuten zu präsentieren, die mit der Sportart nicht so vertraut sind.»


Die Doppelmeister kommen
 auch aus der Region
Zuletzt fanden die Schweizer Meisterschaften für alle Kategorien im Seeland zwischen 2006 und 2009 in Biel statt. Im Jahre 2000 organisierte Lyss eine Nachwuchs-SM, damals im Grien und vor vollem Haus. Nun also erstmals eine Doppel-SM Nachwuchs und Elite.

Als einzige Karateka konnten bis heute Dominique Sigillo, Birol Yildiz, Claudio Gereon und Roman Seiler bei den Männern sowie Michelle Saner und Corinne Zimmermann bei den Frauen Schweizer-Meister-Titel sowohl in Kumite und Kata erringen. Das Double (Kumite und Kata) im gleichen Jahr gelang bis heute nur drei Karateka: Dominique Sigillo, dem diese Meisterleistung sogar zweimal (1991 und 1993) gelang, Corinne Zimmermann (1986) und Michelle Saner, die ebenfalls zweimal hintereinander (2007 und 2008) brillierte. Zu den erfolgreichsten Kämpferinnen gehört auch eine Aarbergerin: Diana Schwab, mehrfache Schweizer Meisterin und 2011 Europameisterin. 2006 in Tampere und 2010 in Belgrad holte sie im Kumite WM-Bronze.


Das ist Kata,
 die Höchstform des Karatesports
Kata sind eine Zusammenstellung der im Karatedo vorkommenden Abwehren, Schlagtechniken, Fauststössen und Tritttechniken in logischer und fester Reihenfolge. In den Kampfkünsten steht der Begriff für eine genau festgelegte Serie von Techniken, in denen die Methoden und Kampfstrategien gegen einen Angreifer verschlüsselt sind. Die Kata ist die Höchstform des Karate, die Superschau des Karateka im sportlichen Wettkampf. Hier kann er zeigen, was er an Perfektion, Körperbeherrschung, Überzeugungs- und Gestaltungskraft zu bieten hat. In der wohl anspruchsvollsten Form des Karate, der Team-Kata, ist der harmonisch-dynamische Bewegungsablauf aller drei Kämpfer unablässig.


Das ist Kumite, Kampfübungen 
in der praktischen Anwendung
Neben Kihon und Kata ist Kumite die dritte Säule des Karate. Man unterscheidet mehrere Arten der Partnerübung, die sich jedoch alle aus dem Bunkai ableiten und sich von einfach bis schwierig in verschiedenen Formen entwickeln. Grundsätzlich unterteilt man die Kampfübungen in zwei grosse Gruppen: Yakusoku-Kumite (abgesprochene Formen) und Jiyu-Kumite (Freikampf). Unter Kumite versteht man Kampfübungen, bei denen die in der Grundschule (Kihon) und den Kata erlernten Angriffs- und Abwehrtechniken ihre praktische Anwendung erfahren.


Am Samstag der Nachwuchs,
am Sonntag die Besten des Landes
Am Samstag beginnen die Wettkämpfe in der Aarfit-Halle in Aarberg um 9 Uhr und dauern bis etwa um 19 Uhr. An diesem ersten Tag ist der Nachwuchs bis 14 Jahre am Werke zu sehen; sowohl im Kata wie im Kumite.

Am Sonntag sind die Athleten und Athletinnen, darunter die Aushängeschilder des Schweizer Karatesports, ebenfalls ab 9 Uhr in den Kategorien U18, Elite und Team im Einsatz. Um 17 Uhr geht die Veranstaltung zu Ende. bmb/mt

Mehr Infos auf der Website 
www.karate2018.ch


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Wettkampfkarate
Karate
(jap. kara = leer, te = Hand) ist eine waffenlose Kampfkunst, deren Ursprung auf das 19. Jahrhundert zurückgeht, wo Bewohner der Okinawa-Inseln einheimische Traditionen mit chinesischen Einflüssen verbanden. Anfangs des 20. Jahrhunderts gelang diese Kampfkunst unter nach Japan und wurde von dort nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Namen Karate in die Welt hinaus getragen.

Im Laufe der Zeit modernisierte sich die traditionelle Kampfkunst hin zu einem Kampfsport. An sportlichen Wettkämpfen treten Athletinnen und Athleten in den beiden Disziplinen Kata und Kumite gegeneinander an.

Karate als Wettkampfsport ist verhältnismässig eine junge Disziplin. Die ersten Europameisterschaften wurden 1966 in Paris, die ersten Weltmeisterschaften 1970 in Tokio ausgetragen. Die ersten Schweizer Meisterschaften wurden 1970 in Prilly durch den Judo-Budokan Club de Lausanne (OK-Präsident: Claude Sittinger) ausgetragen.

Das heute älteste Turnier der Schweiz, der Fujimuracup, wurde erstmals 1974 in Koblenz ausgerichtet.

1978 (Elite/Genève), 1986 (Junioren/Frauen Sion), 2011 (Elite/Zürich-Kloten) und 2015 (U21/18/16, Zürich) führte die SKF die Europameisterschaften der European Karate Federation durch. 2018 wird Karate erstmals an den Olympischen Jugendspielen in Buenos Aires ausgetragen. 2020 an den Olympischen Spielen in Tokio.