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Kunstturnen

Wie weit darf es im Spitzensport gehen?

Ein Trainer muss entlassen werden. Was läuft da in Magglingen ab? Wie hart muss Spitzensport sein? Diese Fragen stellten sich nach Veröffentlichung des Buchs «Ariella Kaeslin - Leiden im Licht».

Ariella Kaeslin: Nicht nur gute Erinnerungen an ihre Zeit im Leistungszentrum der Kunstturner in Magglingen. Bild: Keystone
  • Dossier

Beat Moning


2011 trat Ariella Kaeslin, im Jahr vor den Olympischen Sommerspielen in London, für die Öffentlichkeit eher überraschend zurück. Das Leben als Berufssportlerin ist ihr zu viel geworden. Zuletzt prägten Erschöpfungsdepressionen ihr Leben. Und das mit 23 Jahren. Wie kann das sein? Das von zwei Journalisten verfasste Buch «Leiden im Licht» zeigt den Lebens- und Sportlerweg von Ariella Kaeslin auf.
Bereits als Vierjährige legte sie mit Turnen los. Muki-Turnen und Ballett waren zu wenig, um dem Bewegungsdrang gerecht zu werden. «Zu wenig Aufregung», ist im Buch zu lesen. Neun Jahre später zog die Luzernerin von der gewohnten Umgebung und von zu Hause aus. Nach Magglingen, ins Kader der talentierten Kunstturnerinnen. Sie gehörte zu den Auserwählten. Dort wollte sie hin. Auszug aus dem Buch:

«Magglingen ist wie ein Versprechen. Oder wie eine Einschüchterung. Magglingen ist das Schweizer Kompetenzzentrum für Sport, seit vielen Jahrzehnten. In Magglingen entstehen Medaillen. Wer im Schweizer Sport etwas erreichen will, gelangt irgendwann nach Magglingen».

Kunstturnen nimmt in Magglingen eine besondere Stellung ein: Der Turnverband, und in diesem Fall nicht das Baspo, hat eine eigene Halle. Die teils doch sehr jungen Turnerinnen sind während der Woche in Gastfamilien untergebracht, gehen in die Sportschule. Einige haben diese, wie Ariella Kaeslin, wie zuletzt Julia Steingruber, nicht beenden können. Zu gross ist der Aufwand, um an die Weltspitze zu gelangen.

«Die frühe Loslösung vom Elternhaus, das erbarmungslose Training, die Isolierung von allem, was den Mädchen bekannt ist: Das sind die Grundsätze, die sich über Jahre in den Köpfen der Turnerinnen und Turner und den Verbandsverantwortlichen eingebrannt haben.»

Ariella Kaeslin, wie auch ihre Jugendtrainerin und ihre Mutter, haben viel Schlechtes von Magglingen gehört. Doch die junge Athletin wollte diesen Weg gehen, wollte an die Weltspitze. Das ging nur über jenen Ort, wo die Besten trainieren. Die Mutter habe verschiedentlich nachgefragt, ob sie am Ende eines Wochenendes nicht lieber daheim bleiben wolle? Neue Wege gehen wolle. Ariella reiste jeden Sonntag oder Montag wieder ins Seeland. In Magglingen war Ariella Kaeslin ein anderer Mensch. Obwohl die Trainer oft kein Pardon kennen.

«Die Sicht des Trainers ist so: Er wird am Erfolg seiner Turnerinnen gemessen. Also setzt er sie unter Druck. Die Kunst ist, dass richtige Mass zu finden. Und die richtige Art.»

Diesen Weg hat ein Trainer massiv verlassen. Wie weit er gegangen ist? Niemand weiss es genau. Auch das Essen war ein Machtspiel. Bei Ariella Kaeslin sowieso. Der Vorwurf, sie sei zu schwer, ja zu dick, musste sie über Jahre erdulden. «Fette Kuh», hat er ihr gesagt.
 
«Der Trainer verbot den Turnerinnen, Brot zu essen. Und wenn er mit ihnen am Tisch sass, ass er Brot. Subtile Zeichen, wer am längeren Hebel war.»

Die Mutter blieben die Machtspiele nicht verborgen. Sie sei kein sprudelndes Mädchen mehr, sei wortkarg. «Das ist nicht mehr Ari», hielt sie fest. Wo war die Fröhlichkeit geblieben, die Unternehmungslust? War es eine Phase, Teil der Entwicklung, der Pubertät geschuldet? Es war Anzeichen des Bruchs. Denn heute weiss man: Es war eine Versagensangst. «Nicht als Sportlerin zu versagen, sondern als Mensch.»
2007 kam es zum Eklat: Vier Turnerinnen gelang es, derart viel Druck auf den Turnverband auszuüben, dass dieser Trainer, ein Franzose, entlassen wurde. Welche verbale Gewalt er ausgeübt haben soll, ist nur in den Zeilen dazwischen zu lesen. Regeln des Anstands seien jedenfalls massiv überschritten worden. Auch der neue Trainer sei brutal streng gewesen, hatte aber eine klare Linie. Ariella Kaeslin wurde erfolgreich, aber alles machte es nicht besser in den nächsten vier Jahren. Bis zum Rücktritt.

«Der Schmerz durchfuhr den kleinen Körper wie ein lauter Schrei. Auf einmal war er da, ohne Vorwarnung; er nistete sich ein, einer Pflege gleich.»

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Der «Fall Kaeslin»
Das Frauenteam lag 2007 in Schutt und Asche, die Führung des Schweizerischen Turnverbandes (STV) überlegte sich in ihrer Verzweiflung sogar, das Frauenteam aufzulösen und abzuschaffen. Ariella Kaeslin, Danielle Englert, Linda Stämpfli und Carina Fürst hatten gegen den Cheftrainer Eric Demay rebelliert, gegen seinen Führungsstil mit all den verbalen Entgleisungen. Von Psychoterror und Mobbing war die Rede. Die Turnerinnen hatten den Aufstand gewagt, der Franzose wurde schliesslich entlassen, und mit ihm seine Frau und Assistentin Cécile. «Wir hätten Eric Demay wohl vor drei, vier Jahren entlassen sollen, als er erstmals ausfällig geworden war», sagte der damalige Chef Spitzensport -Chef Ruedi Hediger einige Monate später der «NZZ am Sonntag».  «Es war eine schwierige Zeit, für mich, die Familie, fürs Turnen, für den Verband», sagte Hediger. Zuvor verweigerte er den Schweizerinnen die Teilnahme an der EM. bmb

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Stellungnahme Baspo
«Wir haben den Turnverband gebeten, nach den Vorfällen die entsprechenden Schritte einzuleiten. Aufgrund des Vorfalles wurden direkt keine Leitlinien geändert. Es galten und gelten auch heute die Richtlinien der Ethik-Charta und von J+S (siehe BT vom Dienstag, die Red.). Wenn wir etwas feststellen, intervenieren wir. Es gibt von unserer Seite keine direkten Kontrollen. Die Trainer sowie Turner wurden/werden von den zuständigen Verantwortlichen des STV sensibilisiert. Sie können sich auch an die Lehrer von ProLern wenden. Wir vom Baspo haben in verschiedenen Bereichen immer Kontakt mit den Sportlern, so der medizinische Dienst, die Sportpsychologen und die Physiotherapie. Noch etwas zu Magglingen: Im Buch ist generell von Magglingen die Rede. Magglingen als nationales Sportzentrum darf man nicht einfach über einen Leisten schlagen, wie das im Buch gemacht wurde.» Walter Mengisen, Direktor Stv. Baspo.  

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Stellungnahme Swiss Olympic
«Im Fall von Ariella Kaeslin gab es keine direkte Aussprache mit dem STV und entsprechend auch keine direkten Konsequenzen. Unsere Verbandsmanager waren und sind aber natürlich immer mit dem STV im Austausch. Bei Swiss Olympic ging man bei Ariella Kaeslin von einem Einzelfall aus. Grundsätzlich ist es so, dass Swiss Olympic als Dachverband genau hinschaut, was bei den Verbänden passiert und mit einem Verband auf jeden Fall auch das Gespräch sucht, falls wir, auf welchem Gebiet auch immer, über längere Zeit und mehrfach Missstände feststellen. Mit dem überarbeiteten Code of Conduct von Swiss Olympic, den jeder Mitgliedsverband übernehmen und anwenden muss, fordern wir seit 2016, dass jeder Verband über eine unabhängige Meldestelle verfügen muss. Auf den richtigen Umgang weisen wir an unseren Lehrgängen stets hin.» Alex Wäfler, Kommunikationsleiter Swiss Olympic.

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Stellungnahme Turnverband
«Aufgrund der Ereignisse hat der Schweizerische Turnverband den Nationaltrainer Eric Demay im April 2007 entlassen.
Seither wurden verschiedene Massnahmen ergriffen. So wird zum Beilspiel vom STV neu in allen Verträgen mit Trainern und regionalen Leistungszentren festgehalten, dass sich Trainer und Funktionäre an die Ethik Charta und den Verhaltenskodex von Swiss Olympic halten müssen. Bei Zuwiderhandlung kann der STV Entlassungen aussprechen oder Unterstützungsgelder kürzen. Diese Themen sind fester Bestandteil der Trainerausbildungen und werden an Konferenzen und Lehrgängen regelmässig diskutiert. Das Erscheinen des Buches von Ariella Kaeslin wurde genutzt, um die Inhalte der Ethik Charta und des Verhaltenskodex in verschiedenen Gremien und Konferenzen zu thematisieren und die Trainer und Funktionäre für diese Bereiche zu sensibilisieren.» Thomas Greutmann, Ressortchef Marketing und Kommunikation.