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Fussball

«Ich glaube, dass unser Modell funktioniert hätte»

Die Wochenzeitung wollte mit dem FC Biel ein alternatives Modell eines Clubs aufbauen. WOZ-Redaktor Raphael Albisser sagt, Fussball solle mehr als ein blosses Konsumprodukt sein.

Raphael Albisser: «Fussball soll nicht nur ein Produkt sein. Und die Fans sollen ein substanzieller Teil eines Vereins sein.»  copyright: tobias graden/bieler tagblatt
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Interview: Tobias Graden

Raphael Albisser, in einigen Worten: Was läuft schief in der heutigen Fussballwelt?

Raphael Albisser: Ich bin Fussballfan eines kleineren Super-League-Vereins. Dieser bewegt sich in einer Zwischenwelt: Wirklicher sportlicher Erfolg ist angesichts der Dominanz der grossen Clubs ausgeschlossen, und diese Ungleichheit in der Liga wird durch die Teilnahme an europäischen Wettbewerbern zementiert. Wer da mitspielen will, ist auf Investitionen von Privatpersonen angewiesen, wenn man nicht gänzlich in der Versenkung verschwinden will. Das führt zu grossen Abhängigkeiten, und als Fan hat man vor allem deshalb kaum was mitzureden.

So funktioniert die Welt. Dass bei einem derart gefragten Gut wie Fussball eine Hyper-Marktwirtschaft herrscht, ist doch nicht verwunderlich?

In der Tat. Der Fussball lässt sich als Parabel für den Hyperkapitalismus betrachten, darum ist er ja gerade für uns Fussballfans in der WOZ Herzensangelegenheit und Hassliebe. Das Experiment mit dem FC Biel war ein Versuch, die Dinge nicht bloss hinzunehmen, sondern sie zu ändern. Oft genug lässt sich das Dasein als linker Fussballfan nur mit reichlich Selbstironie bewältigen, andernfalls hielte man das Konsumgut Fussball gar nicht aus.

Immerhin übt der Fussball in der Schweiz auch eine wichtige integrative gesellschaftliche Funktion aus: Er ist ein Ort, an dem alle zusammenkommen können, egal ihrer Herkunft.

Er hat dieses integrative Potenzial, ja. Er ist auch ein Ort, an dem Leute aus unterschiedlichsten sozialen Milieus zusammenkommen, beispielsweise in der Fankurve.

Die WOZ hat einen Gegenentwurf formuliert, wie ein heutiger Schweizer Fussballklub funktionieren könnte. Was sind die Eckpunkte?

Wir wollten das WOZ-Modell, das wir als Zeitung in einem kompetitiven Markt erfolgreich anwenden, auf den Fussball übertragen. Dieses beinhaltet den Einheitslohn aller am Projekt Beteiligten. Die Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern ist zentral, die Herrenmannschaft soll keinen höheren Stellenwert haben als das Frauenteam. Sehr wichtig ist auch die Basisdemokratie: Nur weil jemand mehr Geld hat, soll er nicht mehr zu sagen haben – die Logik des Kapitalismus wird also durchbrochen. Und wir wollen uns nicht abhängig von einzelnen Geldgebern machen und würden kein Geld von Sponsoren mit fragwürdigen Geschäftsmodellen annehmen.

Warum ist man für dieses Experiment gerade auf den FC Biel gekommen?

Wir haben in einem ersten Moment gedacht, wir könnten nach dem Abstieg nun GC übernehmen, sozusagen den Klassenfeind. Aber das hat sich als völlig unrealistisch herausgestellt. Nach dem Ausschlussverfahren sind wir auf den FC Biel gestossen. Dort stimmt alles: Er hat ein grosses Einzugsgebiet, eine lange Geschichte, und für uns als WOZ ist Biel auch ein gewisser Sehnsuchtsort.

Die rote Arbeiterstadt?

Mag sein, dass das romantisiert ist. Aber Biel ist eine anziehende Stadt, in der solide linke Politik gemacht wird, jedenfalls aus der Ferne betrachtet. Und in Biel ist das Leistungszentrum des Frauenfussballs, das ist eine ideale Voraussetzung für diesen Teil des Konzepts.

Ein Punkt ist auch die vorhandene Infrastruktur – die WOZ wollte sich ins gemachte Nest setzen.

Das können wir schwerlich negieren. Gewiss, wir könnten einen kleinen Quartierverein aufbauen, aber uns ging es durchaus auch darum, unsere Vorschläge auf interventionistische Weise einzubringen – damit man auch darüber spricht, damit sie wahrgenommen werden.

Weist denn der FC Biel aus Ihrer Sicht Mängel auf, welche die WOZ beheben wollte?

Wir haben das nicht aus diesem Winkel betrachtet. Vielmehr sahen wir das Potenzial, das eine Kooperation mit dem FC Biel barg, gerade auch im Hinblick auf die jüngste Geschichte, in der nicht eingelöste Geldversprechen zur Zwangsrelegation führten.

Gehen wir ins Detail. Warum soll ein Fussballclub basisdemokratisch organisiert sein? Die Entscheidungswege wären viel zu lang, etwa bei Transfers muss ein Fussballclub rasch agieren können.

Die Basisdemokratie ist ein Ideal, das viele Ausformungen haben kann. Man sollte überall basisdemokratische Versuche wagen, in der Wirtschaft, in der Publizistik, und also auch im Fussball. Für die genaue Ausgestaltung gilt es, pragmatische Wege zu finden. Kompetenzen und Entscheidungsfindungen lassen sich auch delegieren, wenn sie am Ende basisdemokratisch abgesegnet werden.

Im Gegensatz zu einer Zeitungsredaktion ist ein Fussballclub aber sowohl extern in der Meisterschaft als auch intern mit der Kaderselektion in einem per Definition hochkompetitiven Umfeld tätig. Konsensorientierte Basisdemokratie steht dazu im kompletten Gegensatz.

Die Corinthians São Paulo haben in den 80er-Jahren gezeigt, dass es erfolgreich funktionieren kann. Dort wurde selbst die Aufstellung basisdemokratisch festgelegt. Es braucht dafür natürlich Leute, die Verantwortung für das Gesamte übernehmen wollen.

Aber dieses Beispiel kam unter besonderen historischen Bedingungen zustande, als politisches Statement unter der Militärdiktatur. Und selbst dort funktionierte es nicht, wie man später vernahm.

Das stimmt (lacht). Aber für eine Zeitlang hat es funktioniert, wohl, weil einzelne Charismatiker das Modell stützten.

Genau das war die Kritik: Genau besehen gab es innerhalb durchaus eine Zweiklassengesellschaft, wie sie etwa auch im real existierenden Sozialismus zu beobachten war.

Wo keine formale Hierarchie besteht, gibt es Raum für informelle und natürliche Hierarchien. Bei den Corinthians wurde das Projekt schliesslich einfach beendet. Interessant wäre doch, ein Modell auszuprobieren, es mit der Zeit anzupassen und so – entlang des basisdemokratischen Ideals – eine Form zu finden, die funktioniert.

In der Vereinsleitung hätte dagegen auch ein Fanvertreter Einsitz nehmen können. Auch aus basisdemokratischen Gründen?

Genau. Und: Fussball soll nicht nur ein Produkt sein und die Fans zahlende Zuschauerinnen und Zuschauer, sondern sie sollen substanzieller Teil eines Vereins und in den Entscheidungsprozess eingebunden sein.

Im real existierenden Fussball ist ab und an das Phänomen zu beobachten, dass die Vereine in Geiselhaft ihrer Kurve sind.

So wird es dargestellt. Bloss: Wenn jemand viel Geld in einen Verein steckt, aber schlecht wirtschaftet, dann sind die Fans in Geiselhaft von dieser Person – das hat man ja gerade beim FC Biel gesehen.

Ein weiterer Punkt war der Einheitslohn. Warum soll es sinnvoll sein, wenn der Stürmerstar gleich viel verdient wie der eben erst vom Nachwuchs dazugestossene Bänkliwärmer?

Weil beide ein genau gleich wichtiger Teil des Teams sind. In TV-Interviews sagen die Stürmer ja immer, es gehe nicht um ihn, sondern um die Mannschaft, jeder Teil davon sei wichtig. Wenn die das behaupten, könnte man dem ja Taten folgen lassen. Dass ein Stürmerstar mehr verdient, ist dem Marketingprinzip geschuldet.

Wohl eher dem Leistungsprinzip.

Ein Verteidiger, der kein Tor zulässt, hat doch gleich viel geleistet wie ein Stürmer, der von fünf Chancen eine verwertet.

Gewiss, aber es gibt ja auch Verteidiger, die viel leisten, und solche, die weniger leisten. Drückt der Einheitslohn nicht auf die Motivation der Leistungsträger?

Zumindest in der 1. Liga könnte man doch daran arbeiten, ein Team zu formen, in dem sich keiner als Stürmerstar sieht, und in dem auch der Ersatzspieler auf der Bank genau gleich gewürdigt wird.

In der DDR beispielsweise hat sich jedenfalls gezeigt: Wenn sich Leistung im Vergleich mit der Nicht-Leistung nicht lohnt, leidet die Leistung des ganzen Systems.

Ich möchte jetzt lieber nicht die DDR verteidigen müssen… Aber ich bin nicht sicher, ob dies tatsächlich darauf zurückzuführen war. Das ist einfach die Erzählung, in der wir leben: Dass im Kapitalismus jene belohnt werden, die viel leisten. In der Realität aber ist das ad absurdum geführt: Ein Firmenchef kann gar nicht 100-mal mehr leisten als ein Angestellter, und ein normaler Fussballer leistet nicht 1000-mal weniger als ein Star. Nicht Leistung wird belohnt, sondern Besitz und Kapital.

Aber die Lohngleichheit geht in Ihrem Modell ja noch weiter: Die Ticketverkäuferin verdient gleich viel wie der Trainer.

Sie ist aber vermutlich nicht zu 100 Prozent angestellt.

Der Platzwart dagegen womöglich schon.

Also bitte, wenn die Fussballer erwarten, dass das Spielfeld in gutem Zustand ist, dann hat der Platzwart auch einen fairen Lohn verdient.

Der FC Biel hätte auch eine Frauenabteilung führen müssen, die komplett gleichberechtigt wäre. Warum?

Der Frauenfussball wird derzeit zu wenig gewürdigt. Die Spielerinnen leisten genau gleich viel, aber sie haben weniger Rückhalt in der Bevölkerung, bloss weil ihr Sport medial weniger Beachtung erhält.

Besuchen Sie Frauenfussball-Spiele?

Viel zu selten. Ich bin genauso in einer Welt sozialisiert worden, in der tagein, tagaus Männerfussball gezeigt wird, und Frauenfussball nicht stattfindet. In der selben Welt sind dagegen Skirennen von Frauen und Männern in genau gleichem Umfang ausgestrahlt und kommentiert worden, obwohl die Frauen etwas weniger schnell den Berg runterfahren.

Gleichwohl: Warum sollte man das Publikum zwingen, Frauenfussball gleich wichtig zu finden wie Männerfussball?

Es geht überhaupt nicht darum, irgendjemanden zu irgendetwas zu zwingen. Aber: Das derzeitige Interessensgefälle hat nichts damit zu tun, dass Frauenfussball weniger attraktiv wäre als Männerfussball. Sondern es ist eine Folge der Gewichtung in den Medien, aber auch innerhalb der Vereine. In letzter Zeit haben manche Super-League-Vereine ihre Frauenabteilungen ausgelagert, das ist eine völlige Geringschätzung.

Aber Frauenfussball ist etwas weniger schnell und dynamisch.

Das ist kein Argument für jemanden, der sich Super-League-Spiele anschaut. Das Niveau in dieser Liga ist auch nicht gleich wie in der Premier League. Man schaut nicht nur den bestmöglichen Fussball, sondern jenen, in den man hineingewachsen ist.

Es ist nun mal so, dass es weniger Frauen gibt, die sich für Fussball interessieren und auch spielen.

Der WOZ-Ansatz ist: „Es ist nun mal so“ akzeptieren wir nicht. Sonst gäbe es auch uns selber nicht in dieser Form. Wir wollen den Ist-Zustand verändern. Es gibt sehr viele Frauen, die Fussball spielen und auch junge Spielerinnen, die gerne Profis werden möchten. Wir wollen ein Modell kreieren, in dem sie die gleiche Wertschätzung erfahren.

Weiter wäre eine Sponsorenbeschränkung vorgesehen gewesen. Ziel wäre, dass der FC Biel einen möglichst grossen Teil der Kosten durch Ticketeinnahmen und Mitgliederbeiträge deckt – schränkt das nicht den Erfolg von vornherein ein?

Das dürfte zutreffen. Bei unseren Überlegungen geht es auch darum, dass Leute, die dem Verein zugewandt sind, diesen abhängig von der Höhe ihres Einkommens unterstützen. Die Mitgliedschaft wäre so eine Art Mikrosponsoring.

Faktisch existiert beim FC Biel ein solches Modell: Die Gönner, die den Verein unterstützen.

Das stimmt natürlich, und das wollen wir auch gar nicht abwerten. In unserem Modell ist zentral, dass jedes Mitglied genau gleich viel zu sagen hat, dass seine Mitsprache nicht von der Höhe seines Unterstützungsbeitrags abhängt. Und dass sich eine solche Person wegen des Herzbluts für den Verein engagiert, nicht weil sie ein Produkt vermarkten oder ein Business-Netzwerk pflegen will. Wenn man die Hauptsponsoren von Champions-League-Teilnehmern anschaut, dann sieht man: Da ist Klimasünder-Interessensvereinigung am Werk, zusammen beispielsweise mit Unternehmen wie Gazprom, die auch geopolitisch eine fragwürdige Rolle spielen. Ein Verein aber hat eine soziale Verantwortung.

Was heisst das konkret?

Das heisst, dass der Fussballclub nicht wie ein Ufo am Stadtrand schwebt, sondern sich als Teil der Gesellschaft begreift. Er ist verankert, die Menschen wollen dort spielen und Fussball schauen, und er bietet diese Möglichkeiten auch jenen, die weniger gut gestellt sind.

Letztlich ist bei genauerer Betrachtung das Experiment schlicht auch am Geld gescheitert – was die WOZ hätte aufwerfen können, hätte niemals gereicht, um einen respektablen Fussballclub unter den formulierten Vorzeichen zu führen, selbst in der 1. Liga. Das ist desillusionierend.

Absolut. Es geht dermassen ums Geld – schon in der 1. Liga steht man letztlich in Konkurrenz zu den Champions-League-Millionen. Ich glaube aber trotzdem, dass unser Modell funktioniert hätte. Es zielt ja darauf ab, dass ein Verein für einen Fussballer nicht einfach ein Arbeitgeber ist, sondern dass er sich als Teil des Vereins sieht und bereit ist, einen Lohn zu beziehen, der den Möglichkeiten des Clubs entspricht.

Der FC Biel hat schliesslich abgesagt. Nicht unerwartet, oder?

Dietmar Faes hat unser Angebot zumindest sehr genau und gewissenhaft geprüft. Er war bereit, inhaltlich über Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Modells zu reden, obwohl es gerade seine Funktion als Präsident stark verändert hätte. Unser Ziel war, zunächst mal zu prüfen, wie weit wir kommen. Hätte der FC Biel tatsächlich zugesagt, wäre ja noch die Zustimmung seitens des WOZ-Kollektivs nötig gewesen.

Die Wahrscheinlichkeit wäre also erheblich gewesen, dass die Pläne an der WOZ selber scheitern?

Das glaube ich nicht. Erstens gibt es bei uns viele Fussballfans, und die anderen verstehen, dass es nicht darum gegangen wäre, Geld ins Fussballbusiness zu investieren, sondern einen generellen Kontrapunkt in einem wichtigen Lebensinhalt vieler zu setzen.

Es war also mehr als ein blosses Gedankenexperiment?

Sicher! Wobei wir uns durchaus bewusst waren, dass die Pläne eher unrealistisch sein dürften – denn jene Leute, die über ihre Realisierung entscheiden können, haben kaum ein Interesse daran. Aber das ist ja kein Grund, es nicht zu versuchen.

Was bleibt nun von dem Ganzen?

Viel Erkenntnisgewinn, viele interessante Gespräche – es sind beispielsweise auch viele Fans an uns herangetreten mit wichtigen Inputs. Unser Konzept ist so ausgelegt, dass sich auch einzelne Teile davon realisieren lassen. Ich hoffe natürlich, dass dies da und dort erfolgt.

Es sollen auch andere Clubs angeklopft haben.

Dazu ist zu sagen: Biel wäre für uns eine einmalige Chance gewesen, um unseren Ansatz interventionistisch zu verfolgen und herauszufinden: Was lässt sich im Schweizer Halbprofi-Fussball wirklich verändern?

Welcher Club bleibt einem denn als Fan, wenn man solche Ideen unterstützt? United of Manchester, Austria Salzburg, St. Pauli?

In der Schweiz macht der FC Winterthur gemessen an unseren Idealen vieles besser als andere Clubs. Im Ausland gibt es vereinzelte Paradiesvogel-Vereine wie St. Pauli und wenige mitgliedergeführte Vereine. Aber das ist es ja gerade: Man kann sich seinen Verein nicht aussuchen. Man wird irgendwann als Kind Fussballfan, und seinen Club kann man später nicht einfach wechseln wie ein Stück Unterwäsche. Das war mein persönlicher Antrieb für dieses Experiment: Dass ich in meinem Verein viele gute, kreative Leute in der Kurve sehe, die zum blossen Zuschauen verdammt sind, weil sie kein Geld zum Investieren und darum keine Mitsprache haben.

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