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Wochenkommentar

Politiker müssen Therapieplätze schaffen

Der Fall von Igor L. zeigt, dass es mehr Therapieplätze für psychisch kranke Straftäter braucht.

Peter Staub, Ressortleiter Region. Copyright / Peter Samuel Jaggi / Bieler Tagblatt

von Peter Staub

«Den Grad einer Zivilisation kann man am Zustand seiner Gefangenen messen.» Dieser Zitat stammt nicht aus dem Plädoyer des Verteidigers von Igor L., dessen Fall diese Woche wieder einmal vor dem Berner Obergericht behandelt wurde. Zur Erinnerung: Igor L. , von Bouvlevard-Zeitungen als «Schläger von Schüpfen»oder «Terror-Igor» bezeichnet, wurde vor sechs Jahren wegen Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte im August 2010 in Schüpfen einem Wirt im Streit einen schweren Aschenbecher auf den Kopf geschlagen. Damals waren Igor L. und seine Kumpane als randalierende Bande gefürchtet. Dass Igor L. in die rechtlichen Schranken gewiesen wurde und ihn die Gerichte verurteilten, ist richtig.  

Am Mittwoch hat das Obergericht in Bern die vom Regionalgericht Biel vor einem Jahr verfügte Massnahme, wonach Igor L. weitere vier Jahre in einer geschlossenen Abteilung therapiert werden soll, um ein Jahr verkürzt. Das heisst, dass er im Jahr 2019 ein freier Mann sein wird, falls er bis dahin weiter an der Therapie teilnimmt. Bis dann wird er neun Jahre hinter Gittern verbracht haben. Denn obwohl dem damals noch jungen Mann aus Schüpfen 2011 vom Gericht eine therapeutische stationäre Massnahme verordnet wurde, fand der Kanton Bern für ihn fünf Jahre lang keinen geeigneten Therapieplatz. Erst als das Bundesgericht vor zwei Jahren seine Freilassung anordnete, falls die Behörden nicht schnell doch noch einen Therapieplatz finden sollte, wurde der Kanton plötzlich fündig. In der forensischen Klinik Rheinau im Kanton Zürich. Dort wird Igor L. seither behandelt. Erfolgreich. Erstmals erhielt er eine korrekte Diagnose: paranoide Schizophrenie. Dass dies solange dauerte, ist ein Skandal. Offenbar war es den bernischen Behörden fünf Jahre nicht allzu wichtig, Igor L. therapeutisch zu behandeln. Sie schienen froh, dass er weggesperrt war und der Gesellschaft keine Schwierigkeiten mehr machte. Wäre das Bundesgericht nicht eingeschritten, würde der nunmehr 29-Jährige wohl immer noch ohne adäquate Behandlung in einer Zelle für gewöhnliche Straftäter schmoren.

Dass sich eine Gesellschaft daran messen lassen muss, wie sie mit Gefangenen umgeht, hat der russischen Schriftsteller Dostojewski (Schuld und Sühne) geschrieben. Dieser war neben Tolstoi der wichtigste russische Autor des 19. Jahrhunderts. Dostojewski war selber zehn Jahre im Gefängnis, weil er gegen das Zarenreich opponiert hatte. Er wusste also, wovon er sprach. Sein Satz hat auch nach beinahe zwei Jahrhunderten nicht an Gültigkeit verloren. Auch in der Schweiz, die sich gern als mustergültiger Rechtsstaat sieht. Um diesem Anspruch wieder gerecht zu werden, müssen die Gerichte aber nicht nur Recht sprechen. Dieses Recht muss auch durchgesetzt werden und nicht einfach an Psychiater oder Vollzugsbeamte delegiert werden. Wenn die Strafe eines Täters zugunsten einer therapeutischen Massnahme aufgeschoben wird, muss gewährleistet sein, dass dieser auch eine entsprechende Therapie machen kann. Sonst wird das Recht zur Willkür. Sonst werden Straftäter einfach mit der sogenannt «kleinen Verwahrung» versorgt, gegen die sie sich praktisch nicht wehren können.

Hier ist die Politik gefragt: Im Kanton Bern fehlen gemäss Experten 60 bis 80 Therapieplätze für psychisch kranke Straftäter. Die Gerichte können keine Therapieplätze schaffen. Das muss die Politik richten. Im Kanton Bern also der Grosse Rat. Dafür muss er entsprechende Kredite bewilligen. Und falls solche Plätze nicht schnell eingerichtet werden, muss man entweder den Gerichten verbieten, die «kleineVerwahrung» auszusprechen. Oder der Zivilisationsgrad der Schweiz sinkt auf ein Niveau, das einem Rechtsstaat nicht angemessen ist. Auch Gefangene haben das Recht, anständig behandelt zu werden.

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