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Biel

«Da hatte ich den Christbaum ganz für mich alleine»

Heidi Schneider-Blaser wuchs zwischen zwei Weltkriegen und drei jüngeren Brüdern auf. Sie erzählt, wie sie Weihnachten als Kind erlebt hat. Und weshalb sie den Samichlous nicht mag.

Die 94-Jährige ist im Thurgau aufgewachsen und lebt heute in der Residenz au Lac in Biel. Peter Samuel Jaggi
  • Dossier

Aufgezeichnet: Hannah Frei

 

Einmal als Kind – das vergesse ich nie – bin ich am 25. Dezember am Morgen früh aufgewacht. Alle anderen schliefen noch. Unser Schlafzimmer befand sich oberhalb des Kachelofens, sodass wir es ein bisschen warm hatten. Ich schlich mich leise raus, setzte mich neben den Weihnachtsbaum und zog mein Nachthemd bis über meine Füsse. Es roch so schön nach Tannennadeln. Ich sass da und dachte: Nun habe ich den Christbaum ganz für mich alleine.

 

Ich bin mit drei jüngeren Brüdern in einem kleinen Bauerndorf im Thurgau aufgewachsen. Man hört es immer noch. Ich sehe nicht ein, weshalb ich den Dialekt verleugnen sollte. Als ich ins Seeland zog, sagten mir manche: «Was du redest, ist keine Sprache, es ist eine Halskrankheit.» Und dass ich lange Finger hätte. Aber das störte mich nicht. Ich wusste mich schon zu wehren.

 

Im Seeland bin ich seit – hm, da muss ich überlegen: Es war kurz nach dem Krieg, wohl um 1950. Ich kam wegen meiner Arbeit als Telefonistin in die Perles Motorenfabrik in Pieterlen. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Wir hatten einen Sohn. Er war jedoch stark beeinträchtigt. Mit 18 Jahren durfte er sterben, glücklicherweise. Sein Leben war nicht lebenswert, er nahm uns kaum wahr.

 

In der Residenz au Lac bin ich seit etwas über einem Jahr. Hier bin ich daheim, hier gefällt es mir. Mein Mann war lange im Seelandheim in Worben, war dement. Vor drei Jahren ist er gestorben. Damals meldete ich mich sofort bei der Residenz an und hatte Glück. Meine Wohnung ist wunderschön. Vor meinem Balkon habe ich ein ganzes Lavendelfeld. Wie das riecht! Und es gibt Bienen und Hummeln und allerlei Insekten. Diesen Frühling waren da zudem eine Bachstelzen- und eine Distelfinken-Familie. Mit dem Feldstecher konnte ich sie beobachten. Manchmal traute ich mich kaum, zu atmen. Ich wollte sie ja nicht verscheuchen.

 

Das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe, waren die ersten Schlittschuhe. Ich traute mich kaum, sie mir zu wünschen, wusste ich doch, dass dies finanziell kaum drin liegt. So staunte ich nicht schlecht, als ich das Päckchen öffnete. Ich ging damals in die 6. Klasse. Eine Eisbahn gab es bei uns auf dem Schulhof: Wenn es ganz kalt war, flutete man den sandigen Platz und wartete darauf, dass ihn der Wind und die Kälte in eine Eisbahn verwandelte. Jede Nacht wurde eine neue Schicht Wasser aufgegossen, bis das Eis genug dick war, um darauf herumzuflitzen. Es war zwar kein grosses Feld, aber man konnte darauf Schlittschuh laufen. Mehr brauchte es nicht.

 

Mein Götti war zur damaligen Zeit ein wohlhabender Bauer. Er schenkte mir oft etwas zu Weihnachten. Aber für das Geschenk musste ich fast eine Stunde zu ihm hinwandern. Damals gab es noch viel Schnee, und nein, das ist nicht nur in meiner Erinnerung so. Es war wirklich bitterkalt und eisig. Mein Götti schenkte mir beispielsweise einen Butterzopf mit einem Fünfliber drin. Das Geld musste ich zuhause abgeben. Meine Mutter hatte es nötig. Das hat mich schon etwas gewurmt. Aber als Älteste habe ich ja mitbekommen, wie es finanziell bei uns aussah.

 

Ich und meine drei jüngeren Brüder hatten nie das Gefühl, zu kurz zu kommen. Wir bekamen immer das, was wir brauchten: ein paar Schuhe, Kleidung, einen Rucksack. Und wir hatten Freude daran. Wenn man dann von der Gotte oder vom Götti auch noch einen St. Galler Honiglebkuchen kriegte, war das das Allergrösste.

 

Ich habe eigentlich nur schöne Erinnerungen an Weihnachten als Kind. Es war natürlich deutlich einfacher als heute. In den 30er-Jahren herrschte als Folge des Ersten Weltkriegs Arbeitslosigkeit. Jeder Familienvater war froh, wenn er Arbeit hatte. Unser Vater hatte zum Glück immer eine Stelle. Er arbeitete in einer Zwirnerei. Dort werden Garne zu Fäden weiterverarbeitet.

 

Der Samichlous gehört für mich zur Weihnacht dazu. Aber den mochte ich nie. Ich weiss noch, als er zum ersten Mal kam, da war ich fünf Jahre alt. Er hatte eine Glocke dabei. Als ich hörte, wie er die knarrende Treppe herauf stapfte, packte ich meinen Bruder, und wir versteckten uns hinter dem Divan. Meine Mutter holte uns wieder hervor. Zitternd sagte ich mein Sprüchlein auf, ohne ihn anzuschauen. Ein Wunder, dass ich am Schluss nicht noch Amen gesagt habe vor lauter Angst. Wir waren froh, als er wieder weg war. Die Rute hat er da gelassen – damit wir auch ja die ganze Zeit bis Weihnachten artig sind. Sonst bringe das Christkind nichts, sagte der Samichlous. So etwas Einfältiges. Aber das war halt Brauch.

 

Auch ein paar Äpfel und getrocknete Birnen- und Apfelschnitze liess er da. Nüsschen und Mandarinen kannten wir damals nicht. Wann ich zum ersten Mal spanische Nüsschen gegessen habe? Jesses. Also während des Kriegs sowieso nicht. Das können sich die Jungen von heute gar nicht mehr vorstellen. Aber früher war es nicht besser oder schlechter als heute, einfach anders.

 

An Heiligabend gab es die Geschenke, tags darauf am eigentlichen Weihnachtstag folgte ein Festessen: Voressen mit Kartoffelstock und Gemüse aus dem eigenen Garten. Es gab Kaffee und manchmal ein Schokolädli – die grauenhaft süssen, die Mäuschen. Wenn ich daran denke, schaudert es mich. Aber wir haben uns natürlich trotzdem gefreut.

 

Gesungen haben wir immer, unter anderem «Stille Nacht, heilige Nacht». Mein Vater hatte eine gute Stimme, er war im Männerchor. Nur meine Mutter konnte nicht so gut singen. Ich weiss noch, wie ich im Sommer manchmal das Fenster schloss, wenn sie angefangen hat zu singen. Nicht, dass es die anderen noch hören ...! Denn die anderen Kinder haben uns immer gesagt, dass unsere Mutter schief singe. Das wollten wir natürlich nicht hören.

 

Das Singen vermisse ich zurzeit sehr. Ich bin im gemischten Chor Safnern. Ich kam von einem Chor zum anderen, wie die Jungfrau zum Kinde. Einer nach dem anderen fiel altershalber zusammen. Aber ich wollte weitersingen.

 

Wie wir hier in der Residenz feiern werden? Das weiss ich noch nicht. Ich lasse mich gerne überraschen. Es wird bestimmt etwas besonders Leckeres geben. Überessen werde ich mich nicht. Im Alter stoppt das von alleine. Am Sonntag kommen mich mein Bruder und die Schwägerin besuchen. Darauf freue ich mich. So sehr verwöhnt wie hier wurde ich noch nie.

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