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Hamburg

In 16 Geräuschen ein Mal rund um die Welt

«Tuuuut!» Ein Schiffshorn lässt Fernweh-Autor Donat Blum den Geräuschen nachreisen – von Hamburg über Biel nach China und bis ins Berlin der 30er-Jahre.

Blick auf den Elb-Hafen während meiner Schreibklausur in Hamburg. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Kürzlich in Hamburg wurde ich an meine Zeit in Biel erinnert. Ich hatte mich für zehn Tage in die Stadt an der Elbe abgesetzt, um an meinem Roman zu arbeiten. Mein Zimmer lag fast direkt am Hafen. Der Schlafrhythmus kam schnell durcheinander. Was dem Schreiben durchaus zuträglich war, lag ich doch zu Unzeiten halb wach im Bett und fand Raum, um in aller Ruhe Bilder und Gedanken zu formulieren, ganz bei mir und ganz ohne Ablenkung durch visuelle Äusserlichkeiten.

In einem dieser Momente war ein Schiffshorn zu hören. Laut und tief dröhnte es über die Elbe und durchs Fenster in mich. Bilder von weit entfernten Orten, an die das Schiff nun fahren würde, wurden geweckt: Panama, Peru, die Philippinen, Japan oder China? Und gleichzeitig die Erinnerung an den einen anderen Ort, an dem ich manchmal ebenso im Bett lag und ein Schiffshorn hörte: Biel.

Von der Bieler Altstadt nach Lima
Ein simples Geräusch genügte, um mich in meine kleine Wohnung in der Bieler Altstadt zurückzuversetzen, wo bei offenem Fenster das Hornen der Kursschiffe zu hören war, das der Jurakette entlang über die Stadt getragen wurde.

Wobei die Kombination die Erinnerung ausgemacht haben dürfte: Auch das Rattern der Autos auf der alten Hafenstrasse erinnerte mich an schläfrige Stunden in der Bieler Altstadt, wo die Geräuschkulisse ebenso anschwoll, wenn sich ein Auto vom Engelbrunnen her näherte und abklang, wenn es sich aus der Obergasse entfernte.

Woran mich Autoreifen auf Pflastersteinen sonst noch erinnerten, fragte ich mich in jener schlaftrunkenen Stunde. Wie sich ihr Geräusch beschreiben liesse, in Wort fassen? Die Idee war naheliegend: Es klang nach Brandung, nach grossen Wellen, die an eine Küste rollen. Warum ich das wusste? Wo ich wiederum diese Geräusche gehört hatte? Und schon war ich in Gedanken in Lima gelandet, wo der Pazifik ununterbrochen tosend an die Küste brandete. Oder im Urlaub als Kind in Holland, wo ich an düsteren Tagen Leuten zuschaute, die auf bedrohlich grollenden Wellen auf den Strand zu bretterten.

Muezzin und Munotglöggli
Das alles führte mich zu einem weiteren Geräusch, das sich mir im Halbschlaf tief eingeprägt hatte: Mit einer Segeljolle waren wir auf dem Nil unterwegs und übernachteten auf einer unbewohnten Insel, als wir im Morgengrauen von den Rufen eines Muezzins, die vom Festland her über den Fluss geweht wurden, aufgeweckt wurden.

Das war ähnlich einprägsam wie der Moment nach einigen Monaten in China, als in Shanghai am Bund plötzlich Kirchenglocken zu hören waren. Wenn auch ab Band, versetzten sie mich augenblicklich in die Kindheit nach Schaffhausen zurück, wo das sonntägliche Ausschlafen vom Einläuten des Gottesdienstes in der fast einen Kilometer entfernten Kirche unterbrochen wurde. Da in China, realisierte ich, wie sehr ich das Geräusch von Kirchenglocken mit der Schweiz verband oder eher mit meiner Kindheit. Was die Erinnerung ans Munotglöggli weckte, die kleine von Schiller «besungene» gespaltene Glocke, die immer um halb neun (oder war es neun Uhr?) von der Schaffhauser Altstadt her bis zu uns auf den Hügel in mein Kinderbett schepperte.

Wie klingt Berlin?
Welche Geräusche werden mich wohl einst im Halbschlaf an Berlin erinnern? Ob es wohl Berliner Geräusche mit universellem Charakter gibt, die nicht nur ich mit der Stadt verbinde?

Eine ähnliche Frage dürfte den Berliner Walter Ruttmann umgetrieben haben, als er 1930 das Werk «Weekend» schuf. Das hörspielartige Stück wird oft als «Film ohne Bilder» beschrieben. Ruttmann selber sprach von «photographischer Hörkunst». In fünf Kapiteln reihte er knapp zwölf Minuten lang Tonaufnahmen aus der Stadt aneinander, um so ein typisches Berliner Wochenende zu konstruieren: Vom «Jazz der Arbeit» in den «Feierabend» über die «Fahrt ins Freie» und ins «Pastorale» bis zum «Wiederbeginn der Arbeit».

Zu hören sind Gesprächsfetzen, das Klingeln einer Kasse, Kirchenglocken, Autos, Rufe eines Polizisten und das Stampfen von Maschinen. Das Stück gilt als die erste Klangcollage der Hörspielgeschichte. Im Radio ausgestrahlt wurde es damals aber nur ein einziges Mal und blieb danach während Jahrzehnten verschollen.

Strassenbahnen rasseln, Vögel flattern
Zurück in Berlin legte ich mich in mein dortiges Bett und hörte zu. Wie hört sich Berlin 90-Jahre später an? Welche Geräusche könnten einst typisch für «mein» Berlin sein und welche für andere Berlinerinnen?

Fünf Strassen treffen vor meinem Fenster unter einer U-Bahn-Linie zusammen, die neben unserem Haus aus dem Untergrund ans Tageslicht schiesst. Drei Tramlinien halten vor der Haustür. Krankenwagen, Feuerwehr- und Polizeiautos stellen die Sirene an, wenn sie quer über die Kreuzung brettern wollen oder müssen.

Ich höre also Sirenen. Ich höre den Wind, der über das Dach bläst. In Böen. Fast immer in Böen. Ich höre das Rasseln, Quietschen und Klingeln der Strassenbahnen, die sich über die Weichen schieben. Ich höre die Vögel auf dem Dach, landen, picken und losflattern. Ich höre die U-Bahn, die sich mit einem dumpfen Grollen und einem fast unmerklichen Vibrieren des Bettes ankündigt und zu einem Dröhnen anwächst, wenn es eine der älteren Kompositionen ist. Bei neueren Kompositionen ist es eher ein Pfeifen. Wie ein Flugzeug, das startet, nur leiser. Und ich höre die U-Bahn in entgegengesetzter Richtung auf den Untergrund zuschlittern, was sich als Geräusch einzig im in die Länge gezogenen Crescendo und Diminuendo von den Windböen auf dem Dach unterscheidet.

An Sonntagen mischen sich zudem das Stimmengewirr und die Trommeln aus dem Mauerpark unter das nie endende Verkehrsrauschen, was mich jedes Mal an die Nächte auf dem Zeltplatz des Paléo Festivals erinnert.
Die Hochbahn glaube ich bei genauem Hinhören auch in Ruttmans «Weekend» erkannt zu haben, was stimmig wäre, wurde sie schliesslich bereits 1902 eröffnet.

Markanter in seinen Tonaufnahmen ist eine Lautsprecherdurchsage in einem Einkaufszentrum. Die gegenwärtige Entsprechung davon dürften die Durchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln sein. Immer wieder erstaunlich, wie vertraut die Ansage-Stimmen klingen. Was besonders auffällt, wenn mensch sie plötzlich an einem anderen Ort hört. Beispielsweise bei einer Synchronsprecherin im Fernsehen.

Die bekannteste Hommage an ein Berliner Geräusch dürfte aber vermutlich der Warn-Ton von schliessenden S-Bahn-Türen sein, den Paul Kalkbrenner in einen Technosong eingebaut hat.

Womit ich bei dem einen Geräusch angelangt bin, das mich im Ausland bereits einmal zurück nach Berlin versetzt hat: Techno. Aber nicht Techno allein aus einer Stereoanlage, sondern in Kombination mit anderen Sinneseindrücken: mit schwitzenden Körpern, wechselndem Licht und einer dunstigen Sicht, die dazu führt, dass mensch den Blick von aussen nach innen richtet. Ach, wie ich das Tanzen vermisse! Die Berliner Clubs sind nun seit eineinhalb Jahren geschlossen.

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