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Alt und Jung

Ärger über 
die «lange Leitung»

Es geschieht an der Schüss: Ich war mit meinem Mann Sergio für das tägliche Lauftraining unterwegs. Plötzlich kippt der Rollator, ich liege am Boden, kann wie immer in solchen Fällen nicht ohne Hilfe aufstehen. Sergio ist ausser Gefecht wegen seines Rückens.

Bild: Judith Giovannelli-Blocher

Judith Giovanelli-Blocher

An diesem Ufer der Schüss ist es am frühen Sonntagmorgen menschenleer. Aber auf der andern Seite des Flüsschens gehen Leute. Ich rufe hinüber:«Hilfe!» Ein Mann hört es, macht augenblicklich rechtsumkehrt, geht ein gutes Stück aufwärts zurück, überquert oben die Brücke und kommt dann zu uns herunter. Er greift mir energisch unter die Achseln, stellt mich auf und überprüft sorgfältig, ob ich unverletzt und stabil bin, das heisst aufrecht stehen und gehen kann. Dann wünscht er mir alles Gute und verabschiedet sich kurzum freundlich, geht seinen Weg weiter.

Wir sind fassungslos, wie vor den Kopf gestossen. Wie konnte das passieren? Wir haben doch Routine mit diesen täglichen Spaziergängen. Aber ausser mehrmaligem «Dankeschön» und «nochmals vielen herzlichen Dank» fiel uns gegenüber dem Helfer nichts mehr ein. Wie undankbar, denn er hat einen zünftigen Umweg wegen uns gemacht: Früher hat mein Mann vielleicht das Portemonnaie gezückt (meistens vergebens, da spontane Helfer fast nie Geld wollen). Auch habe ich schon um die Adresse des Helfers gebeten, damit ich ihm später schreiben, eventuell ein Buch von mir mit einer Widmung beilegen kann. Aber heute bin ich so verdattert, dass mir nichts einfällt. Nun ist er weg! Ich schäme mich. Was für eine «lange Leitung» haben wir doch inzwischen. Aber vielleicht muss man im hohen Alter auch das lernen: mit leeren Händen dastehen und Hilfe ohne Gegenleistung annehmen. Das ist nicht einfach.

Zum Schluss noch einmal herzlichen Dank allen Helfern, die spontan einspringen und helfen. Das ist eine grosse Ermutigung in allen Lebenslagen, in denen man sich etwas vornimmt und nicht weiss, soll man es wagen oder nicht.

Als Kind habe ich heftig an Wunder geglaubt. Inzwischen sind mir Fakten wichtiger. Aber das reicht einfach manchmal nicht. Also fährt mir durch den Sinn, dass ja wie ein Wunder der Helfer diese Kolumne liest und sich dann bei mir meldet? Wer weiss! Man darf nie aufhören zu glauben.

Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig auch heute ganz direkte, spontane Hilfe ist. Wir sollten das Risiko nicht scheuen, die Verantwortung persönlich zu übernehmen, wenn es die Situation erfordert. Sobald öffentliche Hilfe eingeschaltet wird, kann es manchmal sehr kompliziert werden. Es braucht ein persönliches Verantwortungsgefühl bei all diesen Entscheidungen. Darum herum kommt man nicht. Das Delegieren von allen Notlagen an sogenannte Zuständige muss auch Grenzen haben. Als Mensch hat man immer auch direkte Verantwortung.

Info: Die 86 Jahre alte Schriftstellerin Judith Giovannelli-Blocher lebt mit ihrem Mann in Biel. Sie beschäftigt sich seit Langem mit Altersfragen.

kontext@bielertagblatt.ch

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