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Alt und Jung

Auch Tierärzte sind auf Tierversuche 
angewiesen

Der Wagen hielt unten bei der Gartentreppe an, mein Bruder und seine Frau stiegen aus. Oben an der Haustüre beobachtete ich ihre Ankunft und erwartete das Aussteigen meiner ältesten Tochter, zwölfjährig.

Bild: Françoise Verrey Bass 


Warum war sie so langsam? Und warum stieg sie hinten rechts aus statt links, auf der Hausseite? Sie kam endlich und hatte eine Schnur in der Hand, nein, eine Leine! Und was kam jetzt zum Vorschein? Ein Welpe, ein Berner Sennenhündchen.

Davon war doch nie die Rede gewesen! Mein Bruder berichtete, die Tochter habe sich so sehr einen Hund gewünscht, dass er ihr diesen Welpen vermittelte, als die Hündin seines Chefs einen Wurf hatte. Der Kleine war geimpft, entwöhnt, also im richtigen Alter für ein neues Zuhause. Wir mussten uns an den neuen Mitbewohner gewöhnen, aber das ging rasch und fast problemlos. Am schönsten war es am Wochenende. Da machten wir mit ihm ausgedehnte Spaziergänge. Er wurde ein grosser treuer Rüde. Ich bin überzeugt, dass er meine Worte verstand; also weit über die Befehle hinaus.

Ich erinnere mich gerne an diese Spaziergänge über Felder und durch Wälder, bei jedem Wetter. Der Spaziergang fing vor der Haustüre an. Corril war bestimmt ein glücklicher Hund, auch wenn er oft halbe Nachmittage im Garten verbringen musste. Das einzige Problem für mich waren die Zecken, die er immer wieder beim Spaziergang auflas. Die musste man dann mühsam mit einer Pinzette abdrehen und töten. Doch lieber das, als was meiner dritten Tochter passierte: Sie lag an einem schönen Sommertag im Garten auf einer Decke und las. Wenige Tage danach zeigte sie mir in der Lendengegend einen kreisrunden roten Flecken, der fast unter meinen Augen weiterwuchs. Je mehr sie über Kopfschmerzen und Übelkeit klagte, umso mehr ahnte ich, was es geschlagen hatte.

Ich packte sie mit den nötigsten Sachen in meinen Wagen und fuhr ins Kinderspital. Die Diagnose wie erwartet: Zeckenbisskrankheit oder Borreliose mit Entzündung der Hirnhäute, Meningitis genannt. Die Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit war positiv auf Borreliose. Sie erhielt sofort eine Infusion mit Antibiotika und innert Tagen ging es ihr besser. Was wäre passiert, hätten wir diese Antibiotika nicht gehabt? Was passierte mit den Menschen, die vor der Ära der Antibiotika an schwerer Krankheit litten?

Ich hatte als Siebenjährige 1946 eine schwere Lungenentzündung und Arzt und Familie erwarteten die «Krise» am neunten Tag. Überlebte man sie, wurde man gesund. Sonst starb man. Ich überlebte und durfte dafür zwei Tage später im Bette sitzend die Kleider meiner Puppe Victorine in einem kleinen Zuber waschen und an zwischen den Bettpfosten aufgezogenen dicken Schnüren zum Trocknen aufhängen.

Das Penicillin, das erste Antibiotikum, kam 1947 von Amerika nach Europa. Die Zeckenbisskrankheit trat aber erst so richtig ab den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf. Hier in der Gegend zuerst entlang der drei Seen. Aber langsam kamen die Zecken in die höher gelegenen Lagen. 1986 war also eine Zecke in unserem Garten auf 800 m Höhe. Möglicherweise von Corril eingeschleppt. Meine dritte Tochter erholte sich vom Schlimmsten dank der intensiven Antibiotikatherapie (die es so ohne Tierversuche nie gegeben hätte). Sie blieb allerdings noch lange müde, eine Art Long-Borreliose und leidet heute häufig unter Kopfschmerzen.

Corril wurde nicht sehr alt. Ab dem zehnten Lebensjahr litt er unter Atemnot und hatte beim Bergaufgehen Mühe. Reinrassige Hunde sind delikat. Der Tierarzt stellte die Diagnose einer Herzinsuffizienz und verordnete Digitalis und ein Mittel, um vermehrt Wasser auszuscheiden. Die Wirkung des Digitalis (gewonnen aus der Fingerhutpflanze) kennt man seit 200 Jahren! Der Tierarzt behandelte Corril, wie man in den 90er-Jahren einen Menschen mit einer Herzinsuffizienz behandelte, mit kleineren Dosen natürlich. Damit hatte Corril noch fast zwei gute Jahre. Aber dann verschlechterte sich sein Zustand innert Tagen. An seinem letzten Lebenstag musste ich nach Bern an eine Fortbildung. Mittags rief ich zu Hause an: «Doch es geht, er atmet ruhig, er liegt einfach draussen an der Sonne. Er scheint auf Dich zu warten!» Er hat oft in seinem Leben eindeutig auf mich gewartet. Einmal fand ich ihn abends im Dorf neben meinem Wagen. Er war zu Hause entwischt und – hatte mich gefunden.

Zu Hause angekommen war klar, dass wir nicht länger zuschauen konnten, sondern handeln mussten. 30 Minuten später waren wir für die Euthanasie beim Tierarzt, der langsam das tödliche Mittel spritzte, auch das aufgrund von Versuchen und Erfahrungen genau dosiert. Ich hatte keine Angst, dass er litt. Er lag da, voller Vertrauen in seinen braunen Augen, und schlief langsam und definitiv ein.

Tierversuche sind unabdinglich, aber gesetzlich streng begrenzt. Mit den naturwissenschaftlichen Fortschritten wird man sie laufend weiter reduzieren können.

Info: Françoise Verrey Bass ist 83 Jahre alt. Sie hat vier Kinder und acht Enkelkinder. Bis 2012 führte die studierte Neurologin in Biel eine Praxis. Sie ist bilingue und engagiert sich bei Pro Senectute für Altersfragen.


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