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Unplugged

Authentizität unter erschwerten Bedingungen

Seit fast 30 Jahren steht der Begriff «Unplugged» für Rock- und Popmusik mit akustischen Instrumenten. 
Das Format gibt es aber schon länger. Und wer hat es erfunden? Wie so vieles andere: Elvis Presley.

Bruce Springsteen hielt unplugged Residenz am Broadway. Bild: zvg / Rob de Martin

Nick Joyce

Eigentlich ist man es leid, immer wieder schreiben zu müssen, wie viel Popkultur auf Elvis zurückgeht. Und doch kann man den Einfluss des Lastwagenfahrers aus Tupelo nicht überschätzen. Elvis war es, der dem wilden schwarzen Rock’n’Roll ein schönes weisses Gesicht gab und durch seinen Reichtum zum Exempel für die soziale Mobilität wurde.

Umgekehrt dient Elvis angehenden Musikern bis heute als Anti-Idol: Wer nicht als Konsumwrack enden will, kann von Elvis’ Biographie viel lernen.

Vom B-Movie-Darsteller zum Musiker
1968 nahm Elvis eine Auftrittsform vorweg, die rund 20 Jahre später zum Trend avancierte. Die Rede ist vom Unplugged-Format, bei dem gestandene Musiker auf Elektrizität und Showelemente verzichten und authentische Musik im intimen Rahmen spielen. Auslöser für dieses Phänomen war die programmatisch betitelte Serie «Unplugged» (zu Deutsch: «ausgesteckt»), die 1989 beim damals mächtigen Musiksender MTV anlief. Zur Lancierung von «Unplugged» inspiriert hatte mitunter eine allgemeine Rückbesinnung auf die Folk-Musik der 60er-Jahre mit neuen Künstlerinnen wie Tracy Chapman, Melissa Etheridge und K.D. Lang.

Elvis führte früh vor, wie ein Unplugged-Auftritt funktioniert. Am 3. Dezember 1968 strahlte der amerikanische Fernsehsender NBC die Show aus, die als «’68 Comeback Special « in die Musikgeschichte eingegangen ist. Mit der einstündigen Sendung positionierte sich Elvis nach vielen Jahren als B-Movie-Darsteller wieder als Musiker. Kernstück dieser Rehabilitierung war der Auftritt mit Scotty Moore und D.J. Fontana, zwei Weggefährten aus Elvis’ Anfangszeit in Memphis.

Für diese Wiedervereinigung liess Elvis das Studiopublikum ganz nah an sich heran und rollte nach anfänglichem Zögern sein ganzes Charisma aus. Zu sehen und zu hören ist das alles auf der im Dezember erschienenen Jubiläumsedition.

Annie Lennox musste zweimal
So intim wie dieser Vorläufer wirkten die Unplugged-Konzerte von MTV nicht. Den Machern war das fertige Produkt immer wichtiger als das Konzerterlebnis des Live-Publikums. Das bekam Annie Lennox 1992 am Jazzfestival Montreux zu spüren, wo MTV Gastrecht hatte. Weil ihr Auftritt im alten Casino die Unplugged-Produzenten nicht begeistert hatte, musste Lennox ihr ganzes Programm ein zweites Mal durchlaufen. Sie scheute nicht davor zurück, ihren Zorn über die ungewollte Reprise zu zeigen. Der Musik kam dies aber zugute.

Die Unzufriedenheit vieler Künstler und Künstlerinnen, die sich zu MTV-Marionetten degradiert fühlten, ist Claude Nobs nicht entgangen. Nach wenigen Jahren beendete er die Partnerschaft mit MTV. Durch die Kündigung verlor das Festival zwar an medialem Prestige, dafür gewannen die Konzerte im neuen Kongresszentrum Montreux an Qualität.

Trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen Unplugged-Shows von MTV aufgezeichnet wurden, gelangen einigen Künstlern musikalische Glanzleistungen. Rod Stewart zeigte im Sitzen, was für ein grossartiger Rock-Sänger er sein kann, wenn er gerade nicht den Stadion-Dandy spielt. Eric Claptons Unplugged-Interpretation von «Layla» mutierte zu seiner neuen Erkennungsmelodie. Zusammen mit einem ägyptischen Streichorchester gewannen Jimmy Page und Robert Plant den Songs ihrer alten Band Led Zeppelin neue Färbungen ab.

Mit Unplugged unterminierte MTV einen Negativtrend in Musikgeschäft, den der Sender selber zu verantworten hatte. Weil MTV Anfang der 80er-Jahre zum wichtigsten Portal für Musik avanciert war, gaben Plattenfirmen immer mehr Geld für aufwendige Videoclips aus. Die Maxime lautete: Je auffälliger der Clip, desto grösser die Chance, dass er in die Heavy Rotation kommen würde. Ob die Musiker tatsächlich singen und spielen konnten, war oft Nebensache. Dafür war der schnelle Aufstieg der Playback-Band Milli Vanilli exemplarisch.

Wie weit musikalisches Handwerk und öffentliches Image in der Video-Ära auseinanderklafften, brachte der New Yorker Produzent Nile Rodgers 1993 im Gespräch auf den Punkt. Auf die Frage, was für Musik ihn in letzter Zeit begeistert habe, erzählte Rodgers vom Unplugged-Auftritt der Popband Duran 
Duran. «Nick Rhodes hat seine Keyboards alle selber gespielt», sagte Rodgers mit unfreiwilligem Humor. «Ich fand das schlicht wunderbar.»

Nirvana spielten Obskures
Mit Konzerten von deutschen Musikern versuchte MTV ganz klar, seine Stellung im deutschen Musikmarkt zu festigen. Herbert Grönemeyer, Sido und Die Ärzte haben alle schon unplugged für MTV gespielt, Die Fantastischen Vier und Udo Lindenberg sind sogar mehrmals in Rahmen der Serie vor die Kameras getreten. Lindenbergs neues Unplugged-Album «Live vom Atlantik», ist gerade erschienen. Der Titel spielt auf das Hamburger Hotel «Atlantic» an, wo Lindenberg bekanntlich Dauergast ist. Eingespielt wurde das Album allerdings live in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel.

Einige Episoden von MTV Unplugged haben geradezu historische Wichtigkeit erlangt. Im November 1993 strahlte MTV die Unplugged-Session der Grunge-Band Nirvana aus. Überraschend spielte das einflussreiche Trio vor allem obskures und fremdes Songmaterial. Das gab dem Auftritt Stimmigkeit und auch Dringlichkeit. Zusätzliche Bedeutung erhielt die Sendung im Frühjahr 1994, als Kurt Cobain Selbstmord beging. Sie schien den Anfang vom Ende für den störrischen Star zu markieren.

So populär war MTV Unplugged Mitte der 90er-Jahre, dass viele Musiker Passagen mit akustischen Instrumenten in ihre regulären Konzerte einbauten – oder ganze Tourneen unplugged bestritten. Die Schweizer Rockband Gotthard sprang 1997 auf diese Welle auf und landete mit dem Unplugged-Album «Defrosted» ihren grössten kommerziellen Erfolg. Nun hat sie mit «Defrosted 2» einen Nachfolger vorgelegt (siehe Interview unten).

Über das Unplugged-Format liessen sich ganze Karrieren kaltstarten. 1994 fanden sich die lange verfeindeten Mitglieder der kalifornischen Eagles zu einem Wiedervereinigungskonzert mit akustischen Instrumenten zusammen, aus dem sich ein bis heute anhaltendes Comeback entwickelte. 1995 positionierte sich Bruce Springsteen mit Akustik-Konzerten in kleinen Hallen als Folksänger und Geschichtenerzähler in der Tradition von Woody Guthrie und Pete Seeger. Jüngst griff Springsteen auf dieses Format zurück: Zwischen Oktober 2017 und Dezember 2018 hielt er eine umjubelte Residenz am Walter-Kerr-Theater in New York. Auf dem programmatisch betitelten Livealbum «Springsteen On Broadway» wirkt er allerdings etwas steif. Seiner One-Man-Show mit vielen Passagen aus der 2016 erschienenen Autobiographie «Born To Run» fehlt es an Spontaneität und Lockerheit.

MTV in der Sinnkrise
Seit der Jahrtausendwende hat MTV Unplugged an Wichtigkeit verloren, liessen sich die ganz grossen Namen nicht mehr so leicht vor die Kameras locken. Dazu kommt, dass MTV in eine Konzeptkrise geraten ist. Viel Musik sieht und hört man beim ehemaligen Musikkanal nicht mehr, was auch verständlich ist. Streaming-Plattformen wie Youtube haben dem einstigen Marktführer unter den Musikportalen das Publikum abgegraben. Wer die Videos seiner Lieblingskünstler sehen will, ist nicht mehr auf MTV angewiesen. Heute kann man Musik dann hören und sehen, wann man will – das gilt übrigens auch für einige Passagen aus MTV Unplugged.

Info: Elvis Presley: «’68 Comeback Special 50th Anniversary Edition» (Sony Music). Udo Lindenberg: «MTV Unplugged 2: Live vom Atlantik» (Warner Music). Bruce Springsteen: «Springsteen On Broadway» (Sony Music), der gleichnamige Dok-Film läuft auf Netflix.

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