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Therapie

Borderline: Die Gratwanderung

Eine begabte, temperamentvolle und freiheitsliebende junge Frau schafft es nicht mehr, ihr Leben zu meistern. Sie stirbt. Warum konnte ihr niemand helfen?

Das Gefühl, sich auf einem Grat zu bewegen. "Die rote Kavallerie" von Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, entstanden 1928 bia 1932. Bild: zvg

Regula Gilg


Borderline ist unter den Persönlichkeitsstörungen die häufigste. Die Betroffenen leiden unter Impulsivität und haben Mühe, mit ihren stets wechselnden Gefühlen fertig zu werden, was sich auch erschwerend auf ihre zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Sie können für ihre soziale Umgebung eine grosse Herausforderung sein, schwer zu fassen mit ihren Stimmungsschwankungen und ihrer Masslosigkeit. Oft werden sie als manipulativ wahrgenommen anstatt als seelisch verletzlich und krank erkannt. Häufig kommen andere Störungen hinzu wie Depressionen, Essprobleme oder Abhängigkeitserkrankungen. Die Suizidalität ist verglichen mit jener der Normalbevölkerung doppelt so hoch, und mehr als 60 Prozent der Betroffenen begehen Suizidversuche.


Von einer Brücke springen und nie mehr erwachen
Soraja*, eine temperamentvolle junge Frau mit dunklen, wachen Augen, wirkt auf den ersten Blick selbstbewusst. Sie ist intelligent, kann sich gut ausdrücken und offen über sich und ihre Schwierigkeiten reden. In der Oberstufe wird sie über den schulpsychologischen Dienst zu einer Therapie überwiesen, nachdem sie sich in ihrer seelischen Not der Schulpsychologin anvertraut hat.
Zu Hause gab es viel Streit. Soraja fühlte sich vom Stiefvater abgelehnt und von der psychisch kranken Mutter unverstanden. Diese würde sie mit strengen Ausgangsregeln in ihrer Bewegungsfreiheit stark einschränken. Auch in der Schule erlebte sie immer wieder Enttäuschungen: zu wenig Beachtung von und Eifersucht auf Kolleginnen, die mehr im Mittelpunkt standen als sie.
Wenn sie einsam und verzweifelt sei, stelle sie sich vor, wie sie mit ihrer besten Kollegin, die in einem Heim wohne, mit der sie manchmal kiffe und schon Partydrogen konsumiert habe, an einem ausgewählten schönen Ort von einer hohen Brücke springe, um nie mehr zu erwachen. Und vor allem denke sie sich aus, wie die anderen Kolleginnen dann um sie trauern würden.
In den Therapiegesprächen realisiert Soraja, dass sie nicht sterben will, dass sie einfach Zustände von Einsamkeit und Verzweiflung nicht aushalten kann. Sie möchte eigentlich mit ihren Kolleginnen zusammen sein und Spass haben am Leben. Für ihre Zukunft hat sie Ziele: ein Handelsdiplom erlangen, einen guten Beruf erlernen und später eine Familie gründen mit Kindern, die es besser hätten als sie.


Gemeinsam mit der Psychologin wird ein Notfallplan erstellt für Krisensituationen. An wen sie sich in Not wenden kann, zum Beispiel an erwachsene Helferpersonen, an die Psychotherapeutin und die Schulpsychologin. Daneben vermehrt die Freizeit mit Kolleginnen verbringen.
 

Abschiedsbriefe und 
der Gang zu den Gleisen
Auf eine unbeschwerte Zeit folgt erneut eine heftige Krise: Auseinandersetzungen mit der Mutter, und ein guter Schulkollege beendet die Freundschaft mit ihr wegen ihrem Hasch- und Alkoholkonsum.
Soraja beschliesst in ihrer Verzweiflung, sich das Leben zu nehmen. Sie schreibt Abschiedsbriefe an Kolleginnen und verlässt unbemerkt abends das Elternhaus. Als sie nicht zurückkommt, alarmiert die Mutter die Polizei. Soraja wird frühmorgens gefunden, wie sie den Bahngleisen entlang geht. Sie ist körperlich unversehrt. Nach diesem Vorfall wird Soraja zu ihrem Schutz für kurze Zeit in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert.

Die Befreiung
 aus der Traurigkeit
Danach wollte sie nicht mehr zurück in ihre Familie und erklärte sich einverstanden für die Aufnahme in eine sozialpädagogische Institution nahe der Schule. Auch ihre Psychotherapie setzte sie fort.
Es ging darum, sich aus lähmenden Traurigkeiten zu befreien und mehr zu innerem Gleichgewicht zu finden. Soraja sprach gut an auf imaginäre Hypnoseverfahren. Wie es denn in ihrem Inneren aussehe in deprimierten Zuständen, fragt die Therapeutin. Da sei viel Grau und Schwarz, das laste und mache so empfindungslos. Ob es auch noch etwas anderes gebe?  Da sei eine kleine flackernde Flamme, die immer zu erlöschen drohe. Die Psychologin fordert Soraja auf, die Flamme mit ihren Händen zu beschützen. Was macht die Flamme? Sie wärmt den Körper von innen und erhellt die graue Umgebung.
Im Gespräch danach berichtet Soraja lebendig, dass sie eigentlich viel Positives erlebe: Sie habe gute Kolleginnen um sich und sei nicht allein; und in der Schule sei es auch cool, da würden sie ein Theater einstudieren zum Schulabschluss, das mache Spass und sie freue sich darauf.
Soraja lebt wieder auf und hat eine stabilere Phase. Im Theaterstück «Carmen» erhält sie die Hauptrolle. Die Carmen sei eigenwillig, voller Lebenslust und freiheitsliebend, das entspreche ihr. Sie setzte sich total ein und wurde von ihren Kolleginnen bewundert und, wie sie schelmisch sagte, sogar auch ein bisschen gefürchtet.


Neue Probleme und das Abgleiten in die Drogen
Die Berufsausbildung packte Soraja mit Elan an, sie fand gut Anschluss in der Klasse. Dann kamen erste Schwierigkeiten im sozialpädagogischen Foyer. Soraja hielt sich nicht an die Regeln, blieb nach der Schule weg und geriet immer mehr in Drogenkreise. Sie musste deswegen die Institution verlassen und für kurze Zeit wieder zurück ins Elternhaus. In dieser schwierigen Zeit liess sie sich zu einer zusätzlichen Begleitung in einer Drogenberatungsstelle motivieren. Sie wollte wegkommen von den Drogen, aber ohne stationären Entzug, zu dem ihr dringend geraten wurde.


Noch nie jemandem
so nahe gestanden
Sie besuchte weiter die Schule und nahm auch Drogen, um sich besser zu konzentrieren, wie sie sagte. Die Covid-19-Pandemie befreite sie von den Abschlussprüfungen, und sie konnte die Schule erfolgreich beenden. Danach wollte sie einen Neuanfang machen. In einer anderen Stadt fand sie ein Berufspraktikum und auch eine sozialpädagogisch begleitete Wohngemeinschaft.


Durch ihre Wohnpartnerin lernte sie einen seelenverwandten Kollegen kennen. Noch nie sei ihr ein Mensch so nahegestanden, auch er hatte eine belastete Vergangenheit und Drogenprobleme. Mit ihm zusammen wollte sie den Weg aus den Drogen schaffen. Mit ihm habe sie ihren schönsten Geburtstag gefeiert.


Noch in der Probezeit wurde Soraja der Praktikumsplatz gekündigt, nicht aufgrund mangelnder Fähigkeiten, sondern wegen der vielen Absenzen.
Sie rappelte sich wieder auf, fasste neuen Mut und liess sich zu einem betreuten Wohnen für Lernende mit Drogenproblemen bewegen, auch war sie motiviert für ein neues Praktikum.


Ein letzter Termin,
 doch dazu kommt es nicht
In der Psychotherapie war noch ein Termin vereinbart, Soraja wollte berichten, wie es jetzt bei ihr weitergehe, beruflich und privat. Doch dazu kam es nicht mehr. Soraja wurde in ihrem Zimmer tot aufgefunden, zusammen mit ihrem Freund. Er befand sich im Drogenrausch, Soraja lag neben ihm, als ob sie schliefe.


Fragen tauchen auf: Warum konnte Soraja nicht geholfen werden? Haben Therapeutinnen, Beraterinnen, sozialpädagogische und schulische Fachpersonen versagt? Oder anders gefragt: Warum konnte Soraja die angebotene Hilfe nicht nutzen?


Sorajas Leben war eine Gratwanderung. Sie war nicht zu fassen und liess auch kaum jemanden ganz an sich heran. Bis zuletzt hat sie ihren unbändigen Freiheitsdrang gelebt. Für alle, die Soraja ins Herz geschlossen haben, wird sie in lebendiger Erinnerung weiterleben.


*Name der Redaktion bekannt

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