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Berlin

Das letzte Stück 
Wildnis

Fernweh-Autor Donat Blum wohnt neben dem Mauerpark, den er bereits vor 20 Jahren als Tourist besucht hatte. 
Der Ort war mal Stadtacker, mal Todesstreifen. Heute kann man wieder von einem echten Park sprechen.

Berlinerinnen und Touristen geniessen das warme Wetter im Mauerpark. Bild: Keystone
  • Dossier

Donat Blum

Und noch heute sind heterosexuelle Schweizer Pärchen um die 20, die vor unserer Wohnung Richtung Mauerpark ziehen, der erste Hinweis auf verlängerte Feiertage, auf anstehende Osterferien oder Pfingsten. Mit einer analogen oder auf analog getrimmten digitalen Fotokamera biegen sie in die Kastanienallee ein, durchqueren die Oderberger Strasse mit ihren einst besetzten und heute maximal gentrifizierten schmucken Häusern und lichten am Eingang zum Mauerpark ein kaputtes Fahrrad ab, bevor sie ihr Objektiv auf die zu einer Übungsfläche für Sprayer umfunktionierten Mauerreste am Rande des Parks richten.

 

Berlin in der Prä-Influencer-Zeit

Street Art und Street Fashion waren in den Nuller-Jahren mega en vogue. Und der analoge Mauerpark der perfekte Nährboden dafür. Manch eine, manch einer, stellte die Fotos nach dem Besuch auf den eigenen Blog. Das Wort Influencer, wie wir es heute alltäglich gebrauchen, war noch nicht etabliert. Geld machen liess sich, als Myspace von Facebook abgelöst wurde, mit dem Bloggen noch nicht. Oder nur, wenn mensch dank dem digitalen Portfolio von einer analogen Zeitschrift wie dem gemeinsam von 20-Minuten und Tillate 2008 lancierten «Friday» abgeworben wurde.

Wenn mensch fürs Bloggen belohnt wurde, dann höchstens mal mit Kleidern, die einzelne Labels zu Werbezwecken zur Verfügung stellten und Gästelistenplätze bei dieser oder jener Berner oder Zürcher Party, die die Berliner Szene zu kopieren versuchte. Zumindest war das bei dem einen Berner Blogger so, den ich damals datete, dem ich mein Facebook-Profil verdanke und der heute in Berlin lebt und Models rekrutiert.

Aber zurück zum Mauerpark.

Eigentlich greift die Bezeichnung «Park» zu hoch. Zumindest tat sie das, bis vor wenigen Monaten die Erweiterung eröffnet wurde. Davor war das Gelände ein historischer Flickenteppich. Und ist es weitgehend noch immer. Aber kein sorgsam arrangierter Quilt, sondern ein hastig zusammengenähter Teppich aus alten Stoffresten. Mitten durch das Arrangement verläuft wenig symmetrisch und völlig unpraktisch eine Pflasterstrasse. Die flache Hauptwiese, von zigtausenden Menschen zertrampelt, gleicht einem je nach Saison vertrockneten oder versumpften Acker. Und auf dem Hang, dem Schutzwall, der den Park heute von dem anliegenden Stadion Ludwig-Jahn-Sportpark abgrenzt, liegen mindestens so viele Bierkorken und Zigarettenstummel rum wie Grashalme wachsen.

Und trotzdem oder gerade deswegen strotzt der Park vor Charme. Er ist das letzte Stück Wildnis in dem sonst schweizerisch perfekt durchorganisierten Prenzlauer Berg. Keine auf dem Reissbrett entworfene Naherholungsfläche, sondern ein gewachsenes Stück städtische Identität.

 

Wo das Volk rebellierte

Die Pflasterstrasse ist eines der Überbleibsel aus der langen Geschichte des Parks, der vom Acker zum Exerzierplatz, zum Bahnhof und schliesslich zum Todesstreifen wurde.

Auf dem Exerzierplatz, neben dem damaligen Nordbahnhof gelegen, übte das preussische Militär Habachtstellung, und während der Märzunruhen im Jahr 1848 versammelten sich auf ihm 20 000 Arbeiter und Arbeiterinnen, für die damalige Zeit eine riesige Menschenmenge, und forderten vom preussischen König Friedrich Wilhelm IV. geregelte und kürzere Arbeitszeiten, höhere Arbeitslöhne an Sonn- und Feiertagen und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht.

Ab 1892 trainierte auf dem Platz der neu gegründete Fussballclub Hertha BSC. Und bereits um 1900 beklagten sich Anwohnerinnen und Anwohner über den Lärm, der entstand, weil sich auf dem frei zugänglichen Gelände Menschen aller Art trafen. Mit der Zeit wurde der Personenbahnhof zum Güterbahnhof, der bis 1970 von West-Berlin betrieben wurde, während die freie Fläche zum hell erleuchteten Todesstreifen mutierte, der DDR-Bürgern die Flucht verunmöglichen sollte.

Die DDR errichtete zahlreiche Wachttürme im «Park» und baute gleich drei Mauern. Und auf West-Berliner-Seite wurde am Ende der heutigen Schwedterstrasse ein Aussichtsturm aufgestellt, der Westberlinern und Westberlinerinnen einen Blick 
rüber in den Osten erlaubte.

 

Giesst Ost oder West die Pflanzen?

Die Teilung in Ost und West blieb im Park bis vor zwei Jahren offensichtlich. Ein Maschendrahtzaun trennte die Industriezone, die zum einzigen West-Bezirk Wedding gehörte, von der Brache und ehemaligen Todeszone, die seit der Wende von einem Nachbarschaftsverein zum Park mit Karaoke und Flohmarkt umfunktioniert wurde und zum Kiez Prenzlauer Berg beziehungsweise zum Bezirk Pankow gehörte.

Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die beiden Bezirke zusammenraufen konnten, die nachhaltige Planung des Mauerparks gemeinsam in Angriff zu nehmen und sich zu einigen, wer in Zukunft die Pflanzen giessen soll. Genaugenommen bis im Juni 2020. Mitten in der Pandemie kam der Maschendrahtzaun weg, und bis auf die für den Flohmarkt gepflasterten Flächen wurde die einstige Industriezone zu einem Park, der nun auch den Namen verdient.

Das Schöne dabei: Der neue Park hat den alten wilden Teil nicht ersetzt, sondern mit einem auf dem Reissbrett gestalteten Pendant ergänzt und damit die Parkfläche verdoppelt. So werden Schweizer Ausflügler auch in Zukunft am Sonntagnachmittag die Spuren des Berliner Street-Lifes im weitgehend selbstverwalteten Mauerpark fotografieren und in der Stein-Arena Karaoke singen können.

Während wir anderen am Abend auf einer Wiese, die den Namen verdient, die Stimmung nach dem Ansturm geniessen können, als wäre es der letzte Tag eines Festivals, das mit einzelnen afrikanischen Trommeln und leiser werdendem Stimmengewirr gemächlich ausklingt. Und das jede Woche von Neuem.

Stichwörter: Fernweh, Berlin

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