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Atlantik

Den Winden und Walen getrotzt

Mit einer Hochsee-Crew wagt sich Sascha Biedermann aus dem Mittelmeer hinaus in den grossen weiten Atlantik. Die Überfahrt zu den Kanaren ist beileibe nicht ungefährlich – zumal ein Schlägertrupp an Orcas die Gewässer unsicher macht.

Glücklich und erleichtert: Nach vier Tagen auf dem offenen Meer erreichen Sascha Biedermann und seine Crew wohlbehalten die Kanaren. Bild: Sascha Biedermann
  • Dossier
Sascha Biedermann
 
Nach fast 30 Stunden Überfahrt nimmt der Wind stetig zu, je mehr wir uns den Balearen nähern. Mit 13 Knoten auf der Speedanzeige halsen wir unseren überladenen Katamaran Ahora ums Eck und drehen in eine der überfüllten Buchten von Menorca ab. Ähnlich wie die Liegestühle an einem Hotelpool am Ballermann liegen hier die Boote vor Anker. Platz hat es noch für eine Luftmatratze. Trotzdem quetschen wir unsere 8,6 Meter breite Ahora in eine Lücke, setzen den Anker und gönnen uns die wohlverdiente Siesta. 
 
So haben wir uns das Leben in der Natur nicht vorgestellt. Die einst geplanten zwei Monate Ibiza-Groove mit «Cafe del Mar» haben wir aufgrund des äusserst heissen Wetters im Mittelmeer schon vor einiger Zeit drastisch gekürzt. Denn bei zu grosser Überhitzung können Anfang Herbst sehr starke und nicht klar vorhersehbare stürmische mediterrane Winde auftreten. 
 
Fasziniert von der malerischen Hafenstadt Mahon, wo Karins Geburtstag gebührend mit allen Sinnen zelebriert wird, segeln wir weiter, um mit Ingo, unserem Besuch aus Deutschland, von Insel zu Insel zu hoppen. Entschlossen verabschieden wir uns dann auch schon wieder von den schönen aber zu überfüllten Buchten in Richtung Atlantik. Wie uns mitgeteilt wird, räumt drei Tage nach unserer Abreise schon der erste überraschende Sturm zahlreiche Boote auf die malerisch geformten Felsen von Ibiza.
 
Süsse Wale werden zu Angreifern
Erleichtert ziehen wir an den monotonen Hotelanlagen und den riesigen Plantagen der Costa del Sol vorbei, während parallel die Planung für die erste grössere Überfahrt von Gibraltar nach bella Lanzarote auf den Kanarischen Inseln intensiv im Gange ist. 
 
Auf der einen Seite hoffe ich auf ein gemässigtes Windfenster mit befahrbaren Strömungen ohne Nebel im oft sehr stürmischen Kanal von Gibraltar. Andererseits sind da noch die Orcas. Richtig! Die zur süssen und sanften Familie der Delfine gehörenden Killerwale greifen vermehrt Segelboote an. In dieser Gegend gibt es bis zu drei Attacken pro Tag auf die doch äusserst wichtigen Ruder. In einigen Fällen wurde anscheinend auch die Halterung der Schiffsschraube abgerissen. Dies würde für uns den wortwörtlichen Untergang bedeuten. Man stelle sich eine Rettung vom grossen, harten und geliebten Boot auf die kleine aufblasbare Rettungsinsel vor, während fünf Tonnen schwere, robbenfressende Säugetiere Spass daran haben, Schwimmendes auseinanderzunehmen. Nicht mit Säschu! In meinen Recherchen sehe ich so einige Filme auf Youtube, die ich besser nicht gesehen hätte und informiere mich auf diversen Plattformen über das ernst zunehmende Thema. Angst ist wie immer ein sehr schlechter Ratgeber und mit brauchbaren Informationen der Orca-Forschungsorganisationen ist anscheinend nicht zu rechnen. 
 
Immer auf der Hut
Trotzdem laufen wir mit so etwas wie einem zusammengeschmiedeten «Savety Plan», klarerem Überblick und guter Hoffnung in Málaga ein. Hier macht meine Karin mit Freude Platz für die langersehnte Hochsee-Crew und nimmt den für sie gemütlicheren Luftweg auf die Kanaren. Die für mich absolute 1A-Equipe besteht aus Leo, dem 75-jährigen Segler aus Holland, Aron, dem Boss der angesehenen Scheurer Bootswerft aus Biel und David alias Paps, einem langjährigen Windsurfkumpel, der ebenfalls aus der Heimatstadt anreist. 
 
Kaum auf der Ahora angekommen und noch nicht einmal fertig eingenistet, wird über alles informiert. Auch darüber, dass es in der kommenden Woche nur einen möglichen Zeitpunkt gibt, durch den Kanal zu kommen. Der ist morgen früh. Nichts ist mit der versprochenen Angewöhnungszeit. Strömungen, Winde und das Wetter passen nur jetzt – dafür perfekt – um am Abend im schönen Tarifa rechtzeitig und heil anzukommen. 
 
Dort ist unser Ankerplatz, wo wir ein letztes Mal checken, ob jemandem die Lebensmittel aus dem Kopf fallen oder wirklich alle seefest startklar sind, bevor wir vier Tage und 600 nautische Meilen unterwegs sein werden. Also legen wir vor Sonnenaufgang ab und fahren alle mit einer riesen Vorfreude auf das kommende Abenteuer aus dem Hafen vor Malaga. Die neusten Aufzeichnungen der Orca-Angriffe deuten darauf hin, dass der fiese Schlägertrupp eher in Richtung Norden zieht. Trotzdem schlängeln wir uns in sicher geglaubten seichteren Gewässern der Küste entlang bis zum Kitesurf-Mekka Tarifa. 
 
Für Wassersport bleibt jedoch keine Zeit, denn auch hier stimmt das meteorologische Timing perfekt für die Abreise am nächsten Morgen. In Biel lasse ich noch meine Wettervorhersage vom alten Seebär Adi absegnen. Dann machen wir klar Schiff und ziehen früh im nebligen grauen Morgen den Anker hoch. Mit den noch schwachen Winden drücken wir uns mit Motor durch die starken Strömungen. Die Iberische Halbinsel und Afrika verschwinden langsam am Horizont und die letzten Whatsapps werden noch kurz geschrieben. Jetzt fängt alles an und die Zeit bleibt stehen.
 
Alle haben unterschiedliche Beweggründe für diese Reise. Paps, beruflich abhängig von Wifi, freut sich auf das offene Meer ohne Internet und braucht die Seemeilen für seinen Hochseeschein. Aron wollte eigentlich nur eine Woche zum Kitesurfen auf die Ahora, hat sich als Hochseeanwärter jedoch umentschieden, um bei der für uns alle mehr oder weniger neuen Erfahrung dabei zu sein. Der für sein Alter topfite Leo wünscht sich, vor seinem Ableben auf die Kanarischen Inseln zu segeln, und macht den Eindruck, als sehe er das Ganze als eine ruhige Pilgerreise, ohne den wichtigen Humor zu vergessen. Ich freue mich hauptsächlich auf den Horizont, die Herausforderung und das sicher etwas andere Zeitgefühl. Der endlose Horizont macht einem deutlich klar, wie gross und wie wichtig man auf dieser Kugel wirklich ist.
 
«Hast du die Rückenflosse gesehen?»
Die ersten Nachtschichten sind vorbei, alle kommen mit den Navigationsgeräten klar und an den mächtigen Containerschiffen vorbei. Und es sind viele. Als die anderen zwei ihren wohlverdienten Schlaf am Morgen nachholen, sitzen Paps und ich bei unserer täglichen Philosophiestunde auf Deck, als plötzlich zirka eine halbe Meile vor unserem Bug zahlreiche Wasserfontänen aus dem Meer pusten. Voller Freude schreit Paps: «Wale! Das sind Wale!» 
 
Während ich den Feldstecher in die Hand nehme, frage ich ihn: «Hast du schon die Rückenflosse gesehen, und ob der Rücken schwarz ist?» Deutlich weniger euphorisch nehmen wir die Segel im Eiltempo runter und beobachteten aufmerksam die anscheinend grosse Familie, bis wir sicher sind, dass es wirklich Wale und nicht Orcas sind. Mit einer schwer beeindruckten inneren Ruhe geniessen wir den Anblick der mächtigen Tiere auf dem offenen Ozean, bis sie hinter uns in die dunkle Tiefe abtauchen. 
 
Die Reise entwickelt sich philosophischer als erwartet. Sodass ich von jedem etwas Bedeutendes mitnehmen kann. Die bis anhin einfach nur grosse Distanz hat ein Gefühl mit der Vorstellung erhalten, dass die Welt messbarer geworden ist. Der Faktor Zeit hat ausgeschmückten Raum bekommen, und seit wir unterwegs sind, fühlt es sich mehr wie ein langer Tag an, ein vertieft intensiver ohne Handy und Ablenkung. Nur sein. Ein Sein, das ich eher von früher kenne. 
 
Nach vier bereichernden Tagen lassen wir schliesslich den Anker in Famara auf Lanzarote in das glasklare und stahlblaue Wasser hinunter. Und jetzt kommt, worum sich im Leben wirklich alles dreht: Es hat Wellen! Erst nach ein paar enorm befriedigenden und erfrischenden Wellenritten ist die Mission wirklich abgeschlossen, wird darauf angestossen und von jedem eine obligate Cohiba aus der Kiste für erfüllte Pläne genüsslich verglüht.
 
Auf meine Frage, was denn der schönste Moment der Reise gewesen sei, antwortet Leo mit seiner üblichen Selbstverständlichkeit: «Jetzt. Es ist immer jetzt. Ahora!» Danke well und Gracias Ahora!
Stichwörter: Atlantik, Balearen, Fernweh

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