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Robinson Crusoe

Der erfolgreichste Selbstversorger der Welt hat was zu feiern

Robinson Crusoe wird dieses Jahr 300 Jahre alt. Die Begeisterung für das Buch und den «Einsame-Insel-Mythos» ist ungebrochen. Einzig im katholischen Bündnerland des 19. Jahrhunderts wurde die Geschichte abgelehnt.

  • 1/10 Robinson Crusoe von Daniel Defoe und P. Rinderknecht, erschienen 1967 im Silva-Verlag Zürich. Bild: zvg
  • 2/10 Schallplatte von Robinson Crusoe, neu erzählt von Gertrud Loos. Bild: zvg
  • 3/10 Französisches Hörbuch. Bild: zvg
  • 4/10 Die Robinson-Bibliothek in Rapperswil-Jona besitzt über 4000 Robinsonaden in rund 50 Sprachen. Bild: zvg
  • 5/10 Miss Robinson Crusoe, London, um 1902 - ein Kinderbuch mit weiblichen Robinson. Bild: zvg
  • 6/10 Ein Fernseh-Vierteiler von 1964. Bild: zvg
  • 7/10 Rätoromanische Ausgabe: Il salvamaint da Robinson OSL, Zürich, 1951. Bild: zvg
  • 8/10 Schiffbruch im Sturm (aus Robinson Cruose, Daniel de Foe, London, 1862). Bild: zvg
  • 9/10 Improvisierter Schiffbau (aus Adventures of Robinson Crusoe, D. Defoe, Boston, 1854). Bild: zvg
  • 10/10 Handwerkliches Geschick (aus Robinson Crusoe, Silva-Verlag Zürich, 1967). Bild: zvg
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Heini Hofmann

Mit dem Begriff Robinson verbinden sich neben Alltagsentrückung, Einsamkeit, Naturverbundenheit, Abenteuerlust, Gefahrenüberwindung und Selbstbehauptung auch Tropenparadies und Südseeromantik. Kurz, die Heilmittel der modernen Stressgesellschaft. Deshalb haben Robinson-Spielplatz und Tourismus-Slogan «Reif für die Insel» kein Ablaufdatum.
Legenden über Schiffbrüchige sind so alt wie die Seefahrt, und das Interesse bei Jung und Alt ob solcher Abenteuerromantik dauert nun bereits seit neun Jahrhunderten an. Denn bereits der «Ur-Robinson» von Philosoph Ibn Tufail handelt von einem Inselschicksal eines von einer Gazelle gesäugten Kindes im arabischen Kulturraum des 12. Jahrhunderts.

Selkirks wahre Geschichte
Überliefert sind auch wirkliche Ereignisse, zum Beispiel die Geschichte des schottischen Matrosen Alexander Selkirk, der wegen Ungehorsams auf einer Pazifikinsel ausgesetzt wurde, wo er vier Jahre und vier Monate überlebte, bevor er nach England zurückkehrte. Doch der heutige Begriff Robinsonade basiert auf dem 1719 erschienenen Welthit «Das Leben und die höchst merkwürdigen Abenteuer des Robinson Crusoe», angeblich «von ihm selbst geschrieben».
In Tat und Wahrheit stammt dieser Best- und Longseller, bei dem sich Nachdrucke, Raubkopien und Plagiate nur so jagten, von Vielschreiber Daniel Defoe (1660-1731, siehe Seite 22), der des Öfteren anonym publizierte. Sein Robinson, den er im Alter von 59 Jahren schrieb, ist ein erfundener und teils plagiierter Papierheld, was aber, weil das Buch spannend aus der Ich-Perspektive verfasst ist, niemanden zu stören scheint.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               28 Jahre, 2 Monate, 19 Tage 
Geboren ist Defoes Romanheld 1632 in York in Mittelengland. Der Vater ist Kaufmann und entstammt der alten Bremer Seefahrerfamilie Crusoe. Die Mutter trägt den angesehenen Namen Robinson, den er als Vorname erhält. Er soll Rechtsanwalt werden und das Geschäft des Vaters übernehmen. Doch er will lieber zur See fahren. Unter Tränen beschwört ihn der Vater vergeblich.
Ohne Abschiedsgruss geht er 27-jährig an Bord eines Frachters, gerät in Seenot und strandet als einziger Überlebender am 30. September 1659 auf einer tropischen Insel. Obschon sich später verschiedene Eilande als authentische Robinson-Insel zu profilieren versuchen, ist die Frage nach der «echten» obsolet. Denn Defoe vermischte Plagiateinflüsse und reine Fiktion geschickt, wie Literaturkritiker Georg Sütterlin aufgrund seiner Recherchen zur Inselfrage feststellt.
Auf der Insel beginnt für Robinson die grosse Überlebensübung: Höhlenbezug, Hüttenbau mit Schutzpalisade, Ernährung als Sammler und Jäger, Herstellung von Kleidung, Korbwaren und Werkzeug, Bootsbau und Getreideanbau sowie Kreation eines Kerbkalenders für die Zeitrechnung. Dann die Entdeckung rätselhafter Fussabdrücke, Kannibalen-Begegnungen, Befreiung von Freitag und dessen «Schulung und Erziehung».
Schliesslich die ominöse Rettung durch ein Piratenschiff und – nach 28 Jahren, 2 Monaten und 19 Tagen Inseldasein – Rückkehr am 19. Dezember 1687, im Alter von 55 Jahren, nach England mit Happy End im Familienkreis. Die Moral von der Geschicht’: Aus einem ungehorsamen jugendlichen Durchbrenner und Taugenichts wurde im harten Überlebenskampf ein gereifter, erfolgreicher Mann – soweit die Robinson-Geschichte im Zeitraffer.

Die historische Brille
In ursprünglichen Fassungen ist der Welthit Robinson Crusoe – abgesehen von der altertümlichen Sprache und den oft epischen Längen moralischer und religiöser Erziehung – für heutiges Verständnis schwer verdaulich, nicht zuletzt wegen der brutalen Szenarien und der damaligen Gesellschaftsnormen.
Doch vor allem die Aspekte des Kolonialismus und des Rassendenkens (Wilde und Zivilisierte, Robinson und Freitag), die Genderfrage (dominante Männerwelt) oder den rauen Umgang mit Natur und Kreatur muss man durch die historische Brille betrachten und verstehen wollen; dann ist Robinson auch heute und morgen noch Lesevergnügen.

Knatsch in Graubünden
Eine einzige Gegend wollte sich der Weltweiten Robinson-Crusoe-Begeisterung nicht anschliessen, und zwar das Bünderland.
Bei Einführung des Volksschul-Obligatoriums Mitte des 19. Jahrhunderts erklärte der Kleine Rat, die damalige Bündnerregierung, Robinson zum Pflichtstoff für die 2. Klasse. Dies führte zu einem Aufruhr in den katholischen Tälern, wo das Buch als heidnisch abgelehnt wurde, worauf durch salomonischen Entscheid hier die Legende des Heiligen Sigisbert von Pater Maurus Carnot Robinson ersetzte. Doch heute gibt es Letzteren in verschiedenen romanischen Idiomen. Ergo: The Winner is Robinson!

Bücher-Kuriositäten
Erstaunlich: Robinson ist nicht nur das drittmeist gedruckte, sondern auch das meistillustrierte Buch der Weltliteratur und wohl auch dasjenige mit den meisten Imitationen und Variationen. Robinsonaden gibt es aus allen Epochen und Weltecken in beeindruckender Sprachenvielfalt, neben sämtlichen europäischen zum Beispiel auch in Russisch, Chinesisch, Japanisch, Vietnamesisch, Indisch, Arabisch, Hebräisch, Lateinisch, ja sogar in Esperanto, Blindenschrift und Stenographie.
Auch Robinson selber taucht in allen Schattierungen auf, mal als gestandener Mann, mal als Jüngling (z.B. in «Robinson der Jüngere» von Joachim Heinrich Campe, 1779, oder in «Le Robinson de douze ans» von Mallès de Beaulieu, um 1818), mal auf tropischem Eiland, mal auf polarer Eisscholle, mal trapperhaft gekleidet, mal biedermännisch, ja sogar benannt als «Der letzte Robinson» (von Robert Fuchs-Liska, 1923).

Le Robinson des Demoiselles
Als Antwort der aufkeimenden Emanzipation auf die rein maskuline Robinson-Story mutierte Robinson in verschiedenen Sprachen sogar zur Miss Robinson, beispielsweise als «Emma ou le Robinson des Demoiselles» von Madame Woillez, Paris 1834. Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer soll 1977 ihre Zeitschrift nach diesem weiblichen Robinson benannt haben. Auch Kinderbücher mit Robinson und Freitag in Frauengestalt tauchten auf, wie «Miss Robinson Crusoe» (London, um 1902). Nur «Globi in der Verbannung» hatte sich noch vor Globine durchgesetzt ...
Der gedruckte Robinson war ein derart weltumspannender Erfolg, dass auch andere Sparten auf den Zug aufsprangen: Es entstanden Hörbücher, Hörspiele und Bühnenstücke, Schallplatten, etwa die Oper Robinson Crusoe von Jacques Offenbach, Kino- und Fernsehfilme (mit Stars wie Robert Hoffmann, Laurel und Hardy oder, in «Cast Away» von 2005, Tom Hanks). Auch Skurriles tauchte auf (wie Walt Disneys «Mickey in Africa» oder Beatrix Potters «The Little Pig Robinson»), ferner Pop-up Books und Comics bis hin ins Erotische, Spiele und Puzzles. Bref: Es robinsont sehr!

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Die grösste 
Robinson-Bibliothek
Die vermutlich grösste Robinson-Sammlung der Welt befindet sich in der Schweiz. Ihr Gründer ist Peter Bosshard, der im März des letzten Jahres verstorben ist. Bosshard wurde 1942 in Schaffhausen als Sohn eines Buchhändlers und Antiquars geboren. Er war ein international tätiger Wirtschaftsanwalt und lebte in Rapperswil-Jona. Gemeinsam mit seiner Frau sammelte er Schweizer Gegenwartskunst und begründete 2008 an seinem Wohnort das Kunst(zeug)haus.

Doch zwei Seelen wohnten in seiner Sammlerbrust. Wie schon sein Vater, dessen Kollektion er in den 80er-Jahren übernahm, faszinierten auch ihn Weltbestseller wie Struwwelpeter, Onkel Toms Hütte oder Schatzinsel sowie Abenteuerromane wie Robinson Crusoe, auf die er sich schliesslich spezialisierte.

Auf seinen beruflichen Reisen durchstöberte er Antiquariate weltweit. So befindet sich heute – analog einer «Robinson-Insel» – inmitten des Kunst(zeug)hauses eine immense Robinsonaden-Bibliothek, die öffentlich zugänglich ist und von Archivarin Maria Wüthrich betreut wird.

Die Sammlung umfasst über 4000 Robinsonaden-Exponate in mehr als 50 Sprachen, darunter als ältestes Ausstellungsstück den 1719 erschienenen zweiten Teil von Daniel Defoes Original-Robinson in Zweitauflage. Daneben finden sich Kunst- und Bastelbücher, Schallplatten, Filme, Theaterstücke, Spiele, Puzzles – Robinson total. hh

Link: www.kunstzeughaus.ch

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Der Autor
Heute noch ist Daniel Defoe (1660-1731) bekannt als Schöpfer seines Meisterwerks der Weltliteratur, obschon er dieses – wie auch den zweiten Welthit über die Lebedame Moll Flanders sowie andere Romane – erst im fortgeschrittenen Alter geschrieben hat. Und sie sind bloss ein kleiner Teil seiner lebenslangen, unermüdlichen und vielfältigen Schriftstellerei.

Als früher Vertreter des modernen Journalismus beschäftigte er sich zeitkritisch mit sozialen, religiösen und ökonomischen Problemen und war dadurch politisch einflussreich. Ein von ihm 1709 – also lange vor Robinson – geschriebener Text über Flüchtlingsproblematik wurde erst kürzlich übersetzt und erweist sich heute wieder als brandaktuell. Als Kaufmann und Fabrikbesitzer scheiterte Defoe jedoch und wurde wegen gewagter Äusserungen sogar an den Pranger gestellt.

Die Schuld für seine Niederlagen suchte er nicht bei sich selber, was vielleicht auch zu erklären vermag, warum er seinen ursprünglichen Namen «Foe», was auf Englisch «Feind» bedeutet, in «Defoe» ändern liess, was seinem Namen einen aristokratischen Klang verlieh. Nichtsdestotrotz hat es dieser Sohn eines Wachsziehers und Talgkerzenhändlers durch seine enorme schriftstellerische Energie zu Weltruhm geschafft. hh

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Der schweizerische Robinson
Was Erfolg hat, wird kopiert. Nach Daniel Defoes Robinson Cruoe (1719) folgten unzählige Robinsonaden. Schon ein Jahr nach Erscheinen gab es vier deutsche Übersetzungen, und bereits ab 1722 viele deutschsprachige Robinsonaden, von denen diejenige von Johann Gottfried Schnabel (1692-1748) und von Johann David Wyss (1743-1818) die bedeutendsten sind.

Wyss entstammte einer Berner Offiziersfamilie, wurde in «altschweizerischem Ernst» erzogen, studierte Philosophie und Theologie und war ab 1777 Pfarrer am Berner Münster. In pietistischer Erziehungsabsicht erzählte er seinen Söhnen um 1792 Geschichten im Robinson-Stil mit Belehrungen, verpackt in Abenteuerromantik. Sein ältester Sohn, Johann Rudolf, Professor für Philosophie und Oberbibliothekar an der Berner Akademie, edierte zwischen 1812 und 1827 das Manuskript seines Vaters unter dem Titel «Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer Prediger und seine Familie», während sein zweitjüngster Sohn Johann Emanuel den Grossteil der meisterhaften Illustrationen zeichnete.

Übersetzungen erfolgten in 20 Sprachen; das Buch ist damit eines der meistübersetzten Schweizerbücher. Jules Verne schrieb 1900 unter dem Titel «Seconde patrie» eine Fortsetzung, und Walt Disney realisierte 1960 eine Filmversion. Gut 200 Jahre nach der Erstausgabe, 2016, wurde nun in Berlin eine auf dem Originaltext basierende Neuauflage realisiert.

Neben dem schweizerischen existiert auch «Der Schaffhauserische Robinson» von J. Auer (1856), der auf einer zum grossen Teil wahren Begebenheit beruht. Und vom Berner Patrizier Alfred von Rodt, der nach einer Odyssee ab 1877 während 28 Jahren «Inselkönig» auf Juan-Fernández vor Chile war, ist überliefert, dass er mit «Robinson Crusoe II.» unterschrieb. hh

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Der Robinson des Bielersees
Zum Seeland hat Robinson direkt keinen Bezug, indirekt aber schon; denn auch die St. Petersinsel kannte 1765, also 46 Jahre nach Defoes Romandebüt, einen «philosophischen Robinson». Jean-Jacques Rousseau kam zwar nicht infolge Schiffbruchs zufällig aufs Eiland, sondern wählte dieses selbst als sicheren Hort auf der Flucht – sozusagen als «freiwilliger Robinson».

Theoretisch könnte er also Robinson Crusoe gelesen haben. Emile, das Standardwerk zur «Erneuerung des Menschen», hatte er 1762 geschrieben. Sein «Retour à la nature» lebte er auf der St. Petersinsel inbrünstig aus, was in «Träumereien eines einsamen Spaziergängers» mitschwingt: «Man vergönnte mir kaum zwei Monate auf dieser Insel (bei Robinson waren es mehr als 28 Jahre, Anmerkung des Autors); ich aber hätte zwei Jahre, zwei Jahrhunderte, ja die ganze Ewigkeit dort verbracht, ohne mich einen Augenblick zu langweilen.»

Oder: «Ich halte diese zwei Monate für meine glücklichste Zeit – so glücklich, dass es für mein ganzes Erdendasein gereicht hätte, ohne dass in mir je der Wunsch aufgekommen wäre, anders zu leben.» Manchmal tönt es fast, als würde nicht der Philosoph Rousseau, sondern der Überlebensstratege und Selbstversorger Robinson argumentieren: «So klein die Insel ist, so zeigt sie sich dem Blick doch recht vielgestaltig, und sie bietet Böden und Lagen in solcher Mannigfaltigkeit, dass praktisch alles angebaut werden kann.» hh

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