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Titelgeschichte


Der grüne Gigant

Gras essen, Gras anziehen, mit Gras tanken: Dänische Wissenschaftler 
wollen Wiesengras als universellen Rohstoff erschliessen.

Symbolbild: Adobe Stock

Rolf Hebrügge

Es gibt so viele grosse Zukunftsthemen, und alle sind sie dringlich: Wie können wir fossile Energieträger nachhaltig ersetzen? Wodurch lässt sich die weltweite Plastikflut eindämmen? Gibt es umweltfreundliche Alternativen zu der ressourcenintensiven Soja- und Baumwollproduktion? Uffe Jørgensens Antwort auf alle diese Fragen lautet: Gras, Gras und nochmals Gras. Der Agrarökologe von der dänischen Universität Aarhus erforscht den grünen Rohstoff vor seiner Haustür seit neun Jahren.

Ein gefährlicher Umweltkiller, über den Jørgensen Gras wachsen lassen will, ist der Sojaverbrauch. Wer Soja hört, denkt meist an eine vegane Alternative zum Fleisch. Doch über 80 Prozent der globalen Erträge gehen in die Schlachtwirtschaft, wo Soja als Proteinfutter an Schweine oder Geflügel verfüttert wird, ein grosser Teil davon in Europa. Allein Deutschland importiert pro Jahr mehr als drei Millionen Tonnen Soja für Futtermittel, in der Schweiz sind es 280 000 Tonnen pro Jahr.

Weltweit wurde die Produktion der eiweissreichen Hülsenfrucht in den letzten 50 Jahren verzehnfacht – mit katastrophalen Folgen für die Umwelt: Rund 20 Prozent der aus Brasilien gelieferten Sojabohnen gedeihen auf illegal gerodeten Regenwaldflächen. Und dann sind da noch die beim Anbau eingesetzten Pestizide. Jørgensen findet es an der Zeit, die Ökosysteme Südamerikas zu schützen – und nebenbei gewaltige Treibstoffmengen einzusparen, die zur Verschiffung von Soja verbrannt werden.

 

Gras als Eiweissbombe

Als Alternative präsentiert der Forscher eine Proteinfutter-Ressource, die er täglich vor Augen hat: saftiges dänisches Gras. Es zeichnet sich aus durch einen Eiweissanteil von über 20 Prozent, einen recht geringen Bedarf an künstlicher Bewässerung und einen extrem niedrigen Bedarf an Pestiziden. In einer Bio-Raffinerie im Umland von Aarhus lässt Jørgensen zu Demonstrationszwecken produzieren, was demnächst landesweit an Schweine oder Hühner verfüttert werden soll. Die Anlage, die bis zu zehn Tonnen Gras pro Stunde verarbeiten kann, entzieht den Halmen ungefähr die Hälfte des enthaltenen Eiweisses und produziert daraus ein hochkonzentriertes Proteinfutter für sogenannte Omnivore – Allesfresser.

Dazu muss das Gras frisch und saftig angeliefert werden. Vor Ort wird es gehäckselt und anschliessend gepresst, um den dunkelgrünen Saft aus den Fasern zu gewinnen. Erhitzt man diesen Saft auf 80 Grad Celsius, gerinnt das darin enthaltene Eiweiss. Das Resultat ist eine tiefgrüne Paste, die – geschleudert und getrocknet – zu einem Pulver mit einem Proteinanteil von rund 50 Prozent wird. Damit enthält das Kraftfutter aus Gras etwa genau so viel 
Eiweiss wie südamerikanischer Sojaschrot.

 

Viel mehr als bloss Biomasse

Dabei hatte Uffe Jørgensen ursprünglich etwas ganz anderes gesucht: einen nachwachsenden Biomasse-Träger, aus dem sich möglichst umweltfreundliche Energie gewinnen lässt. Der Forscher verglich unter anderem in Monokultur angebauten Mais, eine in Wechselwirtschaft produzierte Kombination aus Rüben, Hafer und Roggen, diverse Hülsenfrüchte und Gräser miteinander. Beim Biomasse-Ertrag lagen Maisfeld und Graswiese nahezu gleichauf an der Spitze.

Dennoch erklärte Jørgensen die kleinen Halme zum alleinigen Sieger: «Zwar wird Gras, wenn es zum Erzeugen von Biomasse angebaut wird, ebenso stark gedüngt wie Mais», sagt der dänische Wissenschaftler. «Doch weil die Wiesen – anders als Mais-Monokulturen – jahrein, jahraus bewachsen sind, wird das meiste Nitrat aus dem Dünger in den Wurzeln gebunden und sickert nicht ins Grundwasser.»

So verursacht Gras 70 bis 80 Prozent weniger Nitratauswaschung als Mais. Zudem werden die Wiesen nur alle zwei bis drei Jahre umgepflügt. Dadurch wird weniger Kohlenstoffdioxid freigesetzt, das die Pflanzen in ihren Wurzeln gespeichert haben. Obendrein realisierte Jørgensen, dass im Gras viel mehr steckt als schnöde Biomasse: «Ein Kollege von mir fragte: ‹Uffe, warum nutzt du nicht den in den Halmen enthaltenen Eiweissanteil?›» Und so reifte das Gras zum grünen Giganten, aus dem sich neben Energie auch Proteinfutter gewinnen lässt – und viele andere Produkte, wie der Agrarökologe bald merkte.

 

Ausgepresste Futtersilage

Um Dänemarks Futtersoja-Importe komplett durch Gras zu ersetzen, bräuchte man ungefähr eine halbe Million Hektar Fläche, hat Jørgensen berechnet. Das entspricht etwa einem Fünftel der gesamten landwirtschaftlichen Fläche des Landes. «Unrealistisch ist das nicht», meint der Wissenschaftler und baut dabei auch auf die dänischen Rinderhalter: Diese sollen ihr Gras künftig mähen und in regionale Bio-Raffinerien liefern, wo den Halmen das Eiweiss zur Proteinfuttergewinnung entzogen wird. Die ausgepressten Fasern erhalten die Rinderhalter anschliessend zurück – als Futtersilage für ihre Wiederkäuer, die das eiweissreduzierte Gras sogar besser verdauen können als frische Halme.

«Das Auspressen wirkt quasi wie ein erster Kauvorgang», erläutert Jørgensen. «Die Bioverfügbarkeit der Restproteine in der Silage ist viel höher als die von Eiweiss in frischem Grün.» Zwar benötigen Rinder, die mit der Silage gefüttert werden, rund 25 Prozent mehr Gras als ihre Artgenossen auf der Weide. Doch die Mehrkosten aufgrund des erhöhten Flächenbedarfs können Rinderhalterinnen durch ihren Anteil am Erlös für das Proteinfutter zumindest kompensieren, ist der Forscher überzeugt.

Jørgensens Graswurzel-Bewegung zieht wachsendes Interesse auf sich, vorerst vor allem aus der ökologischen Schweine- und Geflügelzucht: «Bio-Proteinfutter aus Soja ist sehr teuer», sagt der Forscher. «Nach unseren Berechnungen werden wir mit ökologischem Eiweissfutter aus Gras preislich sehr gut mithalten können.» Dazu nötig sind – neben den Anbauflächen – vor allem grosse regionale Raffinerien.

Eine erste kommerzielle Anlage, die 20 bis 40 Tonnen Biogras pro Stunde verarbeitet, ging im September 2020 in Betrieb und bietet ihre Produkte bereits auf dem Futtermarkt an. Eine zweite Anlage befand sich zuletzt im Probelauf. «Das ist ein guter Anfang, um die dänische Fleisch- und Milchwirtschaft etwas nachhaltiger zu machen», meint Jørgensen. Aber er betont: «Aus Umweltsicht wäre es natürlich noch besser, wir alle würden viel weniger tierische Produkte konsumieren. Doch eine solche Entwicklung braucht Zeit.»

 

Ein Stoff für Bekleidung

Und wenn sich die Menschen in Dänemark eines Tages grösstenteils vegan ernähren sollten? Dann gäbe es immer noch genügend Verwendungsmöglichkeiten für Gras. Eine davon ist die Herstellung nachhaltiger Bekleidung. Um deren Entwicklung kümmert sich die Molekularbiologin Birgit Bonefeld vom Fachbereich für Biologisches und Chemisches Ingenieurwesen in Aarhus.

Eine Molekularbiologin als Textilingenieurin? «Das mag komisch klingen, ist es aber nicht», meint Bonefeld. «Ich interessiere mich für Moleküle – egal, ob die menschlich, tierisch, pflanzlich oder chemisch sind.» Zudem, betont die Wissenschaftlerin, habe sie eine Zusatzausbildung, die sie für ihre Arbeit geradezu prädestiniere: «Aus Interesse am Unterrichten habe ich nach dem Biologiestudium noch einen Abschluss als Handarbeitslehrerin gemacht. Ich verfüge also über einen theoretischen und einen praktischen Zugang zu Textilien.»

Birgit Bonefeld nutzt die gleichen ausgepressten Grashalme, die auch als Rinderfutter dienen, und entzieht ihnen die Zellulose. «Unsere Textilien sind vergleichbar mit Viskose, die ja aus Holzzellulose hergestellt wird», erklärt die Wissenschaftlerin. Zwar ist der Zellulosegehalt von Holz mit rund 50 Prozent um einiges höher als der von Gras, wo er nur etwa 30 Prozent beträgt. «Doch Gras lässt sich nachhaltiger anbauen und die Zellulose vergleichsweise einfach gewinnen. Man benötigt nicht so hohe Konzentrationen von Chemikalien wie bei Holz», sagt sie.

Eine Möglichkeit, Zellulose aus Grasfasern zu gewinnen, ist das Auskochen in einer Natriumhydroxid-Lauge. Als Resultat erhält Bonefeld eine flauschige weisse Masse aus Zellulose, die an ein Papiertaschentuch erinnert, das versehentlich in der Waschmaschine gelandet war. Anschliessend verflüssigt sie die Masse mithilfe eines umweltfreundlichen Lösungsmittels. Danach lässt sich die Zellulose durch eine Spinndüse drücken und zu Fäden verarbeiten.

 

Baumwolle und Agent Orange

Fertig gewoben, tragen sich derlei Stoffe aus Gras mitunter angenehmer als Baumwolle, berichtet Bonefeld: «Eine unserer Fasern hat eine rundliche Struktur und eine sehr glatte Oberfläche. Unter dem Mikroskop sieht sie aus wie eine Spaghetti-Nudel. Da kratzt aber auch gar nichts.» Obendrein sind Textilien aus Gras viel ressourcenschonender als Baumwolle, wie eine unter dem Titel «The environmental price of fast fashion» veröffentlichte finnische Studie belegt: Während zur Herstellung von einem Kilogramm Baumwollstoff rund 1600 Liter Wasser benötigt werden, braucht ein Kilogramm Stoff aus Zellulose nur etwa 90 Liter.

«Baumwolle wird in heissen und niederschlagsarmen Regionen angebaut, ist aber sehr durstig», gibt die Textilforscherin zu bedenken. Ausserdem kommen bei der konventionellen Produktion von Baumwolle sehr viele Schadstoffe zum Einsatz. «Vor der Ernte werden die Baumwollsträucher meist chemisch entlaubt», berichtet Birgit Bonefeld. «Früher nutzte man dazu das seit dem Vietnamkrieg berüchtigte Agent Orange, und auch die heute gebräuchlichen Mittel sind nicht gerade mild.»

Doch nicht allein Umweltaspekte sprechen dafür, dass Gras-Textilien die Zukunft gehören könnte: «Im Zuge des unseligen Fast-Fashion-Trends werden weltweit etwa 100 Millionen Tonnen Textilien pro Jahr produziert», beklagt Bonefeld: «Bald könnte die Nachfrage nach Zellulose das derzeitige Angebot übersteigen.» Zumal sich der begehrte Rohstoff vielseitig verwenden lässt: Aus Zellulose kann man beispielsweise Einwegwindeln fertigen sowie Einweg-Overalls, wie sie aus Hygienegründen in manchen medizinischen Einrichtungen getragen werden.

 

Ein Erdölersatz

Neben Zellulose kann Birgit Bonefeld den Grasfasern noch ein weiteres werthaltiges Produkt entziehen: Lignin, das in der Natur für die Stabilisierung der Grashalme zuständig ist, lässt sich zu Pressspanplatten und sogar zu Carbonfasern verarbeiten.

Das ist das Forschungsfeld des Ingenieurwissenschaftlers Morten Ambye-Jensen. Der Experte für Prozessoptimierung erforscht die umfassende Nutzbarkeit von Gras sowie sämtlicher Zwischen- und Nebenprodukte – eine riesige Spielwiese der Möglichkeiten: «Grundsätzlich lässt sich in einer Bio-Raffinerie all das herstellen, was man auch aus Erdöl produzieren kann. Nur dass wir diese Dinge nicht aus fossilen Ressourcen gewinnen, sondern aus einer nachwachsenden Biomasse», erklärt Morten Ambye-Jensen. «Die Produktpalette umfasst neben Textilfasern und dem ursprünglich angedachten Energieträger Biogas auch andere Brenn- und Treibstoffe, bis hin zu Flugzeugbenzin.»

Oder auch Bio-Plastik: Um etwa Plastik aus Gras herzustellen, müsse man «nur die in den Halmen enthaltenen Kohlenhydrate extrahieren und daraus durch Gärung Milchsäure herstellen», erläutert Ambye-Jensen. Anschliessend lässt sich aus der Milchsäure das Polymer Polymilchsäure (kurz: PLA, vom englischen Wort Polylactic Acid) gewinnen: ein Vorläuferprodukt von Bio-Plastik. Daraus kann man beispielsweise biologisch abbaubare Tüten herstellen.

 

Frage der Kosteneffizienz

Die wichtigste Frage bei der Verwertung von Gras, meint Ambye-Jensen, sei nicht die nach der Machbarkeit, sondern: «Wie können wir unsere Produkte so kosteneffizient herstellen, dass wir damit am Markt bestehen?» Die Antwort sieht der Forscher zum einen in einer Skalierung der Produktion – also in einer Herstellung in grossem industriellem Massstab, und zum anderen in einer weitreichenden Wertschöpfungskette, die möglichst alles aus dem Gras herausholt.

Wird der aus den Halmen gepresste proteinhaltige Saft zunächst auf 60 Grad Celsius erhitzt, gerinnt das darin enthaltene grüne, weil chlorophyllhaltige, Eiweiss und lässt sich extrahieren. Das ebenfalls im Saft enthaltene weisse Eiweiss gerinnt erst bei 80 Grad Celsius und lässt sich bei stufenweiser Erhitzung separat entziehen.

Aus dem weissen Protein kann man ein Pulver namens Rubisco herstellen, das fast geschmacklos ist – und somit für den menschlichen Verzehr geeignet. Rubisco gilt als wertvoller Aminosäuren-Lieferant und lässt sich obendrein als Stabilisator verwenden, zum Beispiel in Mayonnaise. Ausserdem kann man daraus vegane Schnitzel oder Hackfleisch-Fladen für Burger herstellen.

«Auf dem Lebensmittelmarkt könnten Grasprodukte natürlich viel höhere Preise erzielen als auf dem Futtermarkt», blickt Ambye-Jensen in die Zukunft. Allerdings ist Gras in der EU bislang nicht als Rohstoff für Lebensmittel zugelassen. Bis zum Abschluss eines entsprechenden Prüf- und Genehmigungsverfahrens können noch Jahre vergehen. «In der Zwischenzeit dürfte der Markt für vegane Nahrung weiter zulegen», schätzt Ambye-Jensen und witzelt: «Selbst wenn die Zahl der Kühe künftig abnimmt – Gras wird immer verzehrt werden.»

 

Kostbarer brauner Saft

Bei der Erzeugung von Rubisco erhalten die dänischen Wissenschaftler ausserdem ein werthaltiges Nebenprodukt: einen dunklen Saft namens Brown Juice. Daraus lässt sich unter anderem Ferment für Backwaren gewinnen, ausserdem ein proteinreiches Flüssigprodukt, das der Molke ähnelt. «Molke ist ein klassisches Nebenprodukt bei der Käseherstellung und galt noch vor 20 Jahren als nahezu wertlos», sagt Ambye-Jensen. «Doch inzwischen ist Molke ein teurer Rohstoff, der in vielen Produkten für Fitnesssportler steckt. Wir können künftig etwas Ähnliches liefern, allerdings vegan. Ebenso liesse sich unser Flüssigprodukt für die Herstellung von veganem Muttermilch-Ersatz nutzen.»

Schon heute verarbeiten Ambye-Jensen und seine Kollegen ihren Brown Juice zu Düngemittel etwa aus dem darin enthaltenen Phosphor. Und aus den löslichen Kohlenhydraten wird Biogas. «Mit dem Biogas können sich die Raffinerien quasi selbst mit Energie versorgen», erklärt der Ingenieur. «Und die Energiemenge, die übrig bleibt, lässt sich zum Beispiel an die Landwirte in der Umgebung verkaufen.»

 

Ein neues Zeitalter

Das ist ein Szenario genau nach dem Geschmack von Projekt-Initiator Uffe Jørgensen: «In den letzten 100 Jahren befanden wir uns im fossilen Zeitalter», sagt der Agrarökologe. «Nun versuchen wir, das bio-ökonomische Zeitalter zu erreichen.»

Sein Forscherkollege Morten Ambye-Jensen schmiedet derweil weiter an der Wertschöpfungskette: «Bislang besteht unser Angebot aus vier grasbasierten Produkten.» Er zählt auf: «Proteinfutter für Schweine und Geflügel, Silage für Rinder, Biogas und Biodünger. Doch wir sind überzeugt, Schritt für Schritt mehr und vor allem höherwertige Güter am Markt etablieren zu können.» Ambye-Jensen ist zuversichtlich: «Die Landwirte werden sehen, dass es sich lohnt, auf Grün zu setzen.»

Eine der effizientesten Grassorten ist der Wiesenschweidel, eine schnell wachsende Kreuzung aus verschiedenen Süssgräsern mit sehr breiten Halmen. Und Jørgensen experimentiert weiter, etwa mit Mixturen aus Gras, Klee und Kräutern. «Wir arbeiten stetig an der Ertragsoptimierung», betont der Forscher. «Langfristig werden wir wohl auf verschiedene Grassorten setzen, denn ein Halm, in dem viel Zellulose für die Textilherstellung steckt, ist nicht unbedingt der beste Eiweisslieferant – und umgekehrt.»

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin «Bild der Wissenschaft» und ist dort in der Ausgabe vom Mai 2021 erschienen.

Stichwörter: Gras, Rohstoff, Natur, Dänemark, Essen

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