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Essay

Der Weg vom Haben zum Sein

Der Seeländer Autor und Philosoph Markus Waldvogel blickt anlässlich der weltweiten Klimademos zurück auf die Anfänge der Öko-Bewegung und zeigt auf, wie viel Denkarbeit nötig ist, damit sich die Lage tatsächlich verändert.

Die Schwedin Greta Thunberg (oberhalb des «E» von «House») und ihre deutsche Weggefährtin Luisa Neubauer (rechts davon) führen eine Klimademo an. Bild: Keystone

Markus Waldvogel

«In einer Welt, in der die Informationen greifbar geworden sind, ist es unmöglich zu sagen: ‹Ich habe nichts gewusst›!» Als ich diesen Satz einer Schweizer NGO vor vier Jahrzehnten las, war ich sofort überzeugt: «Genau, es geht nicht mehr an, wie nach dem Zweiten Weltkrieg zu behaupten, man habe nichts gewusst.»

Doch es ging schon damals nicht allein um das Informiert-Sein, sondern um die Frage, warum geschieht so wenig, wo doch «alles» klar ist? Den Welthunger, die globale Ungerechtigkeit oder die einseitige Abhängigkeit vom Erdöl hätte man doch bekämpfen können, bekämpfen müssen? Weshalb hatte die damalige Nord-Süd-Diskussion so wenig praktische Resonanz? Der bis heute unaufgeklärte Mord an Olof Palme von 1986, dem führenden Kopf dieses Dialogs, lässt immerhin den Verdacht aufscheinen, dass da handfeste wirtschaftliche Interessen im Spiel waren.

Vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz setzte man indes unbeirrt auf die viel geliebte Idee, neue Schulfächer einzuführen. Bereits in den 70er-Jahren riefen Umweltaktivisten nach einem Fach «Ökologie», die Grenzen des Wachstums (und der Ungerechtigkeit überhaupt) sollten in den Klassenzimmern thematisiert werden, um das neue Bewusstsein in der Zukunft zu verankern. Die Schule sollte es richten, vom familiären Nährboden sprach man kaum, was sich immer mehr als Unterlassungssünde herausstellt. Denn niemand von uns damaligen Aktivisten hätte sich träumen lassen, dass knappe 50 Jahre später trotz aller schulischen Bemühungen immer noch globale Gerechtigkeit, Energieverschwendung und ein steigender Hyperkonsum die ersten Plätze in den Agenden der «Bewegten» einnehmen würden. Von der Gleichberechtigung und der wieder entfachten Debatte um den Laizismus nicht zu reden.

Was nah ist, bewegt
Wir hätten aber auch nicht gedacht, dass Grossverteiler einmal wirklich viel «Bio» in ihren Sortimenten hätten oder dass die Atomkraft nicht mehr salonfähig sein könnte. Man kann deshalb nicht einfach sagen, es sei nichts geschehen. Die Frage, warum etwas «geschieht», ist allerdings äusserst komplex. Die «emotionalen Grundlagen des Denkens», wie sie Luc Ciompi schon in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts untersuchte, spielen bei jedem Entscheid über Werte und bezüglich des persönlichen Handelns die entscheidende Rolle.

Es gibt genügend Untersuchungen, die belegen, dass Menschen sich dort engagieren, wo sie gefühlsmässig «beeinträchtigt» werden. Deshalb haben Bürgerbewegungen und -initiativen grössere Erfolgschancen, wenn sie aufgreifen, was unter den Nägeln brennt. Zum Beispiel die Schlittelpiste der Kindheit, die überbaut werden soll, die seltener werdenden Vögel an der Fütterstelle vor dem Haus, den verschmutzten Fluss, der früher in heissen Sommertagen Kühlung brachte oder die Plastik-, Celophan- und Gummiabfälle am einst verwunschenen Ferienstrand oder die eingesperrten Tiere in Bauernhöfen, die seit langem nicht mehr sind als industrialisierte Milch- oder Fleischunternehmen.

Die gefühlsmässige Beeinträchtigung hat aber mindestens noch eine zweite Ursache: Die Angst. Genau in der Zeit, als die Anti-Atom-Bewegung (unter anderem wegen der Klimaproblematik) schwächelte, kam es zum grossen Atomunfall in Fukushima. Wir haben erlebt, wie – um nur ein Beispiel zu nennen – die Schweizer Bundesrätin Doris Leuthard «von der Saula zur Paula» wurde respektive wie die öffentliche Meinung, zumindest im alten Europa, kippte.

Es ist «normal», in die Ferien zu fliegen
Der aktuelle kompromisslose Kampf um die Privatisierung der Wasserrechte etwa durch den Nestlé-Konzern oder die neuesten Abholzungen im Amazonasgebiet durch die reaktionäre brasilianische Regierung lösen ebenso Angstreaktionen aus wie die begradigten und verseuchten 70 Prozent aller europäischen Flüsse oder die vor allem auch in der Schweiz verschwundenen Feuchtgebiete.

Es ist auch kein Zufall, dass der hervorragende Film «More Than Honey» von Markus Imhof enorme Wirkung zeitigte. Wenn immer lieb gewordene «Selbstverständlichkeiten» bedroht werden, reagiert das öffentliche Bewusstsein. Leider ist diese Reaktion oft zweischneidig. Wer aufgewachsen ist mit der Erfahrung, dass materielle Lebensqualität «geil» ist, dass das Prinzip «immer schneller, immer weiter, immer mehr» genauso dazu gehört wie das Trinkwasser oder die Qualität der Luft, gerät in ein emotionales Dilemma. Auf der einen Seite steht die eingeübte Erfahrung einer zur Verfügung stehenden Welt, auf der anderen – wenn überhaupt – das schlechte Gewissen angesichts der zunehmenden, von Menschen verursachten Umweltprobleme.

Je weniger nun die emotionalen Bindungen an eine erlebte «Natur» eine Rolle spielen, desto mehr wünschen sich die Menschen in den Industrienationen, dass «es» weiter gehen soll. Wer schon als kleines Kind erlebt hat, wie «normal» es ist, in die Ferien zu fliegen, eine Attraktion nach der anderen zu geniessen, zu haben anstatt zu sein, wie es Erich Fromm einmal formulierte, wird nicht bereit sein, aus diesem Mainstream auszuscheren.

«Informiert euch!»
In einem Beitrag in «Die Zeit» fordert die Klimaaktivistin und Weggefährtin von Greta Thunberg, Luisa Neubauer, «Informiert euch!». Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass man mit Fakten eine «informierte und aufgeklärte Öffentlichkeit» schaffen soll. Das ist gut gemeint. Doch Fakten genügen nicht. Widerstand bemisst sich nicht allein daran. Wenn die Emotionen «klemmen», weil man nicht anders kann als den erlernten Lebensstil zu verlängern, liegen die Ursachen für Passivität und Ignoranz tiefer. Es geht um nichts weniger als die Bedingungen des Aufwachsens.

Auch «weit geöffnete diskursive Arenen», wie sie Neubauer fordert, machen den Königsweg mitnichten aus, wenn es darum geht, verantwortungsvolles Handeln auszulösen. Eine Devise der Umweltaktivisten der 80er-Jahre lautete: «Wer ein inneres Feuer hat, braucht weniger äussere Energie.» Damit verbunden ist die alte philosophische Frage nach den Bedingungen der Zufriedenheit. Was ist ein gutes Leben? Woran freuen wir uns wirklich? Die CO2-Diskussion ist ohne Zweifel wichtig. Doch sie fokussiert einerseits (zu) stark auf ein Thema und andererseits blendet sie die Bedingungen für ein nachhaltiges Leben aus.

Oder anders gesagt: «Informiert euch!» muss auch bedeuten, sich darüber Klarheit zu verschaffen, was «Glück» ist, nämlich Selbstbewusstsein. «Erkenne Dich selbst» steht für die Fähigkeit, sich innerlich zu spiegeln und so eine angelernte, unkritische Konsumexistenz infrage zu stellen. Die Arbeit an sich selbst ist wesentlich komplexer und schwieriger, als es der Ruf nach Informiertheit bezüglich der Klimafrage glauben macht.

Wer in der ökologischen Auseinandersetzung «nur» an den Kopf appelliert, verkennt die kollektive Suchtdimension, die hinter der erschreckenden Ignoranz in Politik, Pädagogik und Ökonomie steht. Wir sollten nicht länger so tun, als ob wir es lediglich mit Menschen zu tun haben, die noch nicht begriffen haben, worum es geht. Der Weg vom Haben zum Sein ist nur gangbar, wenn die frühen kindlichen Erfahrungen überhaupt ermöglichen, dass Informationen «greifen». Ansonsten verhallen auch die best gemeinten Rufe nach klärendem Wissen.

Info: Der in Schaffhausen aufgewachsene und in Evilard lebende Markus Waldvogel ist Autor und Philosoph. Er schreibt Essays, Kolumnen, Sachbücher und Poesie. Waldvogel ist Mitglied der Autoren der Schweiz.

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