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Titelgeschichte

Die Entdeckung der Extreme

Naturwunder, Kulturgüter, Panorama-Hotspots – in der Schweiz gibt es heute kaum mehr einen Ort, der nicht durch einen Wanderweg oder eine Radroute erschlossen ist. In der Szene der Hobby-Topografen hat sich in den letzten Jahren nun ein neuer Trend entwickelt: Sie wollen die extremsten Punkte des Landes entdecken. Diese zu finden, ist nicht immer einfach.

DIe Dufourspitze (hier vom Gornergrat aus) ist mit 4634 Metern der höchste Punkt der Schweiz. Der Berg liegt im Kanton Wallis und ist Teil des zweithöchsten Gebirgsmassivs der Alpen. Bild: Photo Klopfensein

Heini Hofmann

Die Schweiz, aber auch jeder der 26 Kantone, weisen verschiedenste extreme Fixpunkte auf: die höchste und die tiefste Stelle der Topografie, den geografischen und politischen Mittelpunkt sowie die äussersten Winkel in allen vier Himmelsrichtungen. Darunter gibt es solche, die bekannt und im Gelände sogar markiert sind. Aber es gibt auch welche, die man zuerst noch suchen muss und die unterschiedlich gut zugänglich sind.

Tatsächlich gibt es unterdessen eine ganze Handvoll Leute, die sich der Suche von Extrempunkten verschrieben haben. Angefangen hat alles anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Landesvermessung Schweiz 2012. Die Idee, die Schweiz und ihre Extreme zu entdecken, fand sofort eine handverlesene Gefolgschaft von Hobby-Topografen. Diese setzten es sich zum Ziel, alle Extrempunkte – auch jene, welche die Kantone auf ihrer Website gar nicht publiziert hatten – ausfindig zu machen und zu begehen, soweit dies einem Durchschnittswanderer möglich ist. Die höchstgelegenen Punkte erfordern teils fortgeschrittene Alpintechnik.

Einer dieser hobbymässigen Extremrosinensucher ist Jakob Schluep aus der bernischen Gemeinde Münchenwiler. Schluep hat schon einen Grossteil der topografischen Spezialpunkte selber aufgesucht und dokumentiert und wenn man ihn fragt, erzählt er voller Begeisterung, wie ihn dieses «gesunde Hobby» schon an die wundersamsten Örtlichkeiten des Landes gebracht hat. So hat er bereits die höchsten Punkte von 14 Kantonen begangen, war auf dem Schnebelhorn (Kanton Zürich), dem Brienzer Rothorn (Luzern) sowie auf dem Säntis (Appenzell Ausserrhoden/Innerrhoden/St. Gallen) oder dem Mont Raimeux (Jura). All diese Orte sind offiziell als höchste Punkte angegeben.

Etwas schwerer zu ermitteln waren hingegen die Mittelpunkte der jeweiligen Kantone. Diese können sich nämlich auch verschieben, wie die Übersicht auf den nächsten beiden Seiten zeigt.

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Bild: Jakob Schluep

Die höchstgelegenen Punkte
Sie sind die bekanntesten höchstgelegenen Punkte der Kantone, vor allem die drei Viertausender unter ihnen: Die Dufourspitze im Kanton Wallis (4634 Meter über Meer), die zugleich als höchster Punkt der Schweiz gilt; das Finsteraarhorn im Kanton Bern (4274 Meter über Meer) und der Piz Bernina im Kanton Graubünden (4049 Meter über Meer).

Auch die sechs Dreitausender, die als höchstgelegene Punkte in einem Kanton bestimmt wurden, haben es in sich: Da wären einerseits der Dammastock im Kanton Uri (3630 Meter über Meer), der Tödi im Kanton Glarus (3614 Meter über Meer) sowie das Rheinwaldhorn im Kanton Tessin (3402 Meter über Meer).

Auch der Kanton St. Gallen hat mit dem Ringelspitz (3247 Meter über Meer) einen Dreitausender als höchsten Punkt definiert. Im Kanton Obwalden und im Kanton Waadt liegen mit dem Titlis (3238 Meter über Meer) und Diablerets (3209 Meter über Meer) zwei beliebte Ski-Gebiete in Extremlagen.

Sowohl die Viertausender als auch die Dreitausender bleiben den Alpinisten vorbehalten, da sie teils nur durch Klettern erreichbar sind. In Basel und Genf dagegen sind die höchstgelegenen Punkte sogar für Rollstuhlgänger zugänglich. Viele Höchstpunkte liegen jeweils an einer Kantonsgrenze, in zwei Fällen (Appenzell Ausserrhoden/Innerrhoden und Luzern), liegen sie gar an einem kantonalen Dreiländereck.

Hobby-Topograf Jakob Schluep hat selbst bereits 14 Höchstpunkte in der Schweiz begangen: Das Schnebelhorn im Kanton Zürich, das Brienzer Rothorn im Kanton Luzern, den Wildspitz im Kanton Zug, die Hasenmatt im Kanton Solothurn, den St. Chrischona im Kanton Basel-Stadt, die Hinteri Egg im Kanton Basel-Landschaft, den Hagen im Kanton Schaffhausern, den Säntis in den Halbkantonen Appenzell Ausser- und Innerrhoden sowie den Geissgrat im Kanton Aargau, den Groot im Thurgau, den Chasseral Ouest im Kanton Neuenburg, den Weiler Monniaz im Kanton Genf oder den Mont Raimeux im Kanton Jura. hh

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Bild: Jakob Schluep

Die tiefstgelegenen Stellen
Der tiefstgelegene Punkt der Schweiz liegt im Kanton Tessin, dort, wo die Valmara bei Brissago in den Lago Maggiore mündet. An sich haben alle Orte am See die gleiche Meereshöhe, nämlich den Seespiegel (193 Meter über Meer). Aber in Brissago – man merkt es, die Hobby-Topografen nehmen es genau – ist dieser bei normalen Verhältnisseen einige Millimeter tiefer als weiter alpenwärts.

Der höchstgelegene kantonale Tiefpunkt der Schweiz liegt wiederum im Kanton Appenzell Innerrhoden, bei Bruggtobel (539 Meter über Meer). Der zweithöchste Tiefpunkt liegt im Kanton Uri, genauer gesagt in Seelisberg, am Ufer des Vierwaldstättersees (434 Meter über Meer).

Die meisten kantonalen Tiefstpunkte befinden sich zwischen 300 und 400 Meter über Meer, in den Kantonen Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Graubünden, Aargau sowie im Tessin sogar darunter. Fast alle Tiefstpunkte liegen in der Nähe von Gewässern. Zehn liegen an einem See, so zum Beispiel im Kanton Neuenburg (Le Landeron am Bielersee), im Kanton Freiburg (Estavayer-le-Lac am Neuenburgersee), im Kanton St. Gallen (Goldachtobel am Bodensee), in Uri, Obwalden und Nidwalden (Gemeinden am Vierwaldstättersee), im Kanton Schwyz (Gemeinden am Zürichsee), im Tessin (Brissago am Lago Maggiore) sowie in den Kantonen Waadt und Wallis (Gemeinden am Genfersee). Alle übrigen liegen an Flüssen und Bächen. Einzige Ausnahme: Der Kanton Appenzell Ausserrhoden. Hier ortet man den tiefsten Punkt im Siedlungsgebiet von Lutzenberg und zugleich an der Kantonsgrenze.

Fünf Tiefstpunkte grenzen ans Ausland: Basel Rheinhafen an Deutschland, Brissago im Tessin an Italien sowie St. Gingolph im Wallis, Chancy im Kanton Genf und Boncourt im Kanton Jura an Frankreich. Jakob Schluep hat alle 26 Tiefstpunkte aufgesucht und dabei reizvolle Gebiete kennengelernt. Ein interessantes Detail: Der höchste und der tiefste Punkt der Schweiz, die Dufourspitze und Brissago, liegen nur gerade 66,6 Kilometer auseinander. hh

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Bild: Karl Kiser

Geografische Mitte
Neben dem Höchstpunkt ist der bekannteste Vermessungspunkt der geografische Mittelpunkt. Jener der Schweiz liegt bei der Älggialp im Kanton Obwalden und wurde schon 1988 mit einer Triangulationspyramide bestückt. Er liegt, bildlich gesagt, dort, wo eine in Karton ausgeschnittene Schweiz sich auf einer Nadelspitze im Gleichgewicht hält, sich also ein Flächenschwerpunkt ergibt. Würde man dasselbe mit einem Karton samt Aufbau der Geländetopografie machen, ergäbe sich jedoch ein anderes Balancezentrum: Dieses befindet sich am Eggstock Nord auf Urner Boden und nennt sich Volumenschwerpunkt.

Die geografische Mitte wird aber meist mit demFlächenschwerpunkt bestimmt. Nicht in jedem Kanton ist sie gut erreich- oder erkennbar, weil sie nicht überall im Gelände markiert ist. Deutschschweizer Kantone sind diesbezüglich etwas beflissener. Besonders liebevoll hat der Kanton Aargau sein Zentrum im Hardwald bei Niederlenz gestaltet, mit Denkmal, Ruhebänken und Feuerstellen. Aber auch die Kantone Zürich, Basel-Landschaft, Schaffhausen und Appenzell-Innerrhoden haben ihre Mitte mit Gedenkstein oder -tafel markiert. Ulkiges Beispiel: Die Kantonsmitte von Basel-Stadt liegt in einem Reihenhausgärtchen mit dem Namen «Im Heimatland», in der Nähe des Badischen Bahnhofs.

Ein spezieller Fall ist der Kanton Appenzell Ausserrhoden, dessen geografische Mitte sich mit Schlatt-Haslen mitten im Kanton Appenzell Innerrhoden befindet, weil sich Ausserrhoden bananenartig-gekrümmt um Innerrhoden schmiegt. Das durfte, obschon alte Rivalitäten heute vergessen sind, nicht sein. Also wurde getrickst: Man wählte statt des geografischen Mittelpunkts das arithmetische Mittel der Schwerpunkte aller 20 ausserrhodischen Gemeinden – und fand so in Dietenschwendi bei Teufen doch noch zu heimischer Balance ...

Mittelpunkte sind jedoch nicht in Stein gemeisselt; sie können sich verschieben. Beispiel Kanton Bern: Seit 1991 war hier der Mittelpunkt in Oberdiessbach markiert. Weil aber 1994 das Laufental zum Kanton Basel-Landschaft wechselte, verschob er sich nach Bleiken auf die Falkenfluh. Als Bleiken 2014 mit Oberdiessbach fusionierte, war er wieder auf Oberdiessbacher Boden. Allerdings nur vermeintlich; denn effektiv liegt er unterhalb der Falkenfluh in schwierigem Gelände, das zu Herbligen gehört. Und sollte Moutier je den Kanton wechseln, wäre es dann wieder anders ... hh

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Bild: Hannes Joos

Der grenzfernste Punkt
Einen ganz speziell-exotischen Extrempunkt hat die bernische Gemeinde Uetendorf aufzuweisen, nämlich den grenzfernsten Punkt mit 69,24 Kilometer Abstand zur Landesgrenze. Noch unmarkiert liegt er mitten in einer Wiese namens Silbermoos, rund 200 Meter entfernt vom ehemaligen Landsitz Eichberg, einer der letzten Sommerresidenzen der Berner Patrizier, und in – nomenklatorisch ebenfalls grenzfern-abgelegen tönender – Nachbarschaft zu Chröscherezälg, Heidenbüeli (wo immerhin einst ein römischer Gutshof stand) sowie Zigüneregge und Entenried. Zudem nicht weit weg von einer der letzten Kuhglockengiessereien der Schweiz und der Dorfkirche mit der wohl skurrilsten Entstehungsgeschichte (zusammenhängend mit dem Titanic-Untergang), für die der Urwalddoktor Albert Schweitzer die Orgel entwarf und einweihte. Die hohe Grenzferne bedeutet also nicht, dass die Uetendörfler Hinterwäldler sind. Vielleicht werden sie sogar, wenn der Extrempunkte-Tourismus Schule macht, bald mal im Zentrum stehen ... hh

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Bild: Wikimedia

Die vier Windrosenpunkte
Zu den höchsten, tiefsten und mittigsten Punkten hat jeder Kanton zudem vier Extrempunkte bezüglich Himmelsrichtungen. Total sind es 104. Wir beschränken uns hier auf je einen aus vier Kantonen, nämlich just jene, die zugleich kongruent sind mit den vier Windrosen-Extrempunkten der Schweiz: Nord (Bargen im KantonSchaffhausen; Schwarze Staa), Ost (Müstair imKanton Graubünden; Piz Chavalatsch), Süd (Chiasso im Kanton Tessin; Pedrinate) und West (Chancy im KantonGenf; Rhoneufer).

Um das Sammelsurium topografisch-kulturell-heimatkundlicher Preziosen des Extrempunkte-Tourismus komplett zu machen: Neben einem geografischen besitzt jeder Kanton auch einen politischen Mittelpunkt. Dieser befindet sich dort, wo das Rathaus steht. Im Falle der gesamten Schweiz wäre dies das Bundeshaus. Die Sitze der kantonalen Parlamente sind die Visitenkarten der Stände und verlocken als repräsentative Bauten zu einem patriotischen Sammelbesuch. hh

 

 

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