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Gesellschaft

«Die Jungs googeln "Busen" und dann geht es ab»

Mit zehn bis zwölf Jahren sehen Kinder im Schnitt zum ersten Mal Pornobilder. Die US-Autorin Peggy Orenstein erklärt, was das mit Knaben und Mädchen macht und wie Eltern damit umgehen können.

Realität und Pornofiktion: Für Kinder ist es nicht immer einfach, die Welten zu unterscheiden. Bild: Noam Cohen (EyeEm)

Interview: Meredith Haaf

Peggy Orenstein, ich war Anfang 20, als ich zum ersten Mal einen Porno gesehen habe. Sehr alt, für die heutige Zeit.
Peggy Orenstein: Wenn Wissenschaftler heute den Einfluss von Pornografie auf Jugendliche untersuchen, haben sie ein Problem: Sie finden keine Vergleichsgruppen, die diesem Einfluss nicht ausgesetzt sind. Umso wichtiger ist es für die jetzige Elterngeneration, sich diese Sachen im Internet wirklich mal anzusehen. Denn wer den «Playboy» oder einen Erotikfilm kennt, macht sich keine Vorstellung davon, wie gesättigt mit pornografischem Bildmaterial die Welt junger Menschen ist.


Pornografie zu gucken, ist nicht jedermanns Sache. Muss man sich das antun?
Ja, ich denke schon. Denn wenn Sie mit Ihrem Kind irgendwann darüber sprechen wollen – und das sollten Sie –, sind Sie nur glaubwürdig, wenn Sie auch wissen, worum es da genau geht.


Sie haben für Ihr Buch «Girls & Sex» Hunderte von Mädchen im Teenageralter befragt und arbeiten nun mit Knaben an einem zweiten Teil. Wie werden Kinder zuerst mit Pornos konfrontiert?
Es kann sein, dass ein älterer Mitschüler ihnen auf dem Schulplatz kurz was auf dem Handy zeigt, oder es wird etwas in einer Chatgruppe herumgeschickt. Oft passiert es aus Versehen. Die Jungs googeln vielleicht «Busen» oder «süsse Mädchen», und dann geht es ab ins Wurmloch.


Ist das bei beiden Geschlechtern ähnlich?
Für Mädchen wird Pornografie später relevant. Sie konsumieren sie eigentlich vor allem, um Abgeklärtheit und Erfahrenheit zu demonstrieren. In ihrem Sozialleben spielt sie keine grosse Rolle.


Und wie reagieren Knaben zuerst auf Pornografie?
Zunächst finden sie es nicht erregend, sondern nur seltsam. Sie sind meist so jung, dass sie noch keine sexuellen Erfahrungen haben. Im Lauf der Entwicklung verknüpfen sich diese Bilder dann mit dem Bedürfnis zu masturbieren.


Wie beeinflusst der frühe Kontakt mit Pornografie das Denken der Jugendlichen?
Man weiss darüber nicht viel. In gewisser Weise sind unsere Kinder unsere Versuchskaninchen. Was kann es mit einem Elfjährigen anstellen, der noch nie jemanden geküsst hat, aber drei Leuten beim Sex zuschauen muss? Ein Effekt ist definitiv, dass sie Pornografie für Selbstbefriedigung benötigen. Viele nutzen sie auch als Aufklärungshilfe – vor allem wenn sie keine Anleitung von Eltern oder Lehrern erhalten.


Wie bekommen Sie die Jugendlichen dazu, offen mit Ihnen über so intime Themen zu reden?
Das ist erstaunlicherweise gar nicht schwierig. Im Prinzip muss man nur fragen. Wie ich immer wieder feststelle, haben Buben ein riesiges Bedürfnis, sich auszusprechen. Am Anfang dachte ich, es könnte ein Problem sein, dass ich so aussehe, als könnte ich ihre Mutter sein. Aber raten Sie mal, wer ich noch sein könnte? Die Therapeutin.

Mit wem sprechen die Jugendlichen noch darüber?
Mit kaum jemandem. Pornokonsum ist ein sehr persönliches Thema. Man macht vielleicht Witze oder schaut sich einen Clip mit anderen zusammen an. Aber über das, was in ihnen vorgeht, reden die Jugendlichen untereinander nicht. Bei «Girls & Sex» habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass ich oft die erste Erwachsene war, die mit den Mädchen über diese Themen sprach.


Wie sehen Jugendliche den Einfluss der Pornografie auf sich selbst?
Manche sagen: «Ich weiss, das ist alles nicht echt, deshalb macht das gar nichts mit mir.» Andere ringen damit. Sie machen sich Sorgen darüber, wie Pornografie ihr Verhältnis zu Mädchen beeinflusst, ihre Erwartungen oder auch ihr Verhalten im Bett. Einige begannen, sich für ihren eigenen Körper zu schämen. Oder sie verglichen zwanghaft die Brüste ihrer Freundinnen mit denen der Pornodarstellerinnen. Manche erzählen mir, dass sie aus diesen Gründen bewusst aufgehört haben, diese Filme zu konsumieren.


Was brauchen Kinder, um mit solchen Bildern zurechtzukommen?
Wir leben in einer seltsamen Zeit. Kinder sind von sexualisierten Medien umgeben – ich meine auch die Objektifizierung von Frauen in der Werbung –, aber niemand spricht mit ihnen darüber. Bei den Mädchen machen wir uns Sorgen über ihr Körpergefühl, ihre Sexualität und ihre Sicherheit. Ihnen bringen wir eher bei, die mediale Darstellung von Frauenkörpern zu hinterfragen. Aber mit den Knaben redet niemand darüber, wie Sex ihnen präsentiert wird.


Wie verändert die Pornokultur das Sexleben der Jugendlichen konkret?
Zum Beispiel ist Analsex schon bei Anfängern weit verbreitet. Ich will hier keine Praktik dämonisieren. Aber es gibt Umfragen unter jungen Frauen zur Qualität ihrer Sexualbeziehungen. 70 Prozent derjenigen, die angaben, Analsex zu praktizieren, sagten auch, dass ihr letzter sexueller Kontakt schmerzhaft war. Wir haben es hier also mit einer Beeinträchtigung der Lebensqualität zu tun. Ich glaube nicht, dass es Eltern gibt, die sich das für die Sexualität ihrer Töchter oder Söhne wünschen.


Widerspricht es nicht eigentlich dem ersten Elterninstinkt, sich überhaupt in die sexuelle Entwicklung des Kindes einzuschalten?
Meiner Meinung nach können wir uns den Luxus, uns nicht einzumischen, einfach nicht mehr leisten. Die Flut der pornografischen Bilder ist allgegenwärtig, und sie ist keinen ethischen Werten verpflichtet. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf diesem Gebiet zu bilden und mit den Kindern im Gespräch zu bleiben.


Wann beginnt das Gespräch?
Eigentlich schon bei kleinen Kindern. Zum Beispiel ist es wichtig, weibliche Geschlechtsteile zu benennen, wie man es ja auch mit männlichen tut. Das ist deine Nase, das ist dein Bauch, das ist deine Vulva. Kleinkinder neigen dazu, viel zu masturbieren. Also sagt man zur Tochter: «Es fühlt sich schön an, deine Vulva anzufassen, aber das ist etwas, das man nicht am Tisch tut.» Man erkennt ihr Bedürfnis an und ordnet es ein.

Das kostet Überwindung.
Uns fehlt oft die Sprache, daher müssen wir sie uns beibringen. Wenn man eine Aversion gegen Pornos hat, reicht es schon, ein bisschen über die Startseite von Pornhub zu scrollen. So bekommt man einen ganz guten Eindruck. Aber grundsätzlich geht es sowieso weniger um Sex, sondern eher um Werte und Miteinander. Das beginnt im Sandkasten: Wenn mein Kind ein fremdes Kind anfasst, das das nicht will, muss ich ihm vermitteln: «Sie oder er hat Nein gesagt, und wir fassen Menschen nicht an, wenn sie das nicht möchten.» Und wenn das Kind Grosstante Nancy nicht umarmen will, muss es auch nicht.


Wie steigt man in so ein Gespräch mit einem Teenager ein, ohne dass es unangenehm wird?
Solche Gespräche führt man am besten im Auto, weil es da keine Fluchtmöglichkeiten gibt. Und man muss sich nicht in die Augen gucken! Und dann: Suchen Sie interessante Artikel, TED-Talks oder Podcasts und lassen die laufen. Dann fragen Sie einfach: «Wie siehst du das? Wie ist das bei euch an der Schule?» Das sind gute Wege, indirekt ins Gespräch zu kommen, ohne dass sich das Kind schreiend unter einem Kissen versteckt.


Wie alt sollte ein Kind sein, wenn man mit ihm zum ersten Mal über Pornografie spricht?
Wenn das Kind anfängt, selbstständig das Internet zu nutzen. Denn dann erhöht sich einfach die Wahrscheinlichkeit einer verstörenden Zufallsbegegnung. In der Regel also etwa mit zehn. Man muss sagen: «Es gibt viele Bilder und Filme im Internet, und es kann sein, dass du auch mal etwas siehst, das dir nicht schön vorkommt, oder etwas, das unheimlich ist.» Es geht auch darum, ihnen zu erklären, dass das alles nicht echt ist. Um die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion.


Und inhaltlich?
Die meisten Kinder werden hellhörig beim Thema Gerechtigkeit. Also sollte man besprechen, dass derartige Filme eine falsche Geschichte über das Verhältnis zwischen Frauen und Männern erzählen. Wenn sie deutlich älter sind, kann man sich mit ihnen auch einen guten Dokumentarfilm über die Industrie anschauen, denn viele Jugendliche halten die für sehr glamourös. Sie wissen nichts über die Ausbeutungsstrukturen.


Wer kann so ein Gespräch besser führen: Mutter oder Vater?
Es gibt sowohl für Mütter als auch für Väter eine Rolle. Väter halten sich da oft raus, und es wäre gut, wenn sie sich mehr einbringen würden.


Und wo sind die Unterschiede zwischen einem Gespräch mit einer Tochter und dem mit einem Sohn?
Egal, ob Mädchen oder Junge, die Themen sind dieselben, und die Botschaft muss immer heissen: «Sex ist toll. Sexuelle Neugier ist natürlich.» Kein Gefahrenszenario aufmachen, aber ihnen Werkzeuge geben, um schlau und kritisch zu konsumieren. Es geht darum, positives Material zum Thema Sex bereitzustellen und dann klar zu sagen: «Und Porno ist etwas anderes. Wenn du das guckst, wirst du nicht sofort pornosüchtig oder sexuell gestört. Aber du musst darüber nachdenken, was du guckst und was das mit dir machen kann.» Vom Kiffen wird man ja auch nicht gleich heroinsüchtig, aber man sollte die Gefahren von Drogen kennen. Wir wissen, dass uns alles, was wir gucken, uns beeinflusst – warum sonst gibt es eine so erfolgreiche Werbeindustrie?


Manche Eltern zocken Computerspiele, um mit ihren Kindern in Verbindung zu bleiben. Wie wäre es, gemeinsam einen Porno zu schauen und einzuordnen?
Mit Kindern Pornos schauen? Schwierig. Zumal die das ja gar nicht so gucken, als ganzen Film. Meistens sind es mehrere Clips in mehreren Tabs und es wird nur nach Akt, Akt, Akt gesucht, irgendetwas, zu dem sie kommen können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man entspannt einen Porno mit seinem Kind gucken kann. Andererseits könnte man seinem Kind die Sache so ein für alle Mal versauen.


Info: Die Journalistin Peggy Orenstein schreibt für die «New York Times» und Bücher, unter anderem «Girls & Sex» (auf Deutsch im Mosaik-Verlag).

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