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Psychologie

Die Lebensbeichte des Starpädagogen

Jesper Juul ist Europas gefragtester Familientherapeut. Nun hat der schwer kranke Däne seine Autobiografie geschrieben. Darin erzählt er von seiner eigenen, desaströsen Kindheit.Man dürfe Kindern kein Essen aufzwingen, solle ihnen aber auch nicht die eigenen Zwänge vermitteln, sagt Jesper Juul. Wichtig sei es, die Werte, die man predige, auch selbst zu leben.

Auch im Rollstuhl setzt er seine Arbeit fort: Jesper Juul vor seiner Wohnung in Odder. Bild: Franz Bischof/laif

Philippe Zweifel

Nach der Arbeit kommt der Vater nach Hause und liest die Zeitung. Sein Sohn bittet ihn, aus einem Märchenbuch vorzulesen. Doch der Vater schaut den Kleinen nicht einmal an, sondern wendet sich an seine Ehefrau: «Nimm ihn weg, er stört mich!»

Die Szene ereignete sich in den frühen 50er-Jahren, das Kind war Jesper Juul. Der Däne ist heute der bekannteste Familientherapeut Europas. «Erwachsene sind seltsame Wesen», schreibt der
70-Jährige nun in seiner Autobiografie: «Sie verlangen von dir, dass du fremde Menschen küsst, aber wenn du dich deinem eigenen Vater nähern willst, erlauben sie es nicht.» Es ist eine von vielen persönlichen Anekdoten, die Jesper Juul preisgibt. Eine weitere: Wie der kleine Jesper versuchte, das Elternhaus anzuzünden, aber scheiterte – und dann dasselbe mit dem Kindergarten probierte.

 

Wie ein väterlicher Freund
Jesper Juul stellt so seine Biografie und sein Werk in einen Zusammenhang – das ergibt eine äusserst interessante Lektüre. Denn viel war über sein Privatleben nicht bekannt, obwohl der liebenswürdige Däne für viele seiner Leser wie ein väterlicher Freund ist, den sie konsultieren, wenn sie nicht mehr weiterwissen.

Wie wichtig sind Grenzen? Soll man ein Kind bestrafen? Wie? Und was tun, wenn der Nachwuchs nicht ins Bett will oder kein Gemüse isst? Juuls Erfolg beruht auf der Verunsicherung des liberalen Bildungsbürgertums, das nicht weiss, wie es sich zwischen dem autoritären und antiautoritären Stil einordnen soll. Hunderte Interviews hat er gegeben und 40 Bücher geschrieben. Die bekanntesten darunter sind «Dein kompetentes Kind» oder «Leitwolf sein».

Die Autobiografie fasst die wichtigsten juulschen Erkenntnisse – Authentizität, Verantwortung, Integrität und der von ihm geprägte Begriff der «Gleichwürdigkeit» – kompakt zusammen. Hinter den abstrakten Begriffen steckt eine klare Botschaft: innerhalb der Familie bedeutende Beziehungen aufzubauen. Wobei sich Erwachsene das Vertrauen von Kindern verdienen müssen, indem sie einen Dialog auf Augenhöhe suchen.

Ein Beispiel: Kinder interpretieren laut Juul auch, was nicht gesagt wird. Wenn die Mutter oder der Vater traurig ist, sagt das Kind: Ist etwas los mit dir? Eltern aber haben das Gefühl, sie müssten immer glücklich sein, und lügen das Kind an. Also sagt es sich: Wenn bei ihnen alles okay ist, dann muss wohl mit mir etwas nicht stimmen. Das Fallbeispiel ist klassischer Juul, genauso wie jenes vom Schulschwänzer – den man nicht daran erinnern soll, dass er ohne gute Ausbildung an der Supermarktkasse landen wird, sondern ihn stattdessen fragen, wieso er geschwänzt hat.

Seine eigene Familie beschreibt Juul als einen ziemlich zerrütteten Haufen. Die Mutter war eine überfürsorgliche Hausfrau, die ihren Mann nicht liebte. Der Vater ein verschwiegener Dekorateur, der gern Künstler geworden wäre. Der Bruder mochte Jesper nicht, weil dieser sich der Familie entzog. «Bis man wirklich gut im Erziehen ist», so Juul, «muss man mindestens vier Kinder haben» – Juul selbst hat einen Sohn. Von diesem habe er «wie die meisten Väter damals» zuerst Gehorsam verlangt. Doch als der Sohn vier Jahre alt war, kletterte er eine Treppe so weit hinauf, bis er dem Vater in die Augen sah und sagte, er solle die Klappe halten. Auch Jesper Juuls Eheleben verlief nicht besonders harmonisch, er ist zweimal geschieden. «Als Familientherapeut kann man in der eigenen Familie nicht viel ausrichten», sagte er einmal. Ein Widerspruch?

Nicht bei Juul. Sein bewegtes Leben zeigt, dass Erfolg keinem Muster folgt. Weil er Schwierigkeiten mit Zahlen hatte, gelang ihm kein Gymnasiumabschluss. Stattdessen heuerte er nach der Realschule für zwei Jahre als Matrose an. Später jobbte er als Bauarbeiter und Barkeeper.

Er studierte dann Geschichte und Religion (in Dänemark ist für die Universität keine Matura nötig), wurde Lehrer und Sozialarbeiter, arbeitete im kriegsversehrten Kroatien und wurde schliesslich Familientherapeut. 2004 gründete er das Elternberatungsprojekt Familylab. Mit der Wissenschaft liegt Juul nach wie vor im Clinch. «Ich habe Respekt vor ihr», schreibt er, «aber sie untersucht einzelne Phänomene und vernachlässigt das Ganze. Mein Wissen beruht auf Gesprächen und Erfahrung.»

Wieder so ein koketter Satz, für den ihn seine Fans lieben. Was viele nicht wissen: Der dänische Charmebolzen, bekannt für seine mitreissenden Liveauftritte («Sind Jugendliche unerreichbar, oder hat die Gesellschaft zu kurze Arme?»), ist schwer krank. Vor sechs Jahren brach Jesper Juul in Slowenien auf einer Bühne zusammen. Als er im Krankenhaus zu sich kam, war er von der Brust abwärts gelähmt. Eine Autoimmunkrankheit.

Dazu kamen Schmerzen und das Schlimmste für den Feldforscher: der Verlust seiner Stimme. An den Rollstuhl gebunden, verfasste er weiter Bücher und beantwortete schriftliche Interviewanfragen. Wegen Schwäche und Konzentrationsschwierigkeiten benötigte er mitunter bis zu drei Tagen für sechs Fragen.

Seit 2016 lebt Jesper Juul allein in einer behindertengerechten Wohnung im dänischen Odder, wo er sich nicht wohlfühlt, weil er sein Haus in Istrien vermisst. Zwar hat er seine Stimme wieder. Aber die Erniedrigung, die er im Krankenhaus und in der Reha durch Ärzte erfahren musste, macht ihm zu schaffen: «Seit der frühen Kindheit zieht sich dieses Gefühl durch mein Leben: dass Autoritäten über mich entscheiden wollen.»

 

Arbeit erhält ihn am Leben
Juuls Lebensgeschichte endet mit einem weiteren Geständnis. In den letzten sechs Monaten sei er manchmal nahe am Suizid gewesen. Doch die Verbreitung seiner Bücher hielt ihn davon ab. «Ich habe einen Sohn, den ich liebe, zwei Enkelsöhne und Freunde, aber die Arbeit erhält mich am Leben.»

Nimmt ausgerechnet Jesper Juul, der stets zu mehr Gelassenheit statt Disziplin mahnte, die Arbeit wichtiger als das Leben selbst? «Meine beiden Ex-Frauen», lautet der allerletzte Satz seiner Autobiografie, «würden dem sicherlich zustimmen.»

Info: Jesper Juul, «Das Kind in mir ist immer da. Mein Leben für die Gleichwürdigkeit», Beltz-Verlag, Weinheim 2018, 208 Seiten,
Fr. 23.90.

Jesper Juul, sind Kinder heute
glücklicher oder unglücklicher als früher?

Jesper Juul: Sie sind in ganz Europa selbstbewusster geworden. Das führt aber nicht per se zu mehr Glück. Tatsächlich zeigen Studien, dass dänische Kinder glücklicher sind als andere, vor allem ab dem Alter von fünf Jahren. Sie fühlen sich eingebunden in die Familie und ernst genommen. Und sie profitieren immens davon, dass dänische Väter sich so in Betreuung und Erziehung engagieren. Überhaupt macht Dänemark seine Bürger glücklich: Wir sind sehr demokratisch, haben fast keine Korruption und vertrauen einander. Selbst Misstrauen generiert bei uns keinen blinden Hass.

Die Beziehung zu Kindern soll authentisch, wertschätzend und führend sein. Wie schafft man das, wenn die Arbeit einen erschöpft und die Kinder das mitkriegen?

Eigentlich nur, indem man sie anlügt. Im Ernst jetzt: Man dachte stets, dass beim Erziehen Konsequenz der entscheidende Faktor sei. Aber das hat noch nie gestimmt. Wirklich wichtig ist, dass man die Werte praktiziert, die man predigt. Und dass man gesunde Werte für sich findet, wie ich sie etwa im Buch «Leitwölfe sein» skizziere. Ein Beispiel: Es ist unmöglich, Kindern einen gesunden, genussreichen Umgang mit Nahrungsmitteln zu vermitteln, wenn die eigene Figur und die Angst vor Gewichtszunahme ein grosses Thema für einen ist. Skandinavische Mütter realisieren langsam, dass ihre Obsession, perfekte Körper zu haben, selbst normal gebaute Vorpubertierende dazu bringt, ihre Körper zu hassen und Essstörungen zu entwickeln.

Ist Glück das beste Erziehungsziel oder der produktive Umgang mit Niederlagen?

Kinder lernen durch Erfahrung, und sie werden immer auch negative Erfahrungen machen. Wie sie damit umgehen, wird sie prägen und hängt sehr von den Eltern ab: ob diese es akzeptieren, wenn ihre Kinder unglücklich sind; und ob sie ihnen Wege aufzeigen, Unglück zu verarbeiten. Dafür müssen die Eltern erst einmal in der Lage sein, das kindliche Unglück ernst zu nehmen und es nicht einfach mit einem schnellen Trost zuzudecken. Sie müssen Empathie zeigen.

In Ihrem Buch geht es um solche Konflikte rund um den Tisch.

Essen ohne Zucker, rotes Fleisch und natürlich Bio: Gerade aufgeklärte Mittelschichtsmütter wollen nur die beste Nahrung fürs Kind. Doch je mehr die Eltern da ihre Macht ausüben, desto mehr Widerstand leisten die Kinder, werden wählerisch, gar essgestört: eine gefährliche Spirale. Man sollte Kinder von klein auf am Kochen und Einkaufen beteiligen, mit ihnen über Lebensmittel und ihre Zubereitung sprechen. Ab 18 Monaten kann man sie auch nach ihrer Meinung fragen. Bei Älteren rate ich mit Nachdruck, einen echten Dialog zu führen. Man soll sich ehrlich für ihre Präferenzen interessieren und die eigenen Vorlieben erklären, nicht aufdrücken. Schaffen Sie eine warme Atmosphäre. Möglichst alle sollten am Tisch zusammenkommen. Und zwingen Sie die Kinder nie, etwas Bestimmtes zu essen. Nehmen Sie das Feedback Ihrer Kinder ernst. Und lassen Sie Ihre Gefühle zu: Ehrlichkeit und Authentizität sind besser als jedes Autoritätstheater.

Interview: Alexandra Kedves

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