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Geschichte

«Die moderne Welt ist auf Basis von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus entstanden»

Der Streit um den «Mohrenkopf» sei der Einstieg zum Anstoss einer breiten gesellschaftlichen Debatte, sagt der Historiker Bernhard C. Schär – und diese sei überfällig. Er fordert, die Schweizer Geschichte sei neu zu denken:
 «Wir können uns nur verstehen, wenn wir begreifen, dass wir in Beziehung zu anderen entstanden sind.»

Bernhard C. Schär, Bild: Christian Pfander

Interview: Tobias Graden

Bernhard C. Schär, essen Sie noch Mohrenköpfe?

Bernhard C. Schär: Ab und zu. Die Kritik richtet sich ja nicht gegen das Produkt, sondern gegen seinen Namen.

 

Die Bezeichnung «Mohrenkopf» ist also eindeutig rassistisch?

Ja. Im Idiotikon, der Bibel der Mundartforschung, wird «Mohr» als Synonym für das N-Wort definiert, und «N.» hat die Konnotation von «barbarisch», «rückständig», «unzivilisiert», «dreckig». Hinzu kommt die Ikonographie. Der aktuelle Patron der Firma Dubler selber hat nach der Übernahme der Firma von seinem Vater in den frühen 70er-Jahren als erste Amtshandlung eine Werbekampagne gestoppt, die rassistische Darstellungen von schwarzen Menschen beinhaltete.

 

Ein Teil der Kontroverse besagt, das Wort «Mohr» habe gar nicht rassistischen Ursprung – es bezeichne ursprünglich wertfrei die Mauren.

Der Begriff führt ins 16. Jahrhundert zurück. Der historische Kontext ist jener der Kreuzzüge und der Zeit, als die spanische Halbinsel islamisch besetzt war. Man sieht heute noch in der Alhambra und in weiteren Kathedralen Spaniens die triumphierende Ikonographie aus der Rückeroberung: Ein zentrales Motiv ist der abgehackte Kopf eines «Mauren». Aus dieser Zeit stammen auch die Wappen der Ritterhäuser, die das Kreuz des Christentums zeigen und eben solche «Mohrenköpfe», abgeschlagene Maurenhäupter.

 

Es gibt in der Schweiz aber Gemeindewappen mit «Mohrenköpfen», etwa von Möriken-Wildegg. Deren Darstellungen beziehen sich auf den Heiligen Mauritius.

Dieser ist eine mythische Gestalt aus der Römerzeit. Er soll nordafrikanischer Legionär gewesen sein, ein Christ, der den Märtyrertod gestorben sein soll. Auch er ist keine unschuldige Gegenfigur zur rassistischen Darstellung von Schwarzen. Denn der Mythos ist im Mittelalter entstanden, im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Seine Geschichte ist Teil dieser kulturellen Auseinandersetzung, in der es um den Herrschaftsanspruch des Christentums ging. Für die jetzige Diskussion ist aber etwas anderes wichtig.

 

Und zwar?

Niemand, der die Darstellungen des Mohren nüchtern betrachtet, wird sagen, er sehe darin den Heiligen Mauritius, einen nordafrikanischen römischen Legionär oder Märtyrer. Sondern man sieht einen Typus: die europäische Vorstellung, was die afrikanische «Rasse» ist.

 

Wie ist die heftige Reaktion jener zu erklären, die unbedingt weiterhin «Mohrenkopf» sagen wollen?

Ich finde diese Reaktion zwar nicht richtig, aber ich kann sie bis zu einem gewissen Grad verstehen. Denn sie hat zu tun mit einem Geschichtsbild, das auch ich noch vermittelt bekommen habe. Bis vor kurzem konnte man in der Schweiz die Schulen durchlaufen, selbst ein Universitätsstudium abschliessen – und von der Geschichte des Kolonialismus wenig mitbekommen, erst recht nicht im Zusammenhang mit der Geschichte der Schweiz. In der breiten Bevölkerung ist also kaum Wissen vorhanden. In einem solchen Kontext ist es verständlich, wenn Menschen aus dem Mittelstand mit gewöhnlicher Schulbildung, die in letzter Zeit harte Jahre durchgemacht haben und deren Perspektive unsicher ist, mit Abwehr reagieren. Und als dritter Faktor kommt hinzu, dass die Debatte von der grössten und mächtigsten Partei des Landes hochprofessionell propagandistisch bewirtschaftet wird.

Ist die Debatte das schweizerisch-harmlose Symptom eines generell tobenden Kulturkampfs?

Ja, wobei es nicht nur harmlos ist. Der Streit um den Mohrenkopf hat einen Zusammenhang mit den Diskussionen um Polizeigewalt, den Umgang mit Migrantinnen und Migranten oder struktureller Benachteiligung. Denn lange war auch der «Mohrenkopf» ein Beispiel für einen breiten kulturellen Konsens, der sich in einem tiefen Misstrauen gegenüber Menschen aus Afrika äussert und den Boden bereitet dafür, dass etwa die Polizei gegenüber afrikanischen Dealern hart einfahren kann und nicht damit rechnen muss, dafür kritisiert zu werden. Der Mohrenkopf ist also ein Einstieg zum Anstoss einer breiten gesellschaftlichen Debatte.

 

Überschiesst diese Debatte bisweilen, wenn sich etwa die Colonial-Bar in Bern gezwungen sieht, ihren Namen zu ändern – den sie nicht aus rassistischen Gründen trägt, sondern wegen des historischen Bezugs zum Gebäude, in dem sie sich befindet?

An dieser Geschichte ist interessant, dass sie die Verschiebung auf breiter Ebene zeigt – die Colonial-Bar ist das lokale Bespiel, Migros das nationale, die Geschichte von Nike und dem Football-Spieler Colin Kaepernick das internationale. Und an ihr zeigt sich, dass der Wandel sozusagen auch vom Kapitalismus ausgeht. Es geht um Märkte: In der linksten Stadt der Schweiz kann man angesichts der Diskursverschiebung irgendwann schlicht nicht mehr an einem solchen Namen festhalten, weil man sonst einen Reputations- und letztlich Geschäftsschaden erleidet.

 

Was ist denn so sehr problematisch am Namen «Colonial-Bar»?

Wir sind uns sicher alle einig, dass man eine Bar nicht «Stalin-Bar» nennen würde oder «Apartheid-Bar». Auch der Kolonialismus war ein ausbeuterisches und enorm gewalttätiges Herrschaftssystem. Aber die koloniale Vergangenheit wird verklärt. Auch dies hängt mit dem Wissenskontext zusammen: Wir sind in den Schulen gar nicht darüber informiert worden, wie gewalttätig der Kolonialismus war. Er wird verharmlost.

 

Er hat aber auch eine gewisse Romantik – der Flohmarkt bei der Porte de Clignancourt in Paris mit seinen kolonialen Gegenständen oder die Bar eines alten englischen Hotels auf Sri Lanka, das sind schöne Orte.

Der Kolonialismus wurde schon in seiner Zeit romantisiert – doch er war bloss für zwei Prozent der Bevölkerung romantisch, nämlich für die weissen Kolonialherren. Die Nachfahren jener Menschen, die Zwangsarbeit leisten mussten oder versklavt wurden, haben mit gutem Grund eine andere Sichtweise. Sie leben heute unter uns, also müssen wir auch Namen wie jenen von der Colonial-Bar neu aushandeln. Das Beispiel von Nike und Colin Kaepernick zeigt, dass mit dem Wandel der Antirassismus auch ökonomisch interessant wird – darin zeigt sich die Flexibilität des Kapitalismus. In Tourismusregionen mit Gästen aus Indien sind Restaurants, die «Zum Mohren» hiessen, längst umbenannt worden.

 

Der Kampf gegen Rassismus hat die Bilder und Denkmäler erreicht. In einer Berner Schule wurde ein Wandbild aus den 50er-Jahren übermalt. Was halten Sie von der Aktion?

Ich finde die eigentlich noch gut. Die Stadt Bern hat ja einen Wettbewerb zum künftigen Umgang mit dem Bild ausgeschrieben. Ich bin in einem der teilnehmenden Teams als Berater tätig. Wir sind das einzige Team, das vorschlägt, das Wandbild sei zu entfernen und dem historischen Museum zu übergeben, wo es Teil einer Ausstellung werden soll, die aufzeigt, wie Bern als Stadt und Kanton mit dem Kolonialismus verbunden war. Gerade mit der Übermalung ist das Wandbild ein passendes Exponat, weil es den Konflikt, in dem wir heute stecken, zum Ausdruck bringt – es geht auch um unterschiedliche, konkurrierende Erinnerungsweisen. Man kann damit aufzeigen, dass dieser Konflikt nicht erst heute entstanden ist, sondern eine lange Vorgeschichte hat.

 

Das Bild ist für die Geschichtswissenschaft ein so genannter «Überrest», ein materieller Zeitzeuge seiner Epoche. Es müsste Sie als Historiker doch schmerzen, wenn ein solches Objekt beschädigt oder zerstört wird.

Das ist womöglich für einen Kunsthistoriker so. Aber es wäre naiv zu glauben, dass alle Materialien aus der Vergangenheit erhalten bleiben. Der grösste Teil der Arbeit eines Archivs besteht nicht im Erhalten, sondern im Aussortieren und Vernichten. Darum gibt es die Quellen- und Archivkritik. In der Kolonialgeschichte arbeite ich viel in Indonesien. 95 Prozent der Menschen, die dort lebten, haben keinerlei Quellen hinterlassen. Was von den restlichen fünf Prozent übrig ist, ist hochgradig selektiv. Archive sind im 19. Jahrhundert entstanden, also im kolonialen Kontext. Gewisse Ereignisse wurden bewusst nicht dokumentiert oder archiviert – und wenn, dann nur sehr ausgewählt.

 

Zum Beispiel?

Ich habe gerade einen Aufsatz geschrieben über Louis Wyrsch, den «Borneo-Louis». Er war im 19. Jahrhundert Landammann des Kantons Nidwalden, aber auch 15 Jahre lang Offizier der holländischen Kolonialarmee. Er hatte eine Konkubine, wahrscheinlich eine Sklavin, mit der er fünf Kinder zeugte. Er hinterliess ein minutiöses Tagebuch, es befindet sich nun im Staatsarchiv Nidwalden. Entweder er selber oder einer seiner Nachfahren hat mit einer Rasierklinge sorgfältigst alle Passagen entfernt, die über diese Konkubine Auskunft geben. Das zeigt: Was überliefert wird, ist selektiv, es wird verändert oder auch zerstört – mit einem gewissen Ziel.

 

Zurück zum Wandbild: Der Wettbewerb um den künftigen Umgang damit war noch nicht abgeschlossen. Eine Übermalungsaktion greift dem Ergebnis vor, sie ist nicht aus historisch-wissenschaftlichem Motiv erfolgt.

Gerade als Historiker sollten wir dem gegenüber gelassen sein. Wir befinden uns in einer Umbruchsituation, lange wurde vieles versäumt, und nun sind die Menschen ungeduldig. Der Tod von George Floyd hat aufgestaute Wut neu entfacht, und dann kann es zu solchen Aktionen kommen. Der Blick in die Geschichte zeigt: Historischer Wandel geht selten diszipliniert und geordnet vonstatten. Auch unser Bundesstaat wäre ohne solche Aktionen nicht entstanden – diese beinhalteten nicht nur Gewalt an Sachen, sondern auch an Personen, wenn wir etwa an die Freischarenzüge denken.

Wenn man aber sagt, das Bild müsse verschwinden, dann ähnelt diese Haltung doch jener der Taliban, welche die Buddha-Statuen sprengten.

Dieser Vergleich ist völlig unhaltbar. Die Taliban sind ein totalitäres Terrorregime. Die «Täterschaft» in Bern steht gegen alles, was die Taliban verkörpern. Man muss sehen: Die Geschichtswissenschaft als Disziplin ist im 19. Jahrhundert entstanden, und bis heute erzählt sie die Geschichte mehrheitlich aus der Perspektive der europäischen, weissen Gesellschaften. Vor allem afrikanisch-stämmige Gesellschaften wurden lange vernachlässigt und vertröstet.

 

Soll also in Neuenburg die Statue von David de Pury verschwinden?

Was sind Statuen? Sie sind eine Form der Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Sie sind Narrative, keine objektive Darstellung. Sie sind im 19. Jahrhundert entstanden, im Zeitalter des Historismus, der Heldengeschichten. Im Statuenstreit geht es also nicht darum, die Vergangenheit auszuradieren, sondern es geht um die Frage, wie wir diese Vergangenheit heute erzählen wollen. Im 19. Jahrhundert erfolgte dies staatlich-obrigkeitlich verordnet, um einen kleinen Teil der männlichen, bürgerlichen Elite zu zelebrieren. Niemand kann mehr ernsthaft der Meinung sein, dass dies auch heute die Art sein soll, wie wir uns an die Vergangenheit erinnern wollen. In dem Sinne müssen wir den Statuen-Streit begrüssen: Wir reden heute mehr über Geschichte als vorher.

 

Das ist doch genau der Punkt: Die Statue erzählt nicht nur von David de Pury, sondern sie erzählt von der Darstellung von David de Pury in der Zeit ihrer Entstehung.

Als das – als Quelle – ist die Statue aber nicht entstanden. Sondern als Darstellung. Wir betrachten heute ja auch die Geschichtsbücher des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Forschungsstand, sondern als Quelle. Wenn wir die Statue zur Quelle machen wollen, müssen wir sie neu kontextualisieren. Denn die Statue selber erzählt uns nicht die Geschichte davon, wie im 19. Jahrhundert die unangenehmen Seiten ausgeblendet wurden. Sondern sie hat eine triumphierende Geste, die heute keinen Sinn mehr macht.

 

De Pury hat – wie es für einen Geschäftsmann in seiner Zeit üblich war – indirekt am Kolonialismus und Sklavenhandel verdient, aber ebenso viel Gutes für seine Heimatstadt getan. Wie ist denn eine solche Figur aus heutiger Sicht zu bewerten?

Als typisch, exemplarisch für seine Zeit – das gilt auch für seine Darstellung. Im 19. Jahrhundert haben wir in Europa einerseits die Revolutionen und entstehenden Demokratien, die viel übernehmen vom Freiheitskampf der Sklaven in der Karibik, insbesondere von der haitianischen Revolution. Doch während sich die europäischen Gesellschaften demokratisieren, beginnen sie mit der Kolonisierung einer Mehrheit der Weltbevölkerung in Afrika und Asien. Es kommt zu Ausbeutung, Völkermord, der Auslöschung ganzer Kulturen. Die Geschichte ist also ambivalent, und De Pury verkörpert in seiner Person beide Seiten. Und seine Statue ist typisch für die Erinnerungskultur im 19. Jahrhundert, die nur die schönen Seiten zeigt.

 

Missliebig geworden ist auch das Denkmal von Alfred Escher in Zürich. Wie sehen Sie es bei ihm?

Ähnlich.

 

Escher hat nicht einmal selber direkt am Sklavenhandel verdient, wohl aber seine Familie. Gilt in der rückblickenden Betrachtung Sippenhaft?

Nicht wir haben Escher auf den Sockel gestellt, sondern die Menschen im 19. Jahrhundert. Damit müssen wir nun arbeiten. Bei Escher kristallisiert sich ganz viel aus der Gründungszeit des Bundesstaates. Auch in ihm zeigt sich die ganze Ambivalenz, und dabei geht es nicht nur um ihn selber oder die Familie Escher, sondern um die europäische bürgerliche Gesellschaft überhaupt, die ihren Reichtum natürlich im imperialen, kolonialen Kontext erworben und eine Kultur, eine Lebensweise herausgebildet hat, die nur durch die koloniale Expansion möglich war. Gleichzeitig waren solche Figuren Patrioten und Nationalisten, welche die engen Modelle von Geschichte geschaffen haben, die sehr vieles ausgeblendet haben.

 

Wenn man nun aber sagt, Escher müsse weg …

(unterbricht) Ich sage das nicht. Meine Haltung ist: Zelebrieren wir doch die Demokratie und die Freiheit, weil wir eben gerade nicht unter einem Taliban-Regime leben. Wir sind frei, die Art und Weise, wie wir Geschichte vergegenwärtigen, neu zu gestalten.

 

Und wie?

Als solider Demokrat sage ich: Der Prozess dieser Entscheidungsfindung soll demokratisch sein und alle miteinschliessen. Es ist an der Neuenburger oder der Zürcher Gesellschaft zu befinden, wie mit De Pury und Escher zu verfahren ist. Vielleicht kommen diese zum Schluss, die Statuen müssten verschwinden, vielleicht aber auch, dass sie zum Beispiel mit einer zweiten Statue kombiniert werden sollen. Das ist ein offener Prozess.

 

Wer De Pury oder Escher auf die heutige Bewertung von Kolonialismus und Sklavenhandel reduziert, unterschlägt den historischen Kontext.

Dieses Unterschlagen ist aber auch genau das, was die Statuen tun. Sie haben nichts mit Geschichtsschreibung zu tun, das war selbst im 19. Jahrhundert so. Sie sind dazu da, bestimmte mächtige gesellschaftliche Gruppierungen abzufeiern, und nicht um diese wissenschaftlich-kritisch zu kontextualisieren.

 

In England wird von der BLM-Bewegung selbst Winston Churchill nur noch auf den Aspekt des Rassismus hin betrachtet, dabei sind seine Verdienste im Kampf gegen den Faschismus unermesslich. Herrscht da nicht ein verengter Blick auf die Geschichte?

Wenn das tatsächlich so sein sollte, dann ja. Aber ich glaube, das tut niemand, der vernünftig ist. Ich kenne jedenfalls keine Historikerin und keinen Historiker mit einem so einseitigen Blick. Doch auch hier: Es wäre ebenso verengt, nur seine – unbestrittenen! – Verdienste im Kampf gegen den Faschismus zu sehen. Die unzähligen Opfer seiner imperialen Politik in Indien gilt es auch zu berücksichtigen.

 

Theatermacher Milo Rau hat kürzlich auf diese Ambivalenz hingewiesen. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass König Leopold II. in Belgisch-Kongo zwar die Sklavenhaltung der Araber beseitigt hat, aber selber für unfassbares Leid verantwortlich war, an dem Belgien verdiente. Er folgert: «Wir alle sind Leopold II.»

Man muss schon unterscheiden. Figuren wie Escher und De Pury lebten in einem bestimmten System, so wie wir heute in einem System leben, das den Kolonialismus immer noch mit sich trägt. Aber Leopold II. ist eine krasse Figur. Er unterhielt eine Kolonialherrschaft, die selbst für ihre Zeit unglaublich brutal und gewalttätig war. Sogar die anderen Kolonialmächte England und Frankreich kritisierten Belgien für dessen systematische Gewalt. Eine solche Figur würde heute vor dem Internationalen Strafgerichtshof landen.

 

Um zurück zur Schweiz zu kommen…

(unterbricht) Leopold II. hat einen wichtigen Bezug zur Schweiz: Seine engsten Verbündeten waren jene Genfer Philanthropen, Financiers und Juristen, die auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes gegründet haben.

 

Ist denn die ganze Geschichte der Entstehung der modernen Schweiz im 18. und 19. Jahrhundert als rassistisch zu bezeichnen?

Soweit würde ich nicht gehen. Aber sie lässt sich nicht verstehen ohne die Geschichte Europas, und diese lässt sich nicht verstehen ohne die Geschichte des Kolonialismus. Die ganze moderne Welt ist auf Basis von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus entstanden. Das betrifft auch die Schweiz.

 

Die «Globalgeschichte der Schweiz» ist Ihr Spezialgebiet. Verspüren Sie Genugtuung, dass Ihr Fachgebiet nun eine so breite Beachtung findet?

Es freut mich, aber es überrascht mich nicht. Vor allem aber ist erfreulich, dass Lehrpersonen vermehrt Interesse an unseren Erkenntnissen haben. Denn in vielen Schulklassen stellen so genannte Ausländer teils die Mehrheit. Diesen kann man die Geschichte nicht mehr so vermitteln, wie sie mir im Schulalter erzählt wurde. Und mich freut am meisten, wenn mir junge People of Colour sagen, dank meiner Arbeit verstünden sie die Schweiz und ihre eigene Position in diesem Land besser.

 

Sie fordern ganz grundsätzlich, man müsse die Schweizer Geschichte neu denken. Worum geht es Ihnen?

Um Beziehungen. Darum, dass sich Geschichte nicht länger in Abgrenzung denken lässt. Wir können uns nur verstehen, wenn wir begreifen, dass wir in Beziehung zu anderen entstanden sind. Das gilt nicht nur für die Geschichte von Nationen, sondern für die Geschichte der Menschen allgemein. Wir sind nicht mehr die kleine Gruppe bürgerlicher weisser Männer, die entscheiden, was Geschichte ist – sondern wir entwickeln diese im Dialog auch mit jenen früheren Minderheiten, die nun mit am Tisch sitzen.

 

Sie haben letze Woche in der WoZ gefordert, dass im Historischen Lexikon der Schweiz ein Eintrag zum Begriff «Rassismus» aufgenommen werden müsse. Warum ist dies wichtig?

Die Kolonialgeschichte der Schweiz ist ein grosser blinder Fleck in der Geschichtsschreibung, selbst in den neueren, grossartigen Büchern zur Schweizer Geschichte ist dazu wenig zu finden.

 

Sie haben gleich einen Vorschlag verfasst. Darin schreiben Sie, Rassismus behaupte «im Kern» «eine christliche, europäische oder weisse Überlegenheit gegenüber anderen ‹Rassen›, ‹Völkern›, ‹Ethnien› oder ‹Kulturen›». Gibt es aus Ihrer Sicht also keinen Rassismus in Asien?

Das ist etwas komplizierter. In allen Gesellschaften gab es stets Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückung, Gewalt, verschiedene Formen von Sklaverei. Aber die Kultur und Systematisierung des Rassismus, vor allem des wissenschaftlichen Rassismus, das ist ein europäisches Phänomen. Und dieses ist über die kolonialen Bildungssysteme auch in andere Weltregionen «exportiert» worden.

 

Wie erklärt sich denn der Völkermord in Ruanda Mitte der 90er-Jahre?

Dazu gibt es ganz gute Untersuchungen. Vorkolonial gab es dort keine rassischen Kategorien, man konnte als Hutu geboren werden und als Tutsi sterben. Das Bemühen, klare Differenzen und Hierarchien zu ziehen und zu essentialisieren, das ist ein Teil der europäischen Kultur. Diese wurde namentlich von Schweizer Missionaren im kolonialen ruandischen Schulsystem vermittelt. Und dieses System wurde dann für die – durchaus vorhandenen – bestehenden Konflikte zwischen Hutus und Tutsis benutzt, um die eigene Position aufzuwerten.

 

Und wie sieht es mit China aus? Dort gibt es durchaus auch Rassismus.

Der Punkt ist: Der europäische Imperialismus war vor allem kulturell so durchgreifend und erfolgreich, dass wir heute gar keine direkten Bezüge mehr haben zu vorkolonialen nicht-europäischen Wissenssystemen. China konnte sich zwar lange zur Wehr setzen, aber schliesslich hat sich auch das chinesische Bildungssystem am Westen ausgerichtet, zuletzt am kommunistischen Westen. Diese Verwestlichung hatte auch zur Folge, dass man die hiesigen Theorien übernahm und adaptierte. Und dazu gehörte auch die europäische Rassentheorie.

 

Es gab in China vor dem Kolonialismus also keinen Rassismus?

Natürlich gab es Ungleichheiten und Abgrenzungen, schliesslich baute man die chinesische Mauer als Wand gegen die «Barbaren». Aber diese kategorialen Unterscheidungen waren nicht eingebettet in eine derart systematische Lehre von Unterschieden, die man auch an Körpermerkmalen festmachte, wie dies im kolonialen europäischen Rassismus dann der Fall war. Der heutige Rassismus in China hat also weniger mit dem Rückgriff auf Konfuzius zu tun als mit dem Theorieimport während der Republik und vor allem unter Mao.

 

Ihr Fachkollege Georg Kreis hat festgehalten, dass die Schweiz ein «Grundproblem mit Rassismus» habe, «wie fast jedes Land». Ist Rassismus eine Konstante, mithin dem Menschen wesenseigen?

Dass man Unterscheidungen macht, mag eine anthropologische Konstante sein. Man findet auch in der Antike bei Aristoteles Taxierungen, er teilte Pflanzen, Tiere und Menschen in unterschiedliche Kategorien ein. Doch in der historischen Rassismusforschung ist es Konsens, dass jener Rassismus, mit dem wir es heute zu tun haben, nicht auf Aristoteles zurückgeht, nichts mit Konfuzius und fast nichts mit der ayurvedischen indischen Lehre zu tun hat, nichts mit der Maya- oder der Zulu-Kultur in Südafrika.

 

Warum nicht?

Die Verbindung zu diesen Traditionen ist durch den europäischen Imperialismus gekappt worden, diese Wissenssysteme wurden als Aberglaube, als Unwissen taxiert. Alle diese Gesellschaften haben sich europäisiert. Darum hat der heutige Rassismus weltweit seinen Beginn im späten 15. Jahrhundert, da ist eine Zäsur. Die obsessive Systematisierung des Rassismus – in Europa verlegten sich tausende Menschen auf dessen Erforschung – ist ein Phänomen, das erst mit der europäischen Expansion entstand.

 

Übrigens: Von wo kommen Sie?

Ich bin vorhin von zuhause gekommen.

 

Sie vereinen in sich selber ein Stück Migrationsgeschichte.

Ja, ich komme ein bisschen von überall her. Meine Mutter stammt aus Peru, dieses war Teil der europäischen Kolonialisierung, hat indigene Bevölkerung, aber auch einen grossen Anteil asiatischer Migration. Ein Teil meiner peruanischen Familie hat japanische Verbindungen. Mein Vater kommt aus dem Emmental.

 

Die Frage nervt viele People of Colour – aber wenn sie aus ehrlichem Interesse erfolgt, ist sie doch ein Zeichen von Anteilnahme.

Es kommt auf die Art und Weise an, wie man sie stellt. Aus Interesse und respektvoll gefragt, ist sie kein Problem. Aber wenn People of Colour dies mehrmals pro Tag gefragt werden, kann das schon nerven. Sind Sie im aussereuropäischen Raum gereist?

 

Beispielsweise in Afrika. Es kam vor, dass mich Kinder berührten und testen wollten, ob sich die weisse Hautfarbe wegrubbeln lässt.

Sehen Sie – das gibt eine vage Vorstellung davon, wie es ist, wenn man zu einer Minderheit gehört und als Abweichung von der Norm wahrgenommen wird. Das ist anstrengend.

 

Mit der Globalisierung nimmt dies aber ab. Hierzulande ist eigentlich niemand mehr richtig exotisch.

Das sollte man meinen. Und trotzdem wird schwarzen Menschen ständig zu verstehen gegeben, dass sie hier fremd sind, auch wenn sie schon in dritter Generation hier leben und perfekt Mundart reden. Die Frage, woher man kommt, wird dann bald mal lästig.

 

Zur Person

  • Geboren 1975
  • Studium der Geschichtswissenschaft in Bern und Genf
  • Promotion zum Thema «Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900», erschienen im Campus-Verlag
  • Lehrt und forscht an der ETH Zürich, derzeit zur Rolle von Schweizer Söldnern während der holländischen Kolonialkriege im Südostasien des 19. Jahrhunderts
  • Zahlreiche Publikationen zur Globalgeschichte der Schweiz, aber auch zur 68er-Bewegung, zum Antiziganismus oder zur Wissenschaftsgeschichte
  • Lebt in Bern tg

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