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Wochenkommentar

Die Neinsager haben triumphiert – aber lösen können sie nichts

Nach der Europawahl muss sich die EU jetzt eine neue Regierung geben. Es ist ein bisschen wie die Bundesratswahl in der Schweiz, nur zehn Mal komplizierter: Alle Sprachregionen wollen irgendwie berücksichtigt sein.

Matthias Knecht, Blattmacher

Natürlich versucht auch jeder der bald nur noch 27 Mitgliedsstaaten, ein paar wichtige Posten in Brüssel zu sichern. Die reichen Länder des Nordens achten darauf, die ausgabefreudigen Südländer einzudämmen, und die neuen Mitglieder im Osten wollen sich wirklich nicht mehr alles von den Platzhirschen aus Westeuropa vorschreiben lassen. Immerhin gibt es auch Verbindendes, etwa die gemeinsame Sorge, dass gefühlt 99 Prozent aller Chefbeamten in Brüssel Deutsche sind. Die hat man bekanntlich umso weniger gern, je effizienter sie sind, was nicht nur in der Politik gilt.

Hinzu kommt der nunmehr offene Machtkonflikt zwischen EU-Kommission (Schweizer Pendant: Bundesrat), EU-Parlament (Nationalrat) und dem Europäischen Rat (Ständerat). Und doch sind das alles Konflikte, die innerhalb Europas courant normal sind. Diese Art von Herausforderungen hat man in den bisher 61 Jahren der Europäischen Union und ihrer Vorgängerinstitutionen am Ende noch immer gemeistert. So, wie auch die föderale Schweiz am Ende ihre Konflikte immer gelöst hat.

Was aber neu ist, und was die Regierungsbildung auf europäischer Ebene so schwierig wie noch nie macht, ist der Erfolg der Neinsager-Parteien. Die Lega in Italien, Le Pens Rassemblement National in Frankreich, die Alternative für Deutschland (AfD), die Brexit-Partei in Grossbritannien: Sie alle sagen Nein zu offenen Grenzen, Nein zum freien Personenverkehr und freien Handel, Nein zu den zentralen Versprechen der europäischen Einigung. Damit haben sie letzte Woche riesige Erfolge erzielt. Mehr als ein Viertel der Sitze im EU-Parlament gehen jetzt an Neinsager-Parteien. Die etablierten Volksparteien hingegen, nämlich die Christlichdemokraten, die Sozialdemokraten und die Liberalen, haben keine Chance mehr auf stabile Mehrheiten.

Das gleiche Phänomen ist in immer mehr europäischen Ländern zu beobachten: In Österreich ist gerade die Regierungskoalition mit der Neinsagerpartei FPÖ zerbrochen. In Spanien, wo man sowohl links als auch rechts starke Neinsagerparteien hat, droht jetzt ein langes Patt, nachdem das Land aus dem gleichen Grund schon 2016 ein Jahr lang ohne reguläre Regierung war. In Belgien sind solche epischen Regierungsbildungen ohnehin chronisch, und selbst das vermeintlich stabile Deutschland steuert auf ein Patt zu, verliert doch die grosse Koalition täglich an Popularität, während die AfD-Neinsager gerade wieder Triumphe feiern.

Das krasseste Beispiel ist Grossbritannien, wo das Neinsagen Brexit heisst. Knapp drei Jahre nach dem Referendum herrscht in der Innenpolitik die totale Blockade. Die traditionellen Parteien sind am Boden, während Kapital, Wohlstand und Arbeitsplätze ins Ausland abwandern. Einen besseren Beweis dafür, dass das Nein nichts löst, gibt es nicht. Daran kann auch der noch zu wählende Nachfolger der glücklosen Premierministerin Theresa May nichts ändern, ganz gleich, ob es Boris Johnson sein wird oder jemand anderes.

Nein zu sagen ist nicht einfach das Gegenteil von Jasagen. Es ist vielmehr die trotzig-infantile Weigerung, überhaupt Sachpolitik zu betreiben. So kommt es zu einem absurden Widerspruch: Während den Neinsager-Parteien die enttäuschten Wähler zulaufen, haben sie Mühe, Politiker zu finden. In Ostdeutschland etwa, wo neben den Europawahlen auch Kommunalwahlen durchgeführt wurden, hat die AfD jetzt gar nicht genügend Kandidaten, um all die gewonnenen Sitze in Gemeinde- und Stadträten zu besetzen. Das ist ja auch verständlich: Welcher vernünftige Mensch will sich schon dafür hergeben, von Amts wegen ständig Nein zu sagen? Und es zeigt überdeutlich: Genau die Parteien, die sich gerne als Alternative zum etablierten System anpreisen, sind gar nicht in der Lage, vernünftige Politik zu machen.

Sachpolitik setzt nämlich voraus, zu etwas Ja sagen zu können, etwas, das reife und kompromissfähige Menschen auszeichnet. Welche Wirtschaftsordnung wollen wir, welche Sicherheitspolitik, welche Regeln für die Einwanderung? Das lässt sich schlicht nicht im Alleingang lösen, auch wenn uns das die Neinsager weismachen wollen. Sondern nur im respektvollen Dialog, mit den anderen Parteien, mit den Nachbarländern und auch mit den EU-Institutionen, selbst wenn einem diese nicht passen. Mit anderen Worten: Helfen würde auch auf europäischer Ebene ein Politikstil wie in der Schweiz. Ein bisschen jedenfalls.

mknecht@bielertagblatt.ch

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