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Unterhaltung

Wenn der Zuschauer entscheiden darf

Mit «Bandersnatch» zeigt Netflix erstmals einen interaktiven Film. Das gibt zu reden. Aber auch der Streamingdienst kämpft mit den Problemen, die man seit über 20 Jahren mit solchen Filmen hat.

Annehmen oder doch ablehnen? Der Zuschauer darf selber entscheiden, wie die Geschichte weitergeht, Bild: zvg
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Simon Dick

Ein Wohnzimmer mit alten Möbeln und eigenwilliger 80er-Jahre-Dekoration. Zwei junge Männer sitzen sich gegenüber. Der eine sucht etwas in seiner Tasche. Mit einem verschmitzten Lächeln zieht er ein LSD-Plättchen hervor, legt es sich voller Vorfreude auf die Zunge und reicht seinem Gegenüber ebenfalls ein Exemplar. Der Trip beginnt.  Wie wird er enden? Der Zuschauer darf entscheiden.

Um was geht es eigentlich?
Der in sich gekehrte und psychisch labile Stefan Butler (Fionn Whitehead) möchte in den 80er-Jahren unbedingt ein eigenes Computerspiel entwickeln. Und zwar nicht irgendeines, sondern eine Software, die auf dem berühmten Science-Fiction-Roman «Bandersnatch» basiert. Im Spiel geht es hauptsächlich um das Durchqueren eines digitalen Labyrinths, wo es immer wieder Begegnungen mit Pixel-Kreaturen gibt und sich der Spieler für einen weiteren Weg, eine neue Aktivität entscheiden muss. Ob und wie er dieses Computerspiel fertig programmiert und wie erfolgreich es bei den Kritikern ankommt, liegt dabei in den Händen der Zuschauer.

Wie funktioniert das alles?
An bestimmten Stellen im Film wird die Szene pausiert. Nun muss man sich innerhalb eines kurzen Zeitlimits zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten entscheiden. Mittels Fernbedienung oder Gamecontroller, je nachdem mit welchem Gerät man den Streamingdienst Netflix konsumiert, wechselt man zwischen den zwei Möglichkeiten hin und her und drückt anschliessend eine Taste, um die Auswahl zu bestätigen.

So muss man sich beispielsweise zwischen zwei Cornflakes-Sorten zum Frühstück entscheiden oder welche Schallplatte man im Musikladen kaufen möchte. Nebst diesen simplen Entscheidungen, die kaum Auswirkungen auf den weiteren Filmverlauf haben, warten aber noch etwas komplexere Aufgaben: Soll man mit dem Vater zur Psychiaterin fahren oder doch lieber unterwegs einem auftauchenden Arbeitskollegen folgen. Je nach Entscheidung nimmt die Geschichte einen anderen Verlauf und kommt schliesslich auch zu einem unterschiedlichen Ende, mit dem man sich zufriedengeben muss. Natürlich kann man die Geschichte aber immer wieder von vorne neu erleben oder erhält gar in bestimmten Momenten nochmals die Möglichkeit, sich doch noch neu zu entscheiden, weil man in eine inhaltliche Sackgasse läuft.

Keine Revolution
«Bandersnatch» wird auf Netflix als grosse Unterhaltungs-Revolution beworben. Doch interaktive Filme gibt es schon lange. Als die CD in den frühen 90er-Jahren als Datenträger den Massenmarkt eroberte, wurden interaktive Filme in der Unterhaltungsbranche bereits populär. Dabei wurden meistens kurze Trickfilmsequenzen oder Filmbeiträge mit echten Schauspielerinnen und Schauspielern abgespielt, bei denen der Spieler oder der Zuschauer immer wieder aktiv Einfluss nehmen konnte. Die Interaktion hielt sich aber stark in Grenzen.

Damals erschienen für Heimcomputer und Videospielkonsolen zahlreiche Abenteuer. Auch wenn durch die noch schwache Technik die Optik stark pixelig war, erfreuten viele kurze, billig produzierte interaktive Filme so manche Spielerinnen und Spieler. Der anfängliche Boom fand in den 90ern jedoch schnell wieder ein Ende. Die Qualität der Videos mitsamt der Leistungen der Laiendarsteller waren miserabel. Alle Produkte  blieben auf einem niedrigen Niveau und bald hatte man wieder genug von solchen interaktiven Filmen.

Durch die Verbreitung des Internets gab es später eine Vielzahl von Online-Projekten, die meistens von jungen Filmstudenten realisiert wurden und diese Form der Unterhaltung wieder aufnahmen. Auch die Werbebranche hat diese Unterhaltungsform heute für sich entdeckt und arbeitet oft mit jungen Filmregisseuren zusammen, um aufsehenerregende Inhalte zu präsentieren und im Netz zu verbreiten.

Höhepunkt der Interaktion vor dem Bildschirm war das Kinoprojekt «Late Shift», das vor knapp drei Jahren für Aufsehen sorgte (das BT berichtete). Das Publikum stimmte via App über den weiteren Verlauf der Thriller-Geschichte ab. Mittels Mehrheitsprinzip wurde der Ausgang der Geschichte bestimmt. Trotz interessanter Mitmach-Funktion konnte auch dieses Projekt den grossen Durchbruch nicht feiern.

Gute Technik, schwacher Inhalt
Zurück zum jüngsten Wurf dieser Unterhaltungsgattung:Auf der technischen Seite macht «Bandersnatch» alles richtig, respektive liefert das, was man von einem interaktiven Film auch erwarten darf. Wer noch nie während eines Films entscheiden konnte, in welche Richtung alles verläuft, der wird aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Denn formal ist «Bandersnatch» perfekt auf ein Massenpublikum zugeschnitten, das durch den Streamingdienst Netflix überhaupt zum ersten Mal auf diese Form der Unterhaltung aufmerksam gemacht wird. Für den Kenner, der bereits in den frühen 90er-Jahren solche Filme begutachten durfte, wird das Rad keineswegs neu erfunden. Im Gegenteil: Die Simplizität dieser seichten Unterhaltungsform ist auch hier allgegenwärtig.

Inhaltlich muss sich «Bandersnatch» Kritik gefallen lassen. Der Film gehört zur «Black Mirror»-Reihe, jene Serie auf Netflix, die mit ihrem düsteren, sozialkritischen Unterton jedes Mal aufs Neue für Furore und Diskussionsstoff sorgt (das BT berichtete). Vor allem die gut erzählten Einzelgeschichten und die kompromisslosen Schlussakte mit grossem Überraschungseffekt zeichnen die Serie eigentlich aus. Doch «Bandersnatch» lässt diese Merkmale schmerzlich vermissen. Die Geschichte ist simpel, fast schon langweilig und kommt aus dem Einheitsbrei nicht heraus. Zwar wird gegen Ende dramaturgisch nochmals Gas gegeben und der Zuschauer gerät durch unvorhergesehene Wendungen noch tiefer in die Geschichte hinein, aber diesen interaktiven Film hat man trotzdem leider sehr schnell wieder vergessen.




Audiobeitrag zu «Bandersnatch»

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