Sie sind hier

Abo

Andenes

Dunkel? Alles eine Frage der Einstellung

Am Sonntag beginnt bei Stefan Leimer in Andenes die Polarnacht. Das bedeutet aber nicht, dass es nun anderthalb Monate lang zappenduster ist. Einige helle Stunden gibt es trotzdem. Und weiter sorgen Stirnlampen und blinkende Hunde für gute Stimmung.

Bild: zvg
  • Dossier
Stefan Leimer
 
Am Sonntag geht bei uns in Andenes die Sonne zum letzten Mal auf. Wobei aufgehen ein sehr dehnbarer Begriff ist. An diesem Tag kommt sie um 11.15 Uhr über den Horizont, um 12.11 Uhr geht sie bereits wieder unter. Ab diesem Zeitpunkt herrscht die sogenannte Polarnacht. Als Polarnacht wird der Zeitraum vor und nach der Wintersonnenwende am 21. Dezember bezeichnet.
 
Was klingt wie die düstere Ankündigung für eine apokalyptische Zukunft, ist ein einfach zu erklärendes Naturphänomen. Die Polarnacht resultiert aus der Tatsache, dass die Erde mit einer Neigung von 23,4 Grad um die Sonne kreist. Somit ist die Region um den Nordpol im Winter der Sonne abgewandt und liegt im Dunkeln. Während mindestens eines Tages steigt dann die Sonne nicht über den Horizont. Die errechnete Hell-Dunkel-Grenzlinie, der nördliche Polarkreis, liegt auf 66,5 Grad nördlicher Breite. Je näher man am Nordpol ist, desto länger dauert die Polarnacht: am Nordpol fast ein halbes Jahr; am Polarkreis hingegen nur einen Tag.
 
Es ist aber nicht so, dass am Sonntag das Licht einfach ausgeknipst wird. Das liegt unter anderem an der indirekten Sonnenstrahlung, Refraktion genannt. Die Brechung der Sonnenstrahlen in der Erdatmosphäre sorgt dafür, dass die Sonne noch zu sehen ist, obwohl sie sich eigentlich schon unter dem Horizont befindet.
 
Hunde blinken wie Christbäume
Wirklich stockdunkel wird es bei uns, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, während der Polarnacht nur an einigen wenigen Tagen. In den ersten Tagen der Polarnacht sorgt die flach stehende Sonne regelmässig für wunderbare Lichtstimmungen. Gegen die Weihnachtstage hin herrscht über Mittag eine Art bläuliche Dämmerungsphase, und Mond und reflektierender Schnee sorgen für mystische Lichtstimmungen. Bei klarem Himmel wird die Polarnacht zudem durch geheimnisvolle Nordlichter erhellt.
 
Der Alltag kommt in dieser Jahreszeit nicht zum Stillstand. Alles nimmt seinen geregelten Lauf. Bauarbeiten im Aussenbereich werden im Licht von starken Scheinwerfern durchgeführt. Spaziergänger tragen über den dicken Winterjacken gelbe, reflektierende Leuchtwesten und ihre Hunde blinken wie amerikanische Christbäume um die Wette. Viele Fahrzeuge sind mit Zusatzscheinwerfern ausgerüstet, die bei Überlandfahrten die Nacht zum Tage machen.
 
Bei Schneeschuhwanderungen und Skitouren auf die umliegenden Berge ist die Stirnlampe ein Muss. Langlaufloipen hingegen sind grosszügig beleuchtet. Wie ein goldenes Band zieht sich die Spur durch die verschneite Landschaft. 
 
Der Langlauf hat in Norwegen eine jahrhundertalte Tradition. Schon vor 4000 Jahren nutzte man in Skandinavien Skier, um möglichst schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen. Felszeichnungen und über zwanzig prähistorische Funde bezeugen die lange Skitradition im hohen Norden. Während sich weltweit der alpine Skilauf durchgesetzt hat, ist Norwegen eine ausgeprägte Langlaufnation geblieben. Der norwegische Ausdruck für Ski stammt übrigens vom Wort Holz-«Scheit» ab, da in den Anfangszeiten flache Holzscheite als Skier verwendet.
 
«Wir mögen Winter»
Aber grundsätzlich ist die von den Norwegern «mørketid» genannte Polarnacht die Zeit, in der man es sich zu Hause gemütlich macht und alles etwas geruhsamer angehen lässt. «Kose seg» – sich verwöhnen – nennen die Norweger das.
 
Wenn immer es der Arbeitsplan zulässt, nutzen wir die wenigen Stunden mit Restlicht für Spaziergänge. Die übliche Freizeit und die Abendstunden verbringen wir mit lesen, stricken, spielen oder Filme schauen, während das Feuer im Schwedenofen eine behagliche Wärme verströmt. Auf unsere innere Uhr können wir uns nicht verlassen. Die Tage werden zwar kürzer, das wenige Licht gibt uns aber immer noch den Takt für den Tagesablauf vor; auch wenn Morgengrauen und Abenddämmerung fliessend ineinander übergehen. 
 
Um den langen Winter gut zu überstehen, hilft eine positive Grundeinstellung. So hat die Arktische Universität in Tromsø aufgrund von Studien herausgefunden, dass die lokale Bevölkerung eine Art «wintertime mindset», also die richtige Einstellung zum Winter hat. Weitere Analysen zeigen, dass Menschen, die weiter nördlich in Norwegen leben, eine positivere Einstellung zum Winter haben als Menschen, die im Süden des Landes leben.
 
Dem können wir grundsätzlich zustimmen. Wir mögen Winter, Schnee und gemütliche Abende vor dem Kamin. Und gegen die Kälte kann man sich mit guter Kleidung schützen. Wir versuchen, die Polarnacht nicht zu ertragen, sondern zu geniessen. Manchmal mit mehr Erfolg, manchmal mit weniger Erfolg.
 
Am 13. Januar wird gefeiert
Früher stellten die Menschen in den Küstenorten Laternen in die Fenster, damit die Fischer nach Hause fanden. Heute steht in vielen Fenstern eine kleine Lampe, die nie ausgeschaltet wird. Kein Mensch würde das hierzulande als Energieverschwendung einstufen. Wo früher ein paar wenige Kerzen brannten, leuchten heute viele elektrische Lichter. Von den älteren Generationen gefällt das nicht allen: «Die mørketid hat ihre Seele verloren», finden sie.
 
Am 13. Januar um 11.43 Uhr wird die Sonne das erste Mal wieder direkt auf Andenes scheinen. Die Schulen organisieren anlässlich dieses Datums jedes Jahr einen kleinen Begrüssungsspaziergang am Strand.
 
Wenn die Polarnacht hinter uns liegt, werden Morgengrauen und Abenddämmerung wieder fliessend ineinander übergehen. Aber jetzt werden die Tage schnell länger. Am 1. April wird die Sonne bereits um 6 Uhr auf- und erst um kurz vor acht wieder untergehen.
Stichwörter: Andenes, Fernweh

Nachrichten zu Fokus »