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Melbourne

Ein Licht am Ende 
des Tunnels

Während sich die Covid-19-Fälle in der Schweiz wieder häufen, wagt sich Melbourne erstmals, die Coronamassnahmen vorsichtig zu lockern. Familie Tschilar freut sich riesig – fragt sich allerdings, wie lange sie die Freiheiten wird geniessen können.

Symbolbild: Keystone
  • Dossier

Andy Tschilar

In zwei Tagen ist es schon November, überall kann man bereits Weihnachtsartikel bestellen und hier in Melbourne sind wir seit 113 Tagen im Lockdown. Nach einem sehr langen trostlosen Winter mit Lockdown der Stufe 4 - der wohl zu den härtesten der Welt zählt - setzt sich Melbourne dafür ein, wieder in Bewegung zu kommen.

Mit einem 14-Tage-Durchschnitt von weniger als 4,5 positiven Fällen pro Tag ist Melbourne nahezu coronafrei. Den zweiten Tag in Folge hat Melbourne keine neuen Covid-19-Fälle gemeldet. Überall in den sozialen Medien sieht man Einheimische auf Fotos mit Donuts. Donuts, das grosse O, um null Fälle zu feiern! In ganz Melbourne wurde eine Rekordmenge an Donuts verkauft.

Es bleibt jedoch abzuwarten, wie lange dieser Jubel anhält. Während die Medien behaupten, dies sei eine wunderbare Leistung unserer Staatsregierung, bleibt die Frage offen: Wie lange bleiben unsere Fälle bei null? Und sollten wir uns nicht mehr für die Qualität unseres Gesundheitssystems oder die Möglichkeit interessieren, einzelne Fälle von Covid-19 mit Medikamenten zu behandeln, um Todesfälle zu verhindern und schwere Krankheiten einzudämmen, als für die tatsächliche Anzahl von Covid-19-Erkrankungen in der Gesellschaft?

 

Keine Ausgangssperre mehr

Es gibt viele Leute, die glauben, wir werden nie wieder zurück in den Lockdown müssen. Die anderen freuen sich wieder über die vorübergehende Gewährung von einstigen Freiheiten. Derzeit dürfen wir uns in Melbourne immer noch nur in einem Umkreis von 25 Kilometern von unserem Zuhause bewegen. Seit Mittwoch ist unser Ausgang aber nicht mehr limitiert auf Sport und Einkaufen, jetzt dürfen wir uns auch wieder mit Freunden im Park treffen. Zwar immer noch limitiert auf zehn Personen, aber wir geniessen das sehr. Die nächtliche Ausgangssperre ist jetzt auch aufgehoben.

Seit dem 27. Oktober, 23.59 Uhr, sind auch unsere Restaurants, Cafés und Einzelhandelsgeschäfte wieder geöffnet. Restaurants und Cafés durften nur Take-Away anbieten, während einige wichtige Einzelhandelsgeschäfte nur Click-and-Collect-Dienste anbieten durften, wobei die Kunden ihre Artikel direkt aus einem Lager abholen konnten, jedoch nur zu vereinbarten Öffnungszeiten. Man kann mit Recht sagen, dass die drei Branchen, die von dieser Pandemie in Victoria wirtschaftlich am stärksten betroffen sind, die Restaurants/Cafés, der Tourismus und die Einzelhandelsgeschäfte sind.

 

Endlich wieder an den Strand

Da Weihnachten vor der Tür steht, konnte dieser erste Schritt aus dem Lockdown nicht früh genug kommen. Viele werden 
in Victoria feiern, da wir immer noch Beschränkungen haben, was das Reisen zwischen den verschiedenen Staaten betrifft. Auf den sozialen Medien geht auch der Aufruf umher, die kleinen Geschäfte zu unterstützen, und nicht alle Weihnachtsgeschenke bei Amazon oder bei Grossanbietern zu bestellen. Für diese Unternehmen gelten jedoch weiterhin strenge Massnahmen. Nicht mehr als zehn Personen gleichzeitig in einem Raum und für Restaurants nicht mehr als 50 Personen draussen sitzend, natürlich mit 1,5 Meter Abstand zwischen den Tischen.

Coiffeure und Schönheitssalons werden nun auch wieder geöffnet, dürfen aber nur gewisse Sachen anbieten, bei denen eine Person während einer Behandlung eine Maske tragen kann. Unser Premier, Dan Andrews, hat angekündigt, dass die Einwohner aus Metro Melbourne ab dem 
8. November auch wieder in das regionale Victoria reisen dürfen. Dies wird ein unglaubliches Gefühl sein, denn seit Monaten durften wir Melbournier überhaupt nirgends mehr hin. Jetzt, wo das Wetter immer wärmer wird und die Sonne scheint, wollen alle an den Strand oder aufs Land, in die Wälder zum Spazieren, und wieder all die schönen Orte besuchen, die Melbourne in den vergangenen Jahren zur «most liveable city» der Welt gemacht haben.

 

Nervös, wie am ersten Schultag

Während wir alle uns wieder freier bewegen dürfen, können auch die Kinder endlich wieder zur Schule. Es war wie am ersten Schultag, als Benjamin (8. Klasse) letzten Montag zu mir sagte: «Ich bin ein wenig nervös. Ich habe meine Freunde seit Anfang März nicht mehr gesehen.» Und er ist damit nicht alleine. Meine Freunde erzählten mir, dass sich ihre Kinder genauso fühlten. Ist ja irgendwie auch verständlich in dem Alter. Die Pubertät setzt ein, Mädchen und Jungen tasten sich langsam ans Erwachsensein heran, und dann setzt man sie einfach für sechs Monate an einen Computer ins Homeschooling. Obwohl das ganze Online-Learning sehr erfolgreich durchgeführt wurde, fehlten einfach der menschliche Kontakt und das soziale Zusammensein.

Jetzt ist es aber schon eine Woche her, und beide Kinder stehen morgens wieder ohne Probleme und selbstständig auf und freuen sich, mit ihren Freunden in der Schule zu sein. Benjamin beginnt in diesem Semester mit dem Rudern als Schulsport. Er hat auch das Glück, weiterhin an musikalischen Percussion-Ensembles teilnehmen zu können. Isobel lernt immer noch Trompete, auch wenn die Lektionen via Zoom stattfinden. Letzte Woche wurde sie in den australischen Mädchenchor aufgenommen. Das Singen kann aber erst wieder losgehen, wenn die Covid-19-Beschränkungen vollständig aufgehoben sind.

 

Basteln, backen und feiern

Es gibt noch keinen klaren Plan, wie Weihnachten in Melbourne aussehen wird. Wir hoffen natürlich, dass die zwischenstaatlichen Beschränkungen erheblich aufgehoben werden und die Menschen frei reisen können. Wir hoffen, dass die Regierung Victorias dem «Contact-tracing»-Modell von New South Wales folgt, das in Bezug auf das Gleichgewicht zwischen Wirtschaft und öffentlicher Gesundheit 
wesentlich erfolgreicher war.

Trotz eines sehr harten Winters fühlen wir uns gut und aufgeregt für Weihnachten im Sommer. Unabhängig davon, welche Einschränkungen zu Weihnachten noch bestehen, sind wir entschlossen, diese besondere Jahreszeit zu feiern. Zuhause wird gesungen. Hausgebackene Mailänderli, Grittibänze, selbstgemachter Glühwein, Weihnachtsdekorationen, Liebe und viel Dankbarkeit.

Wir werden Weihnachtskarten schreiben, mit den Kinder basteln, den Weihnachtsbaum schmücken und mit der jetzt perfekt funktionierenden Zoom-Videokonferenz unsere Familie in der Schweiz zuschalten und zusammen feiern!

Wir sind dankbar, dass uns Andys Familie letztes Weihnachten besucht hat. Niemand hätte sich jemals vorstellen können, dass dies diese Weihnachten nicht möglich wäre.

Info: Der gebürtige Gampeler Andy Tschilar lebt mit seiner Frau Melissa und den Kindern Isobel (7) und Benjamin (13) in einem Vorort von Melbourne. Er arbeitet als Elektro-Projektmanager; Melissa ist als Beraterin für Küchendesign tätig.

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