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Ein Lob der Badewanne

Badewannen haben es in sich: Nicht nur die emaillierten, bauchigen Exemplare mit ihren gusseisernen, verzierten Füssen, nein auch die modernen, die sich nahtlos in eine Badelandschaft eingliedern und natürlich auch die postmodernen mit ihren leichten Glas- und Metallkonstruktionen.

Bild: Markus Waldvogel

Alle Arten von Badewannen verströmen eine Atmosphäre von Behaglichkeit, ja 
Luxus; in wie vielen Filmen stehen nicht Kerzen und Champagnergläser rund ums Bad und weiche Tücher sowie angenehme Massagebürsten liegen in Reichweite?

Das Wort «Luxus» verweist auf Verschwendungssucht, «luxuria» war eine der sieben Todsünden. Die Bäder standen aber immer auch für «Wohlergehen», Gesundheit und natürlich für soziale Kontakte – mit ihren oft leicht anrüchigen Anstrichen. Der Luxus der Badewanne wäre so gesehen eine Eintrittspforte ins gute Leben. Das gute Leben mit einem sehr lebensfreundlichen, sinnlichen Akzent.

Ich habe das Baden in der Wanne seit meiner Kindheit genossen. Die Momente der Entspannung, der schweifenden Gedanken, des fast meditativen Nichtstuns. Als Schaumbäder ökologisch noch unbedenklich waren, träumte ich mich in die künstlichen Berge aus kleinen Bläschen hinein, sah Figuren, Landschaften, Bewegungen als wäre ich in der fernen Antarktis gelandet. Auf den Plättchen oberhalb der Badewannen entdeckte ich Skizzen von Tieren, Höhlen und Meeresklippen. Kleine Unebenheiten beflügelten meine Fantasie und liessen mich zum Tagträumer werden.

Ich wurde still, döste vor mich hin und genoss den Rückzug auf ein paar Kubikmeter voll warmem Wasser. Nietzsche sagte einmal: «Die grössten Ereignisse – das sind […] unsre stillsten Stunden.» Stille heisst in diesem Sinne ein Aussetzen des Bekannten, Umbruch und Möglichkeit.

Tatsächlich bieten mir meine Badewannenträume auch heute noch die Möglichkeit von Ausbrüchen; ich stelle mir verrückte Dinge vor: Sind diese nun wirklich? Oder spielt mir meine Vorstellungskraft Streiche? Sehen andere Badende ähnliche Dinge? Versetzen sie sich auch an den Nordpol? Schweben sie ebenfalls auf Wolken?

Immer wieder denke ich während des Badens, dass die kleinen Wahrnehmungen, die verrückten Gedanken, ja, überhaupt alle Vorstellungen ebenso Wirklichkeit seien wie die Experimente in der Physik. Ich wundere mich, dass an den offiziellen Orten der Bildung kaum je über derart bereichernde Orte wie die Badewannen gesprochen wird. Was machen denn alle Menschen mit ihren «kleinen», verrückten Gedanken im Bade, wenn diese «nur» privat sind? Könnte diese Kreativität der Stille nicht genutzt werden? Muss sie direkt genutzt werden oder ist sie einfach ein schöpferisches Rauschen im Hintergrund des Denkens, das den Menschen ein Potenzial für Ungewöhnliches schenkt?

Eigentlich wäre das wunderbar. Das Sprichwort «Den Seinen schenkt’s der Herr im Schlafe!» wandelt sich zu: «Den Seinen schenkt’s der Herr im Bade!» Geschenkt wird einem im Bade allerdings nichts. Die Bereitschaft abzuschalten, ist die Voraussetzung für die Kraft der Stille. Da gibt es kein Wenn und Aber. Ich muss die Stille – auch in der Badewanne – wollen. Quietschende Plastiktierchen verhindern ebenso das Wohlergehen im Bade wie eine überorganisierte Schaumweinlandschaft. Der wahre Luxus der Badewanne liegt im Angebot: Sei still!

Ein gestilltes Kind ist ruhig und zufrieden. Ein erwachsener Mensch dagegen ist nach einem stillen Bade wach und bereit für Neues. Er nutzt die erlebten Momente. Normalerweise kann sich die Stille gesellschaftlich kaum durchsetzen. Wer den Lärm stören will, muss lauter werden als der herrschende Lärmpegel. Die Stille steht da völlig im Abseits. Aber im stillen Bade, in der Badewanne, gedeihen subversive Gedanken. Sie haben Maulwurfpotenzial und sie sind der Stoff, aus dem die Künste sind und von dem auch die Literatur lebt.

Die Literatur Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk schreibt: «Die Literatur ist zu einem Ort geworden, an dem Erfahrungen ausgetauscht werden, zu einer Agora (grosser Marktplatz), auf der jeder Einzelne von seinem Schicksal erzählen oder einem Alter Ego das Wort erteilen kann. Ein demokratischer Raum: Jeder und jede darf das Wort ergreifen …»

So gesehen ist ein Lob der Badewanne staatsbürgerliche Pflicht.

Info: Markus Waldvogel ist 69 Jahre alt und schreibt Essays, Kolumnen, Sachbücher und Poesie. Er befasst sich mit Fragen der Einzigartigkeit, der Wahrnehmung und der Ästhetik. Seine Publikationen sind unter anderem im Verlag Die Brotsuppe und im 
Passagen-Verlag erschienen. 


Markus Waldvogel

 

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