Sie sind hier

Abo

Titelgeschichte

Eine Pionierin auf einem uralten Beruf

Aus Weidenruten flicht Jolanda Kohler in ihrem Safnerer Atelier Eigenkreationen oder repariert alte Korbsachen. 
Weil sie nichts wegwerfen kann, betreibt sie zudem eine Brocki.

Jolanda Kohler flicht im Auftrag eines Kunden mehrere Osterkörbchen. Bild: Peter Samuel Jaggi

Text: Andrea Butorin
 Bilder: Peter Samuel Jaggi

Die Schürze umgebunden, steht Jolanda Kohler an ihrem Arbeitstisch. Vor sich ein paar bereits geflochtene, runde flache Teile. Sie greift sich eines und flicht Weidenruten ein, die nun wie Sonnenstrahlen daraus ragen. Zack, zack, zack. Sie webt eine weitere Rute so flink in dieses Gebilde, dass das Auge kaum folgen kann.

Der Boden erhält einen Rand, und das Ganze ergibt eines von mehreren Osterkörbchen, die ein Kunde in Auftrag gegeben hat. «Für so einen Auftrag sollte man nicht länger als anderthalb, zwei Stunden haben», sagt Jolanda Kohler und lacht. Schliesslich ist sie ihre eigene Chefin, und niemand steht mit der Stoppuhr neben ihr und misst ihre Arbeitsdauer.

Wer die Tür zu ihrem Safnerer Flechtatelier «Joko Design» mit integrierter Brockenstube betritt, findet sich in einem kleinen Reich voller Trouvaillen wieder: selbstgeflochtene Dekoschalen, bemalte Blumenvasen, Kerzen oder Windspiele aus Naturmaterialien. Aber das ist erst der Anfang. Der nächste Raum bildet das Herzstück von Jolanda Kohlers Reich. Einst wurde hier Brot gebacken, heute hat sie hier ihre Werkstatt. Um ihren Arbeitstisch hat sie verschiedene Stühle drapiert, die allerdings nicht auf Zuschauende warten, sondern darauf, repariert zu werden.

Auch hier gibt es antike Möbelstücke, gefüllt mit feinem Geschirr, an der Decke hängen Taschen aus Stoff und von Kohler geflochtene Clutches, daneben Hutten wie für den Osterhasen persönlich gemacht.

Erst wer länger verweilt, bemerkt: Jolanda Kohler arbeitet nicht nur, sondern lebt auch in diesen Räumen. Ein Perlenvorhang verhindert neugierige Blicke aus dem Atelier in die private Stube, daneben gibt es eine Küche und ein Bad.

 

Ein geflochtenes Bett

Auf ihrem uralten Beruf ist Jolanda Kohler eine Pionierin. Fast 30 Jahre lang hatte sich in der Schweiz niemand mehr zum Korbflechter oder zur Korbflechterin ausbilden lassen, ehe sie dieses Berufsziel ins Auge fasste.

Als Gehörgeschädigte arbeitete sie Ende der 70er-Jahre in der Sesselflechterei der Blindenwerkstätte Bern. «Weil mir die Arbeit gefiel, fragte ich, ob ich eine Ausbildung absolvieren könnte, dann haben sie ein altes Berufsreglement von 1948 ausgegraben.» Die Berufsschule absolvierte sie an der Kunstgewerbeschule Bern. Heute heisst das Berufsbild Flechtwerksgestalter/in. Hüterin über die Berufsbildung ist die Interessengemeinschaft Korbflechterei Schweiz, der auch Jolanda Kohler angehört – gerade einmal 34 Betriebe sind auf der Website der IG in der ganzen Deutschschweiz aufgelistet.

Schon 1982 hatte Jolanda Kohler in Orpund ein eigenes Geschäft. Es folgten einige berufliche Abstecher, ehe sie sich vor 15 Jahren in Safnern in den Räumen einer früheren Bäckerei erneut selbstständig machte. Hier repariert sie, kreiert neue Formen und gestaltet auf Bestellung – Nützliches und Dekoratives.

Ihr «Gesellenstück» ist ein selber kreiertes Bett aus Holz mit Weidenumrahmung, das sie auf Mass herstellt. Ihre Schwester Anita Marti-Kohler unterstützt sie als Fotografin beim Dekorieren der Schaufenster oder beim Gestalten von Ausstellungen. Als ihre Mutter noch lebte, betrieben sie gemeinsam unzählige Marktstände vom Seeland bis ins Wallis.

Wer in Jolanda Kohlers Werkstatt steht, hat immer noch erst die Hälfte aller Räume gesehen. Dahinter befindet sich ein Raum voller Brockenhaus-Artikel. Kohler hat nach dem Tod ihrer Mutter angefangen, Brocki-Artikel zu verkaufen. «Wir waren sechs Kinder und hatten nichts. Da lernten wir unweigerlich, nichts wegzuwerfen», sagt sie.

 

Weiden aus aller Welt

Je näher man dem Hinterausgang kommt, desto stärker steigt einem ein eigentümlicher säuerlicher Geruch in die Nase. In einem Brunnentrog liegen Weidenruten in Wasser eingelegt, damit sie biegsam werden. Sie sondern die geruchsintensive Säure Salicin ab, aus der Medizin hergestellt wird (siehe Infobox «Weiden als Heilpflanzen»). «Anschliessend den Trog zu putzen ist nicht meine liebste Arbeit», sagt Kohler lachend.

Im Keller lagern in weiteren Räumen Weiden und Rattan jeglicher Länge und Dicke. Ihr Arbeitsmaterial bezieht Jolanda Kohler aus aller Welt: aus Polen, Frankreich, Spanien, Dänemark und auch aus Indonesien. Ausserdem hat ein Stammkunde und unterdessen guter Freund eigens für sie eine Plantage angelegt.

 

Trend zu Naturmaterialien

In dreieinhalb Jahren wird Jolanda Kohler pensioniert. Die Mutter eines erwachsenen Sohns will aber weiterarbeiten, solange es die Gesundheit zulässt. Ihr Handwerk ist trendabhängig. «Die letzten vier, fünf Jahre waren eher schwierig», sagt sie. Jetzt aber beobachtet sie einen Boom von Naturmaterialien wie Holz, Leinen und von Geflochtenem.

«Ich würde darauf wetten, dass es in jedem Haushalt mindestens einen Korb gibt», sagt sie. Trotzdem seien es vor allem ältere Menschen, die ihre Korbware zur Reparatur vorbeibringen. Jungen Menschen würde sie gern die Überzeugung ihrer Mutter weitergeben: «Nichts wegwerfen, sondern reparieren lassen.»

 

Nachrichten zu Fokus »