Sie sind hier

Abo

Málaga

Eintauchen ins Meer der Bildung

Amaru geht in Málaga zur Schule – erstmals in seinem Leben. Seine Mutter Camilla Landbø staunt über die Eigenheiten des spanischen Schulsystems und erlebt es gleichzeitig als ein neues Abenteuer.

Der Schulbus 
ist da! Die Kinder drängeln sich 
freudig hinein, die Eltern winken, das ist jeden Morgen 
ein Spektakel. 
Bild: Camilla Landbø
  • Dossier

Camilla Landbø

«Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean.» Wie richtig er lag, Isaac Newton! Ob der englische Physiker am Meer gelebt hatte, frage ich mich. Auf der Suche nach einer Antwort finde ich nichts Konkretes. Wahrscheinlich sehnte er sich wie so viele, die nicht an einer Küste leben, nach den Weiten des Meeres und seinen unergründlichen Tiefen. Es sollte nicht sein einziges Zitat sein, in dem er Erkenntnisse mit 
maritimen Bildern vergleicht.

Ha, siehe da, es gibt aber etwas anderes 
Interessantes! Newton erlebte wie wir alle auch eine Pandemie, die zu Lockdowns führte. In seinem Fall war der Bösewicht kein Virus, sondern ein Bakterium. Zwei Jahre lang wütete die Grosse Pest im 
17. Jahrhundert im Süden Englands, wo Newton lebte. Und für zwei Jahre schlossen dort alle Universitäten. Der junge, wissbegierige Mann widmete sich in dieser einsamen Zeit selbstständig seinen Forschungen. Während der Quarantäne soll Newton unter anderem die Idee der Gravitationstheorie gekommen sein – als eben dieser bekannte Apfel vom Baum fiel.

Diesen Quarantäne-Zustand, den 
Newton als einen intensiven Moment des Schaffens erlebt hatte, kann ich gut nachvollziehen. Zwar haben Amaru und ich während des letztjährigen Total-Lockdowns keine bahnbrechenden und weltverändernden Theorien in Málaga angedacht. Wir beschäftigten uns jedoch über Tage in Form von Modulen ausgiebig mit allerlei Themen in verschiedenen Bereichen. Amaru wählte sie aus.

So kam es, dass wir erst das Thema «Rose», dann «Tintenfisch» und «Seehund» beackerten. Schliesslich ging es über zu «Vampiren» und «Super Amaru». Wir lasen, recherchierten, zeichneten, schauten Lernvideos, schrieben und 
sangen Lieder, etwa das Tintenfischlied. Selbstverständlich kenne ich sie heute alle, diese Superhelden, Spiderman und Co. Keiner ist aber sooooo cool wie «Super Amaru». Er kann duftende Blumen werfen. Mit den Händen. Damit werden böse Menschen und Antihelden sofort ausser Gefecht gesetzt.

Verloren im Universum

Das war unsere Homeschooling-Zeit. 
Zugegeben, die hatten wir schon vor Corona. Freiwillig. Erst in Bolivien, wo wir bis 2019 in der Andenstadt La Paz knapp zwei Jahre lebten. Dann in Europa, bis wir uns Anfang 2020 in Málaga niederliessen. Homeschooling ist jedoch in Spanien landesweit verboten. Als wir uns in der andalusischen Küstenstadt offiziell einschrieben, war also klar: Amaru wird eingeschult.

Nur kam dann Corona. Wir konnten uns nicht einmal fertig anmelden und rasselten so durchs Netz der Behörden. Ausserdem waren alle Schulen bis September 2020 geschlossen.

Nicht nur wir waren letztes Jahr in Spanien nicht erfasst worden und wohnten doch im Land. Zahlreiche Ausländer und Flüchtlinge existierten nicht mehr in ihren Heimatländern, aber ebenso nicht an ihrem neuen Wohnort Spanien. Kurzum: out of space. Über Monate blieben die Tore der Migrationsdienste zu. Und als 
sie wieder geöffnet wurden, kollabierte wegen des Andrangs das System. Kein 
Termin, keine offizielle Anmeldung, 
keine Steuernummer, keine Schule.

Ende gut, alles gut: Amaru hat diesen September mit der Primarschule begonnen und wurde direkt in die zweite Klasse eingestuft. Seine Schulkollegen und Schulkolleginnen können schon lesen, schreiben, rechnen. Wie gut, dass Amaru und ich bereits seit einer Weile zu Hause lernten – und während der Isolation mit Hingabe, wie Newton. Es ist ja nicht unbekannt, dass Homeschooling-Kinder sich fokussierter und effizienter Wissen aneignen und damit rascher vorwärtskommen. Bevor Amaru seinen ersten Schultag hatte, konnte er schon rechnen, lesen und ein paar Sätze schreiben – sowohl auf Spanisch als auch auf Deutsch.

Plus, minus, mal, geteilt, die ganze Palette

Ein wenig hinterher ist Amaru dennoch. Das spanische Schulsystem ist anders. Die Kinder fangen bereits im Kindergarten mit Buchstaben und Zahlen an zu jonglieren. Demnach können sie in der Schule viel 
früher schwierige Rechnungen und ganze Geschichten selbstständig schreiben, vergleicht man sie mit den Schweizer Schulkindern. Als ich dies feststellte, erinnerte ich mich an die Worte eines guten Freundes aus Bern, der in den 80er-Jahren als kleiner Bub von Spanien in die Schweiz übersiedelte: «Ich langweilte mich zu Beginn in der Schule, weil ich in den Fächern erheblich weiter vorne war.»

Obwohl Amaru in Sprache und Mathematik relativ gut mithält, hat sich eine andere grosse Lücke sichtbar gemacht. Seit der ersten Klasse lernen seine Gspändli Englisch. Und das nicht wenig. Somit besitzen sie bereits einiges an Wortschatz und Verständnis für die englische Fremdsprache. Amaru dagegen hat von den Liedern, die ich singe, lediglich «Hey, Baby», «Come on, Baby» und «I love you» aufgeschnappt. Nun gut, we will make it – wir werden es schaffen.

Nicht nur der Stundenplan und das Tempo sind in Spanien anders. Die Kinder werden in Málaga nicht von den Behörden in die Schulhäuser verteilt, sondern die 
Eltern wählen jedes Jahr von Neuem aus, wohin das Kind zur Schule geht. Das darf auch am anderen Ende der Stadt sein. Deswegen bieten viele Schulhäuser einen Abholdienst an. Der Schulbus kurvt durch die Viertel und sammelt die Kinder ein. Bei uns im ehemaligen Fischerdörfchen 
La Cala del Moral – wir sind extra für 
Amarus Einschulung vor einem Monat dorthin gezogen – ist das immer ein Spektakel am Morgen. Der riesige weisse Reisebus kommt herangeschifft, die Kinder drängeln sich freudig hinein. Wir Eltern bleiben auf allen Seiten um das Gefährt herum stehen, winken, werfen Küsse zu, bis der Bus um die Ecke verschwindet. Und dann gehen wir Kaffee trinken.

Amaru taucht nun also vollends in die Welt der Bildung im öffentlichen Schulsystem ein. Und er liebt es. Zumal die Schule nur bis zwei Uhr dauert, wir danach noch viel Zeit haben, allerlei zu unternehmen, etwa mit einem Sprung ins herbstlich kalte Meer einzutauchen – wo wir neu mit Schnorchel und Schwimmflossen die Küste erforschen.

Es bleiben die Worte von Newton, die doch passend sind: «Ich weiss nicht, wie ich der Welt erscheinen mag; aber mir selbst komme ich nur wie ein Junge vor, der am Strand spielt und sich damit vergnügt, ein noch glatteres Kieselsteinchen oder eine noch schönere Muschel als gewöhnlich zu finden, während das grosse Meer der Wahrheit gänzlich unerforscht vor mir liegt.»

Stichwörter: Malaga, Spanien, Fernweh

Nachrichten zu Fokus »