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Verbrechen

Er wollte sie im Liftschacht entsorgen

Hätte es das Konzept Schutzengel nicht gegeben, man hätte es für Helga Hermann erfinden müssen: Die Bernerin überlebte 1957 drei unvollendete und einen vollendeten Mordversuch durch ihren Gatten. Dessen zweite Frau hatte dann weniger Glück.

Helga Hermann zeigt den Geschworenen in Les Prés-d'Orvin, wo sie nach dem Willen ihres Gatten hätte runterstürzen sollen. Bild: Keystone

Irene Widmer, sda

Am 7. Mai 1957 musste man die Serviertochter Helga Hermann in der Berner Schwanengasse 7 aus einer misslichen Lage befreien: Sie lag bewusstlos aussen auf einer Liftkabine – offensichtlich nach einem 17-Meter-Sturz aus dem fünften Stock, denn dort war die Aufzugstür geöffnet. Nach Angaben der wie durch ein Wunder nur leicht verletzten jungen Frau hatten sich ihre Haare und Kleider im Seilkabel verheddert, sodass sie sich festhalten und wie ein Feuerwehrmann nach unten gleiten konnte.

Sie sei von Madeleine Laager, der Geliebten ihres Mannes, in den fünften Stock des Hauses bestellt worden, erzählte Helga Hermann bei der ersten Befragung im Spital. Dort habe ihr Madeleine eine schwarze Augenbinde angelegt und – wie sie meinte – zu einer Wohnungstür geführt, durch die sie eintreten sollte. Ihr Schritt ging ins Leere ...

Wie die Polizei später herausfand, liess sich das über 30 Jahre alte Liftmodell mit nur einem Handgriff so manipulieren, dass die Kabine bei offenbleibender Tür nach unten fuhr.

 

Der geheimnisvolle «Glüschteler»

Helga sei «unter einem recht fragwürdigen Vorwand» in die Schwanengasse bestellt worden, schrieb die Schweizerische Depeschenagentur verschämt. Aus der «Schweizer Illustrierte», die weniger strenge Vorschriften hatte, erfuhr man später mehr: Offenbar waren die Umstände dieses Vorwands sexueller Natur. Helga Hermann sollte einen Mann besuchen, einen «Glüschteler», wie man in Bern sagt.

Dieser Lüstling habe eine Vorliebe für schöne Frauenbeine, wie Helga sie besass, behauptete Madeleine, und er sei bereit, für den Anblick zu bezahlen. Er wollte aber nicht erkannt werden, und das mache es erforderlich, dass Helga die Augen verbunden würden. Madeleine kannte sich mit so etwas aus, sie war Prostituierte. Und Helga und ihr Mann Heinrich, ein Autohändler, der sich stilbewusst «Henry» nannte, lebten mit ihr in einer Ménage à trois.

 

«Versehentlich»
zu viel Schlaftabletten

Henry hatte Helga die Affäre im März gestanden, kurz darauf ging man zu dritt nach Österreich in die Osterferien, wo es offenbar Streit gab. In der Zeit war ein Umzug von Ostermundigen nach Bremgarten geplant, was mit viel Stress verbunden war. Deshalb habe sie, Helga, «versehentlich» zu viel Schlafmittel geschluckt, erzählte sie der Polizei. Als sie dann aus dem Spital kam, hatte Madeleine Laager sich um den Umzug gekümmert – und war gleich am neuen Ort mit eingezogen.

Helga wollte trotzdem nicht von Henry lassen, was diesem und seiner Freundin offenbar lästig war. Später vor Gericht beteuerte Helga ihre Liebe zu Henry selbst dann noch, nachdem sie erfahren hatte, dass der Liftsturz der vierte – und erste vollendete – Mordversuch an ihr war. Als «unvollendete Mordversuche» wurden Henry und Madeleine eine Pilzvergiftung, ein fingierter Autounfall und ein versuchter Felssturz in Les Prés d'Orvin juristisch in Rechnung gestellt. Machte 17 Jahre für Henry und 14 Jahre für Laager.

 

Dieses Mal wurde Henry selber aktiv

Obwohl die Strafen sich kaum von denen in einem Mordprozess unterschieden, zeigte sich die Presse uninteressiert: Es ging ja nur um Mordversuch, und das Opfer war leicht verletzt davongekommen. Die NZZ, die von Mordprozessen meist zweimal täglich minutiös Bericht erstattete, beschränkte sich im Fall Hermann auf eine Agenturmeldung zum Prozessauftakt.

Es sollte 17 Jahre dauern, bis endlich ausführlich über den Fall berichtet wurde. Und Anlass war wieder ein Mord. Nachdem Henry nämlich 13 Jahre abgesessen und vier weitere Jahre unter Schutzaufsicht gestanden hatte, brachte er an seinem neuen Wohnort Zumikon am 25. Oktober 1975 seine vermögende zweite Frau um – diesmal selber. Er würgte sie bewusstlos, ertränkte sie in der Badewanne und versenkte sie, beschwert mit einem alten Aussenbordmotor, im Zürichsee.

 

Verdacht auf «Kuscheljustiz»

Wie hatte ein derart gefährliches Individuum wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen werden können? Er sei halt ein Musterhäftling gewesen, sagte Georges Gottardi, Adjunkt des Gefängnisdirektors, 1975 der «Schweizer Illustrierten». «Niemand von uns hätte ihm eine zweite Gewalttat zugetraut».

Irrtum, meldete sich in der nächsten Ausgabe der «Schweizer Illustrierte» der Leserbriefverfasser C.A.R. aus Sitten zu Wort. Er sei ein Mitgefangener von Hermann gewesen «und kann Ihnen leider sagen: Einem so zynischen Menschen war ich bis dahin noch nie begegnet». Der Fall zeige «einmal mehr, dass die Direktion der Strafanstalt Thorberg unfähig ist, einen Gefangenen auf seinen richtigen intellektuellen und moralischen Wert einzuschätzen».

Der Direktor habe Hermann zum Bibliothekar befördert, obwohl dieser völlig ungebildet gewesen sei, «derweil andere (so auch ich, der ich es in einem intellektuellen Beruf überdurchschnittlich weit gebracht habe) gerade gut genug waren, um zu weben, zu schneidern und im landwirtschaftlichen Betrieb zu arbeiten».

 

Merkwürdiges 
Gutachten

Der «unfähige» Thorberg-Direktor Fritz Werren liess das nicht auf sich sitzen und schilderte in der übernächsten Ausgabe der Illustrierten seine Sicht der Dinge: Nach Gesetz hätte Hermann bei untadeliger Führung bereits nach gut elf Jahren freikommen können, präzisierte er. Angesichts von Hermanns «Verstimmungszuständen», «Geltungssucht» und «Schlaumeierei» habe die Anstaltsleitung allerdings Zweifel gehabt und deshalb Abklärungen getroffen.

Werren zitierte ein psychiatrisches Gutachten von 1969: «... immerhin scheint ihn die lange Strafhaft so weit verändert zu haben, dass er die Gefahr eines weiteren Abgleitens in die Delinquenz einsieht ... Obschon er wohl keine echte Einsicht hat, ist ihm doch eine gar nicht schlechte Prognose zu stellen, da er in seinem exzentrischen Wesen sich wahrscheinlich hüten wird, nochmals eine Strafe oder eine Rückversetzung zu riskieren.»

Stichwörter: Verbrechen, Mord, Intrigen

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