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«Es ist nicht gefährlich, über sich selber nachzudenken»

Rollenspiel ist mehr als einfach «theäterlen». Was diese Technik in Therapie, Beratung und Erwachsenenbildung vermag, weiss Roger Schaller. Der Psychologe mit eigener Praxis in Biel hat eben sein viertes Buch dazu geschrieben.

Roger Schaller: «Ich bin der Exot. Aber ich kann ganz gut damit leben.» Bild: Stefan Leimer

Raphael Amstutz

«Wie war das letzthin am Familientisch? Stellen Sie sich mal hierhin und dieser leere Stuhl, der ist für ihren Vater, und dieser hier für ihre Mutter.» Ein Rollenspiel scheint zunächst eine simple Sache. Einfach mal ziemlich wahllos eines lancieren, ohne Veränderung des Ortes, ohne klar definierten Spielraum. Am beten noch mit einer unendlich langen Erklärung und später ohne Überprüfung, ob der Klient noch weiterspielen will.
Das sind nur einige der Fehler, die gemacht werden können. Psychodrama (siehe auch Infobox), zu dem das Rollenspiel gehört, hat einen schweren Stand innerhalb der Psychologie, gerade in der Schweiz. Roger Schaller, Psychologe und Buchautor, weiss um diese Problematik. «Das Rollenspiel wird oft von unkundigen Therapeuten unbeholfen oder unüberlegt eingesetzt», sagt er, «und führt damit zu enttäuschenden Ergebnissen und unzufriedenen Klienten.»


«Es wird ganz schnell persönlich»
Dass es auch anders geht, dafür setzt sich Schaller seit über 25 Jahren ein. Der Psychologe aus Magglingen führt seit kurzem eine Praxis in Biel und veröffentlicht in diesen Tagen sein viertes Buch zum Thema Rollenspiel (siehe Infobox). «Psychodrama ist deshalb so wirkungsvoll, weil wir mit dieser Methode zu Experten von uns selber werden. Die Aufmerksamkeit wird fokussiert und es wird ganz schnell sehr persönlich», erklärt Schaller.
Und es werde beides aktiviert: Geist und Körper. Zudem erhielten Therapeut und Klient in kurzer Zeit viele Informationen: Entscheidend sei nämlich nicht nur, was jemand berichte, sondern auch, wie oder ob er überhaupt etwas sage. Denn wenn jemand zum Beispiel erkläre, er könne diese Rolle nicht spielen, sei das eine ebenso wertvolle Aussage. «Das Rollenspiel ist eine grosse Chance», ist Schaller überzeugt. «Wir können damit sowohl das Leben auf eine Bühne bringen als auch Abstand zum eigenen Erleben und Handeln bekommen.»
Der heute 62-Jährige hat das Psychodrama während seines Studiums entdeckt. «Immer nur zu sitzen und zuzuhören, das erschien mir wenig zielführend», erinnert er sich. Als er zufällig einen Flyer zu einem Vortrag von Jacob Levy Moreno, dem Begründer des Psychodramas, gesehen hatte, wusste er: Das ist es. «Und tatsächlich war es dann auch Liebe auf den ersten Blick».
Das hat auch mit seiner eigenen Biografie zu tun. Er sei eher «bildungsfern» aufgewachsen; der Vater sei früh gestorben, seine Mutter habe er immer wieder hilflos erlebt, weil sie als Italienerin in der Schweiz nie wirklich eloquent kommunizieren konnte. «Ich habe mich geschämt», sagt Schaller, «und mir wurde ganz rasch klar: Ich will nicht hilflos sein.»
Das Psychodrama sei genau das Richtige gewesen für ihn: «Ich habe in der Ausbildung und beim Üben gelernt: Es ist nicht gefährlich, über sich selber nachzudenken. Es hilft vielmehr, sich selber nicht ausgeliefert zu sein und Problemsituationen in Zukunft besser zu bewältigen.» Das Rollenspiel helfe also beim Erkunden von problematischen Beziehungen genauso wie beim Erkennen von Bedürfnissen und Wünschen und beim Ausprobieren von alternativen Verhaltensweisen.


Kein grosses Interesse
In seiner langen Laufbahn hat Schaller immer auch mit vermeintlich «nicht-therapierbaren» oder «bildungsfernen» Klienten gearbeitet: Therapien mit Süchtigen, mit notorischen Verkehrssündern, mit gewaltbereiten Jugendlichen oder persönlichkeitsorientierte Kurse für Langzeitarbeitslose. Es sind solche Menschen, die ihn interessieren.
Diese unbedingte Begeisterung fürs Psychodrama, fürs Rollenspiel ist in jedem Moment des Gesprächs spür- und sichtbar. Roger Schaller hat sich denn auch lange dafür eingesetzt, dass dieser Zugang unter dem Begriff «humanistische Psychologie» ein eigenes Curriculum erhält, also fixer Teil des Lehrplans an Universitäten wird. «Damit bin ich gescheitert», gibt er unumwunden zu. Das Interesse in der Schweiz sei zu wenig gross, die Gründe seien ihm nicht ganz klar. Die gesetzlichen Auflagen würden immer zahlreicher und strenger, man halte sich wohl lieber an das Bekannte. Das sei die eine Seite.
Zudem berge das Psychodrama natürlich auch politischen Zündstoff. Gehe es im Kern doch darum: Der Mensch ist krank, weil die Gesellschaft krank ist. «Und das hören die Mächtigen nicht gerne», so Schaller.


Richtig eingesetzt, grosse Wirkung
In anderen Ländern sei dies ganz anders. «In Osteuropa zum Beispiel gehört das Psychodrama zum psychologischen Mainstream», sagt Schaller. Während des Kommunismus’ waren Gruppenverfahren und eher «chaotische» und kreative Zugänge verpönt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seien die Menschen dort «hungrig» gewesen und hätten neue Zugänge kennenlernen wollen. Es sei zu einem starken Aufschwung gekommen und zu einer raschen Etablierung.
Dass das Rollenspiel, richtig eingesetzt, eine unglaubliche Wirkung haben kann, hat Schaller immer wieder erlebt. Er erzählt von einem Klienten, der sich nach einigen Stunden Therapie vor allem an ein ganz kurzes Rollenspiel erinnert und immer wieder von dieser «intensiven Erfahrung» berichtet hat. Man erfahre bei dieser Methode in wenigen Sequenzen enorm viel über sich, das eigene Verhalten und seinen Platz im sozialen Gefüge.


Kann auch eine Gefahr sein
Schaller, der unter anderem auch als Verkehrspsychologe arbeitet, erinnert sich an einen Raser. Wie soll er einer Person, die womöglich gegen den eigenen Willen bei ihm in der Praxis sitzt, sein problematisches Verhalten aufzeigen?
Auch hier kann das Rollenspiel helfen. «Statt auf einer theoretischen Ebene zu diskutieren, habe ich ihn gefragt: Haben Sie Kinder? Er verneinte. Also fragte ich: Kennen Sie welche? Er erwähnte diejenigen der Schwester. Ich fragte: Wie heissen sie? Sind es aufgeweckte? Schon nach ganz kurzer Zeit wurde es persönlich. Und als ich sagte: Diese Sonja läuft übermütig und selbstvergessen auf die Strasse. Was denken Sie, spielt es eine Rolle, ob Sie mit 50 km/h oder 70 fahren? Dazu zwei Spielzeugautos, um den Bremsweg auch optisch zu veranschaulichen. Das hat Eindruck gemacht.»
Wenn etwas persönlich und emotional wird, kann das ja bei allem Guten und Erwünschten auch eine Gefahr sein. Was tun, wenn der Klient «kleben» bleibt? Schliesslich sind da einerseits handfeste Konflikte, die thematisiert werden; es gibt also eine Verankerung in der Realität. Gleichzeitig sollen im Rollenspiel ja gerade Abstand gewonnen und andere Sichtweisen eingenommen werden.
Schaller überlegt nicht lange: «Wenn jemand ein geübter Therapeut ist, geht das gut.» Dieser Hinweis kommt immer wieder. Psychodrama sehe einfach aus – und das sei verführerisch und auch tückisch; denn es brauche Übung, damit es eine Hilfe sein könne.


Werbung in eigener Sache?
«Wenn es aber richtig eingesetzt wird, ist es für jede Personengruppe und für jeden Problembereich eine wirksame Technik», ist Schaller überzeugt.
Eigentlich sei die Lektüre über Rollenspiel und Psychodrama, zum Beispiel das Lesen dieses Zeitungsartikels, nicht mehr als ein Türöffner. «Dieses kreative Geflecht lässt sich nur ungenügend schriftlich beschreiben. Wer das Psychodrama kennenlernen will, muss sich ihm zunächst einmal selbst aussetzen», sagt Schaller. Werbung in eigener Sache?
Dass er sich mit einer solchen Vehemenz einsetze, sei nicht karriereförderlich, so Schaller. Er schmunzelt und sagt: «Ich bin der Exot. Aber ich kann ganz gut damit leben.»

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Zur Person

Roger Schaller ist Fachpsychologe für Psychotherapie und Verkehrspsychologie FSP. Neben seiner teilzeitlichen Arbeit als Psychologe im Sonderpädagogischen Zentrum Bachtelen Grenchen hat er in den letzten 20 Jahren als Erwachsenenbildner und Supervisor gearbeitet – mit Rollenspiel als Angelpunkt.
Nun ist er selbständig mit eigener Praxis in Biel (siehe www.rogerschaller.ch).
In diesen Tagen erscheint sein viertes Buch: «Rollenspiele – Techniken der Verhaltenstherapie», Beltz-Verlag, Fr. 37.90. raz

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Psychodrama: Die Definition

Psychodrama wurde vom österreichischen Arzt und Psychiater Jacob Levy Moreno (1889 bis 1974) entwickelt. Als «offizielles Geburtsdatum» gilt der Frühling 1921. Morenos Interesse galt besonders dem spontanen Spiel, der Kreativität und der Interdisziplinarität.
Zuerst war Psychodrama als Gegenentwurf zur Psychoanalyse gedacht. Über die Jahre wurde der Ansatz breiter und etablierte sich vielerorts als Verfahren in der Gruppen- und Einzelpsychotherapie sowie in der Beratung und Erwachsenenbildung.
Im Kern geht es um Aktionsmethoden, mit denen individuelle und kollektive Themen angegangen werden können. Hierbei ist sowohl ein Blick in die Zukunft als auch einer in die Vergangenheit möglich sowie ein Sein in der Gegenwart. Rollenspiel soll helfen, Erlebtes zu verstehen und sich in zukünftigen Situationen besser zu verhalten.
Das Psychodrama hat starke Einflüsse auf die unterschiedlichsten Therapieschulen und –richtungen. raz

Info: Buchtipp: Falko Ameln und Michael Wieser (Hrsg.), «Jacob Levy Moreno revisited – Ein schöpferisches Leben», Zum 125. Geburtstag und 40. Todestag von Moreno, Springer-Verlag, 2014, Fr. 56.90.

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Einige zentrale Begriffe

Bühnen
Unterschied zwischen Besprechungsort (Begegnungsbühne), Spielort (Spielbühne) und realem Alltag (Alltagsbühne).

Inszenierung
Imaginativ (Klient stellt sich Konfliktsituation vor, «innerer Film»).
Figurativ (Konfliktsituation wird mit Klötzen, Figuren oder Stühlen dargestellt).
Körperlich (Klient spielt sich selber oder eine andere Rolle innerhalb der Konfliktsituation).

Grundtechniken
Rollenwechsel/Rollentausch (Übernahme der Sichtweise einer anderen Person).
Doppeln (Therapeut steht seitlich hinter dem Klienten und spricht für ihn einen inneren Monolog in der Ich-Form).
Spiegeln (Therapeut übernimmt die Rolle des Klienten und imitiert dessen Verhalten).
Regiegespräch (eine Szene wird «eingefroren», der Klient wird an den Bühnenrand gebeten und zum Regisseur).

Damit diese Techniken gelingen, sind für Roger Schaller vier Dinge entscheidend: «Es braucht einen erfahrenen Therapeuten. Die Bühnen müssen klar definiert, der Zugang muss sanft und die Einheiten sollen kurz sein.» raz
 

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