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Familie – eine verschämte Privatsache

Ich bin ein Einzelkind. Habe das selten mal als Nachteil erlebt.

Sabine Kronenberg

Schon wahr, kann mal einsam sein. Hätte mir manchmal eine Schwester, einen Bruder gewünscht. Ich musste lernen, auf Menschen zuzugehen. Dafür fällt es mir nicht schwer, mit mir allein was zu unternehmen. Was vielleicht jemand, der im Clan aufgewachsen ist, dann später lernen muss. Aber ja, man neigt 
sicher zu Altklugheit, weil man als Knirps zu viel Umgang mit Erwachsenen hat. Oder ist eben ein Sozialnerd. Aber so ist das eben. Das perfekte entwicklungsbiologische Gedeihen ist ein Märchen. Was hingegen harte Realität ist, sind die gesellschaftlichen Vorstellungen, die zu Familienkonstellationen kursieren. Unzählige Male wurde mir «Was, das hätte ich gar nicht gedacht, dass Du ein Einzelkind bist!» gesagt. Unzählige Male hatte ich den Eindruck, man erwarte Erklärungen von mir, weshalb meine Eltern sich nicht produktiver reproduziert hätten. Der Eindruck verfestigt sich mit Ankunft des eigenen Kindes. Ich sehe mich konfrontiert mit einer Million Erwartungen von Menschen, die ich teilweise nicht mal kenne.

Unter Freunden: «Und? Wollt ihr noch ein Zweites?» Ich: «Unklar.»

«Aha.» Pause. Dann maliziös: «Du bist auch ein Einzelkind, gell?»

Ja, Himmelhergott. Mach mal erst selber ein Kind und quatsch mir nicht in unser Leben rein.

Die Frage des zweiten Kindes habe ich be- und verschämt mit einer Beraterin der Mütter- und Väterberatung erörtert. Musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, dort anzurufen mit dieser Frage: «Wie entscheidet man sich für das Zweite?» Und, als ich nicht gleich in einem schwarzen Loch verschwand: «Ist es okay, Angst vor diesem Schritt zu haben? Gibt es Unterstützungsmöglichkeiten für die ersten, anstrengenden Jahre?» – Ich treffe offenbar einen Nerv. Die Beraterin, ein Profi, seit 30 Jahren nah an der Entwicklungsbiologie und -psychologie von Knirpsen dran, gratuliert mir zu den Fragen. «Die Fragen sind berechtigt. Das zweite Kind ist eine grosse Herausforderung und es braucht wirklich Mut, nochmals von vorn zu beginnen. Man weiss nie, worauf man sich einlässt. Es kann von Kind zu Kind deutlich einfacher, aber eben auch deutlich schwerer sein.» Und nein, Unterstützung in den Familien gebe es dafür in der Schweiz keine. Es existieren nur Angebote, welche im Notfall unterstützen.

Es muss also schon eine multiple Krisensituation da sein, bevor den Familien geholfen wird. Die Frau fügt an: «Sie überlegen es sich gut. Das ist toll und nicht selbstverständlich. Gut ist ihr Kind schon fast vier. Wissen Sie, die meisten bekommen ihre zweiten Kinder, wenn das Erste zwei ist. Das ist entwicklungspsychologisch der Horror, denn mit zwei Jahren sind die Kinder meist in einer äusserst schwierigen Phase. Aber wissen Sie, ich glaube, die Eltern machen das, weil dieser gesellschaftliche Druck und diese 
Erwartungen da sind. Die beugen sich dem einfach.»

Ich bin baff. Das ist doch Irrsinn. Man macht es, weil es erwartet ist. Und das für eine Gesellschaft, die einem dann tendenziell dafür basht, dass man Kinder hat. Grrr. Vermutlich glaubt man sogar, 
der Entscheid sei individuell gefallen. Ein Trugschluss, wie mir die Profi da gerade mitteilt. Und eine Frechheit.

Es darf einfach nicht sein, dass alles Familiäre den Familien privat zur Regelung überlassen wird (organisier dir die Elternzeit, die Tagesstruktur, die Ferienbetreuung selber, sei deines Glückes eigener Schmied, Adam Smith lässt grüssen), 
aber beim geringsten Kontakt einer Familie mit der Gesellschaft gibt es tausend ungeschriebene Gesetze, Erwartungen und Befindlichkeiten, die einem suggerieren, was eine «gute Familie» ist, wie sich diese aufzustellen, zu verhalten und einzufügen hat. Oh nein, ich will keinen Kurs besuchen, in dem ich lerne, wie ich mein «Familien-
management» optimieren kann. (Ich bin auch bald reif, eine Initiative zu lancieren, die in der Verfassung das Recht auf «Nicht-Selbstoptimierung, Müssiggang und Flohnertum» verankert. Echt unterschätzte Werte.) Heute weiss man, dass Kinder verschiedene Bezugspersonen brauchen und das idealerweise «ein Dorf» ein Kind aufziehen sollte. Und wenn das in der Kleinfamilie nicht möglich ist – merde! Organisier dich selber! Und du stehst auf Feld eins. Hier wäre die Politik gefordert. Aber halt, ich vergesse, Familienthemen sind politisch keine Bringer. Familie ist in der Schweiz eben verschämte Privatsache.

Info: Sabine Kronenberg ist Historikerin und 
Ausbildnerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Biel.

kontext@bielertagblatt.ch

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