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Au-pair im Tessin

Flüchtige Begegnungen und emotionale Geschichten

Fernwehautorin Geraldine Maier geniesst die Stille der Tessiner Wälder un dsinniert über selbst Erlebtes und die Erzählungen anderer: Über die des 90-jährgen Roberto beispielsweise, der ihr aus sienem erfüllten Leben berichtete.

Trilly, der Hund von Geraldine Maiers Gastfamilie, ist ein treuer Begleiter auf ihren Waldspaziergängen. Bild: Geraldine Maier
  • Dossier

Geraldine Maier

Ein kühler Wind lässt meine Hände in den Jackentaschen verschwinden. Das einst opulente Morgenkonzert der zwitschernden Waldgenossen ist leiser geworden, und auch die Anzahl der morgendlichen Spaziergänger hat abgenommen. Trilly, die treue Begleiterin meiner Tessiner Familie, läuft unbeeindruckt von den sich verändernden Umständen im Zickzack vor mir her.

Ein lautes Pfeifen lässt mich aufhorchen. Es ist kein Vogel, sondern ein gut gelaunter Hundeführer, den ich, wenige Minuten nachdem ich ihn gehört hatte, kreuze. Wir nicken uns zu und grüssen. Schmunzelnd gehe ich weiter. Wir sind uns schon mehrmals begegnet, haben auch schon ein paar Worte über die Hunde oder zum Wetter gewechselt, doch ich weiss weder Namen noch sonst irgendetwas über den Mann. Trotzdem gibt mir diese kleine Begegnung ein Gefühl von Vertrautheit. Wiedererkannt zu werden oder andere wiederzuerkennen schafft eine besondere Verbundenheit zur neuen Umgebung.

Ähnlich ergeht es mir, wenn ich Lorenzo* von der Schule abhole. Mittlerweile kenne ich einige der Mütter und unterhalte mich mit ihnen, während wir auf die Jungmannschaft warten. Auch habe ich drei andere Au-pairs auf dem Schulhausplatz kennengelernt, mit denen ich mich oft über unsere Arbeit und Erlebnisse in den Familien austausche. Diese Unterhaltungen finden ehrlich gesagt meistens auf Deutsch oder Englisch statt. Bis ich ein spannendes, abwechslungsreiches Gespräch auf Italienisch führen kann, wird es wohl noch eine Weile dauern.

Mehr als verwelkte Blätter
Mit jedem Schritt versuche ich, die herbstliche Farbenpracht aufzusaugen. Mir gefällt diese Veränderung, und ich versuche diesen Moment besonders zu geniessen, da ich weiss, dass dieses Ambiente nicht für immer ist. Etwas melancholisch betrachte ich die von den Bäumen abgestreifte Blätterpracht und überlege mir, ob sie wohl eine Geschichte zu erzählen hätten.

«Geschichte» ist das Stichwort, das mich an meinen letzten Besuch im Begegnungszentrum «La Sosta» von Pro Senectute denken lässt. Ich sehe wieder Roberto* mir gegenüber sitzen, wie er das Essen und Trinken vergisst und mit glänzenden Augen von seinem Leben berichtet: Wie er seine Frau kennengelernte, mit ihr drei Kinder grosszog, als Maler in der ganzen Schweiz arbeitete und im Januar mit einem grossen Fest seinen 90. Geburtstag feiern konnte.

Erzählungen aus dem Leben stiessen bei mir schon immer auf offene Ohren, und wer hat schon mehr zu erzählen als die Ältesten unserer Gesellschaft? Durch den Wunsch nach Austausch nahm ich in Lugano mit Pro Senectute Kontakt auf und erhielt nach einem persönlichen Gespräch auch schon die Adresse von «La Sosta», wo ich mit anderen Freiwilligen die Angestellten des Zentrums beim Animieren und Betreuen der Besucher unterstütze. Allerdings ist dieses Engagement wegen Covid-19 seit zwei Wochen nicht mehr möglich. Was mir dafür bleibt, ist der Austausch bei «UND», dem Generationentandem. Während des Lockdown in Südafrika schloss ich mich diesem Verein an und verfasse seither in einem Tandem oder kleinen Gruppen Beiträge über diverse Themen, die auf dem Online-Blog oder im vierteljährlich erscheinenden Vereinsmagazin publiziert werden.

Stachlige Herbstfrucht
Aufgeplatzte Kastanienschalen liegen überall auf dem Kiesweg verteilt. Jetzt muss man keine Angst mehr haben, von den fiesen Stacheln gestochen zu werden. Durch den feuchten Boden sind sie weich und ungefährlich geworden. In meinen Erinnerungen taucht das Bild auf, wie ich vor drei Wochen mit Lorenzo die braunen Tropfen mit spitzen Fingern und den Füssen aus der stachligen Schale pellte. Wenn wir unverhofft gepikst wurden, zuckten wir zusammen, und wenn eine dieser Stachelfrüchte in unserer Nähe auf dem Boden aufprallte, zogen wir erschrocken unsere Köpfe ein. Es war eine lustige Sammeljagd, und voller Stolz trugen wir unsere Beute nach Hause.

Dort kochten wir die eingeschnittenen Maroni im Wasser, in das drei Zweige Fenchelkraut gegeben wurde. Ein Geheimtipp für einen besseren Geschmack, den meine Gastmutter von ihrer Mutter übernommen hat. Nach 40 Minuten auf dem Herd hatte ich die Aufgabe, die Kastanien zu schälen. Eine zeitaufwendige Arbeit, da das dünne, braune Häutchen besonders hartnäckig zu Entfernen war. Die geschälten Früchte haben wir über Nacht in Milch eingelegt, am nächsten Morgen aufgewärmt und dann zum Frühstück gegessen. Ein schmackhaftes Rezept, wenn man Maroni mag.

Süsses oder Saures
Mein Weg führt mich weiter, an einer Waldhütte vorbei. Dieses Häuschen hatte meine Gastfamilie für Halloween gemietet. Es sollte eine grosse Kinderparty geben, die dann zur Enttäuschung der ganzen Familie abgesagt werden musste. Zwanzig aufwendig gestaltete Einladungen wurden verteilt, Dekoration gebastelt und der Vorratsschrank mit Süssigkeiten aufgefüllt. Mit der Gastmutter hatte ich bereits Spielideen für die Unterhaltung der Kinder und Rezepte für lustige Halloween-Snacks herausgesucht. Auch Kostüme hatte sie für die ganze Familie und sogar für mich organisiert. Die Vorfreude war gross, und es wäre sicher ein amüsanter Abend geworden. Vielleicht gibt es nun im Frühling ein schaurig-gespenstisches Fest für Sofia* und Lorenzo.

Jetzt liegt der Wald hinter mir und ich folge einer Quartierstrasse den Hügel hinauf. Hier gibt es keine langen, flachen Strassen wie ich sie aus dem Seeland kenne. Dafür weckt dieses Bergauf-Bergab Erinnerungen an die Zeit, als ich in Lausanne wohnte. Auch mein Zuhause in Chefchaouen, der blauen Bergstadt von Marokko, kommt mir bei diesem Anstieg in den Sinn. Ach ja, Marokko! Schön wars, und schön war das, was danach folgte. Genau zwei Jahre ist es nun her, seit ich mit einem One-Way-Ticket von Genf Richtung Süden flog. Von da an ging es von einem Zuhause zum nächsten, und jetzt stehe ich vor meinem Tessiner Zuhause, öffne das Eisentor und Trilly schlüpft vor mir in den Garten.

*Alle Namen geändert

 

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