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Früher war alles enger

Irgendwann in den 40er-Jahren sind meine Grosseltern in Biel in eine dieser damals sehr hippen Arbeitersiedlungen in Mett gezogen. 


Sabine Kronenberg

Die kinderreiche Familie lebte dann – damals eben modern – in einer Wohnung mit Küche, Bad und drei kleinen und einem grösseren Zimmer. Ich habe keine Ahnung, wie sie das zu sechst gemacht haben. Auf denselben 90 Quadratmetern lebe ich heute mit einem Junior, und wir gelten als «tiny» Haushalt in unserem Umfeld. «Was? Ihr lebt mit nur drei Zimmern zu dritt?? Geht das?»

90 Quadratmeter sind offenbar die neue Bescheidenheit. Und bescheiden fühle ich mich nicht, es sind grosszügige Räume mit riesigen Fenstern. Sieht man sich Wohnhäuser aus der Gründerzeit an oder auch später, als ab den 60er-Jahren die Erwartungen an Wohnraum vielfältiger wurde, sind die Schlaf- und Kinderzimmer oder Büros immer sehr klein. Platz für ein Pult, allenfalls ein Bett, that’s it. Auch die Küchen waren engräumig, um – Frankfurter Küche eben – alle Arbeitsschritte beinander zu haben.

Die Küchen sind immer noch oft hinsichtlich der Arbeitsschritte organisiert, sind aber riesig geworden mit Kochinsel und Bar, und der Übergang zum Wohnraum ist oft fliessend. Gerüche kann man relativ gut mit Lüftungen «absaugen». Auch der «Abtritt» vor dem Haus (möglichst weit weg) hat dem Badezimmer und fliessendem (auch warmen) Wasser Platz gemacht. Geheizt wird zentral – in allen Räumen und nicht mehr mit dem Feuer des Küchenherds.

Beim Stadtspaziergang durch Quartiere, in denen sich viele diese Wohnhäuser aus den letzten hundert Jahren aneinanderreihen , kann man mal auf die Balkone und Fenster achten. Es mutet manchmal aus der Zeit gefallen an, was früher mal als «state of the art» galt. Wenige Fenster und wenn, dann kleine Öffnungen. Die Balkone reduziert, kaum Platz für einen Tisch. Manchmal wirken die Aussenräume zwergenhaft, lediglich Platz, um adrett auf einer Bank zu sitzen. Kaum Platz, um zu dinieren, geschweige denn grillieren. So war das. Der Aussenraum wird heute immer unbefangener als zusätzlicher Wohnbereich genutzt.

Die Vielfalt an Bedürfnissen, die wir heute kennen, waren anders gelagert oder galten auch als ungebührlich, und man verkniff sich weitere Ansprüche. War es doch schon so viel besser. 
Zumindest für meine Grosseltern und ihre Wohnsituation galt das. Meine Grossmutter war im Bündnerland als Kind von noch viel mehr Kindern, als sie selbst später dann hatte, auf einem mikroskopisch kleinen Bauernhof aufgewachsen. Zu Essen hatte sie immer genug. Aber Aufmerksamkeit und Raum, sich selbst zu entwickeln (und damit verbunden natürlich Bildung) waren rar oder inexistent. Es war schon wahnsinnig, dass sie als Bauernkind lesen und schreiben lernte.

Ungefähr in den 60er-Jahren verändern sich die Lebensformen und damit die Erwartungen an den Wohnraum. Die Haushaltsformen wurden vielfältig und die klassischen Ernährerfamilien seltener. Vergleicht man Single-Haushalte und Familienhaushalte über die Jahrzehnte, dann verkehrt sich das Verhältnis: 1960 gab es rund 20 Prozent Ein-Personen-Haushalte, 2000 sind die Familien fast so rar geworden: 30 Prozent Familien-Haushalte stehen rund 50 Prozent Einzelpersonenhaushalten gegenüber. Ein ganz klarer Fall von Individualisierung und auch 
Vereinzelung, der in der Folge zu Anonymität und Einsamkeit führte. Während die Haushalte personenmässig schrumpften, nahm die Wohnfläche stetig zu.

Inzwischen beeinflusst die Lebensphase oder Lebensform die Wohnfläche am meisten: Kinderlose Paare oder ältere Menschen verfügen über die grössten Wohnflächen. Auch die Wohnungseinrichtung hat sich drastisch verändert. Was früher eine Aussteuer war, wird heute in stetem Wandel von Bedürfnissen und Mode laufend erneuert. Die Wohnungseinrichtung muss nicht mehr für mehrere Generationen reichen. Bei meiner Grossmutter finden sich noch unzählige solcher «Mehr-Generationen-Objekte», die für sie unschätzbar wertvoll sind, für unsereins aber regelrecht zum Ramsch geworden sind. Die frühere «gute Stube» ist das Wohnzimmer geworden. Der alte Kern mit Lampe, Tisch und Stühlen hat sich neu um den Fernseher ausgerichtet.

Info: Sabine Kronenberg ist Historikerin und 
Ausbildnerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Biel. 


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