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Titelgeschichte

Geflüchtete im Schwebezustand

Die abgewiesenen tibetischen Asylsuchenden Pechu und Pasang harren seit Jahren in einer Unterkunft in Hondrich bei Spiez aus. Ohne Papiere können sie nicht zurück, dürfen hier aber weder arbeiten noch 
eine Wohnung mieten. Von einem Leben ohne Selbstbestimmung.

Die Tibeterin Pechu in ihre Kinder hofften in der Schweiz auf mehr Rechte und weniger Gewalt. Nun sitzen sie hier fest. Bild: Rahel Weiss

Irena Brežná

Vor dem verschneiten Niesen in Hondrich oberhalb Spiez steht ein grosses Chalet. Die sichtbare kulturelle Vielfalt der davor herumstehenden, meist jungen Gestalten, könnte Spaziergänger zur Annahme verleiten, dass hier ein internationaler Workshop stattfindet. Doch die knapp 80 Bewohnerinnen und Bewohner des ehemaligen Hotels gehören mitnichten zur weltenbummelnden Elite. Sie sind zwar von weit angereist, doch jetzt sitzen sie fest.

«Ich fühle mich hier wie in China», sagt die Tibeterin Pasang im Gemeinschaftsraum des Asylheimes und ihre Landsfrau Pechu pflichtet ihr bei. Angesichts der fehlenden elementaren Rechte der papierlosen Freundinnen ist es durchaus verständlich, dass sie den Kanton Bern als Unrechtsstaat erleben. Als abgewiesene Asylbewerberinnen ohne Dokumente gehören sie im Schweizer Kastensystem der niedrigsten Kaste an: Sie dürfen weder arbeiten noch eine Ausbildung machen, nicht heiraten, nicht frei ihren Wohnsitz wählen und Pechu hat die Kastenzugehörigkeit an ihre Kinder vererbt.

Himalaya wie die Alpen

Beide berichten, sie hätten keinen Kontakt zu ihren in Tibet gebliebenen Familien, um diese nicht Repressionen auszusetzen. Sie hängen nicht nur zwischen den Kulturen, sondern buchstäblich über allen Bergen. Schon der Schlepper hat eine tibetisch-schweizerische Gemeinsamkeit angepriesen, woran er gut verdiente: «In der Schweiz ist es angenehm kühl wie in Tibet.» Himalaya gleich Alpen, das leuchtete sowohl Pasang wie auch Pechu ein, und das geben sie als Grund an, warum sie 2013, unabhängig voneinander, am Grenzübergang in Kreuzlingen auftauchten. Das lokale Klima ist für Bauern entscheidend, das wussten die ländlichen Analphabetinnen, lange bevor die Klimadiskussion so richtig losging.

Pasang sei zuerst nach Nepal geflüchtet, doch sie habe sich dort weiterhin bedroht gefühlt. Pechu sei in Indien als Zwischenstation drei Monate lang geblieben, die dortige Hitze habe sie krank gemacht. Nichts wie weg aus Indien, das Ziel Europa stets vor Augen. Von der schweizerischen humanitären Tradition oder der direkten Demokratie hatten sie keine Ahnung.

In sieben Jahren hat Pechu wertvolle Erfahrungen gesammelt. «Ihr habt grosse Gehirne», teilt sie mir ihre interkulturelle Erkenntnis mit. «Ihr wollt immer etwas lernen. Wir haben gelebt wie unsere Vorfahren, Tag für Tag, immer gleich.»

Nie gelernt, zu erzählen

Die Entscheidungsträger im Schweizer Migrationsamt (SEM) halten beide Fluchtgeschichten für unglaubwürdig. Ist es nicht ähnlich wie bei den Schreibenden? Ein positiver Asylentscheid wie ein karrierefördernder Literaturpreis, dafür muss die Story stimmig sein. Im Literaturbetrieb ist im Gegensatz zum Migrationsbetrieb wilde Fabulierlust erwünscht. Und misslingt das ambitiöse Werk, ist lediglich das literarische Fortkommen in Gefahr, unsere Bürgerrechte bleiben unangetastet.

Pasang sagt, in ihrem Dorf ohne Schule habe sie nie gelernt, zu erzählen. Zum ersten Mal wurde sie zu dieser seltsamen Tätigkeit von ernsten Migrationsbeamten aufgefordert, die ihr Fragen stellten: «Wie haben Sie Alkohol gebraut? Wie teuer waren Zigaretten? Wie hiessen Ihre Berge? Wie viele Kilometer waren es zum nächsten Dorf?» Pasang rechtfertigte ihr totales Versagen: «Wir brauen Alkohol in jedem Dorf auf eine andere Art, zählen keine Kilometer und leben mit den Bergen, ohne ihre Namen zu kennen und ich rauche schliesslich nicht.» Das überzeugte keinesfalls, die Beamten sahen den routinemässigen Verdacht erhärtet, dass ihre Kenntnisse des tibetischen Landlebens deshalb so dürftig seien, weil Pasang lange in einem Drittland gelebt hätte. Pechus Fall liegt gleich.

Die Empfehlung des Buddhas

Die 35-jährigen Pechu und Pasang sind ein halbes Jahrhundert zu spät nach Kreuzlingen gekommen, sie sind nicht willkommen, wie es ihre Landsleute waren, als nach der Niederschlagung des Widerstands gegen Chinas Fremdherrschaft 1963 tausende tibetische Geflüchtete in der Schweiz geradezu mit buddhistischem Mitgefühl aufgenommen wurden. Wenn die Lüge einen kleineren Schaden als die Wahrheit anrichte, solle man durchaus lügen, hat Buddha empfohlen. Und der Dalai Lama wiederholte es 2005 in Zürich-Oerlikon vor 10 000 nach Altruismus und Achtsamkeit Dürstenden aus vielen Ländern, die sich vom exilierten geistlichen und weltlichen Oberhaupt Tibets unterwiesen liessen.

Die mutmassliche politische Verfolgung von Pasang und Pechu kann ich nicht überprüfen, deshalb verzichte ich darauf, diese nachzuerzählen. Schliesslich bin ich kein flunkernder Buddha und sollte hier nur gesicherte Wahrheiten schreiben. In meinem Nebenberuf als Dolmetscherin habe ich mal nachvollziehbare, mal frisierte Fluchtgeschichten – meistens eine Mischung davon – aus dem Russischen ins Deutsche übertragen und mich gefragt, ob die im Erzählen Geübten und Talentierten, eine höhere Chance hätten, von den Migrationsbehörden als glaubhaft beurteilt zu werden.

Zudem müssten die Glückspilze ein stabiles psychisches Gleichgewicht aufweisen, um ihre Erlebnisse gefasst vorzutragen, doch nicht allzu sehr, damit es nicht als auswendig gelernt daherkommt. Wobei schwer Traumatisierte wiederum mechanisch erzählen, als betreffe sie das schmerzlich Erlebte nicht, um Abstand davon zu bewahren.

Darwins Theorie, dass die Fittesten überleben und ihre Eigenschaften an die Nachkommen weitergeben, stimmt im Migrationswesen nur bedingt: Auch die Qualität der Dolmetschenden entscheidet mit sowie Willkür und Zufälle, etwa die sich ändernden Asylkriterien.

Identität zurückgelassen

Pechu zeigt einen Brief aus Bern, auf dem fett gedruckt steht, dass sie und ihre Kinder von der «verstärkten Rückkehrhilfe profitieren» könnten. Übersetzt heisst das, sie soll sich Papiere besorgen, damit man sie endlich loswird, und als Belohnung dafür bekommt sie ein Startkapital. Warum also verharrt sie weiterhin in der unwürdigen Lage? Sie sagt, in China drohe ihr das Verschwinden im Gefängnis. Die chinesische Botschaft in Bern, wo sie sich nach eigener Aussage mit verdecktem Gesicht und flankiert von zwei Schweizerinnen hinwagte, habe es abgelehnt, ihr Dokumente auszustellen.

Die Schweiz hat weder mit China noch mit Nepal ein Rückübernahme-Abkommen. Die Ausschaffung von Menschen tibetischer Ethnie in diese Länder gilt als unzumutbar. Und nach Indien dürfen nur Geflüchtete abgeschoben werden, die dort früher legal registriert waren und es auch beweisen können.

Aber Pechu habe sich dort vorübergehend und illegal aufgehalten. Dagobert Onigkeit von der Organisation Free Swiss Tibetans erklärt, dass die Tibeter bei der Flucht ihre Identitätsausweise zurücklassen müssten, um nicht wieder nach China ausgeliefert zu werden.

Das Zermürbende an ihrer Lage sei, nicht über das eigene Leben entscheiden zu können, sagen Pechu und Pasang wie aus einem Mund. Der Heimleiter, ein aus Syrien geflüchteter Musiklehrer, bittet uns sanft, den Raum zu wechseln, und dieser läppische Umstand ist für Pechu ein erneuter Grund zur Verzweiflung – schon wieder wird sie sich ihrer Unselbstständigkeit bewusst. Sie darf nicht Gäste empfangen, wie sie es will und wie es ihrem kulturellen Ehrenkodex entspricht. Überall lauert Erniedrigung.

«Wir sind Menschen wie ihr»

Statt als Familie zu darben, von der Nothilfe von 6.50 Franken pro Person täglich, will Pechu eigenes Geld verdienen, eine Wohnung und das Wichtigste: Eine Zukunft für ihre Kinder haben. «In Tibet erlebten wir körperlichen Schmerz, wir wurden geschlagen, hier werden wir psychisch gefoltert. Was ist schlimmer? Wir sind doch Menschen wie ihr.» Eben nicht. Auch in Hondrich gibt es Hierarchien. Der Tibeter Karma, der Vater der gemeinsamen Kinder, gehört einer höheren Kaste an – er hat die N-Bewilligung. Zwar ist N der unattraktivste Buchstabe unter den Buchstaben F, B, C (siehe Zweittext unten), doch sowohl Pechu wie auch Pasang besitzen überhaupt keinen Buchstaben.

Karma und Pechu haben sich in der Schweiz kennengelernt, er hat die Vaterschaft von beiden hier geborenen Söhne anerkannt. Karma dürfte dank N in einer Gemeinschaftswohnung leben, er zieht es aber vor, bei Pechu und den Kindern zu bleiben. Da sie keine zivilrechtliche Ehe schliessen dürfen, fürchten sie, getrennt zu werden.

Dass es noch schlimmer werden kann, ist keine phobische Lebenseinstellung der Leiderprobten. Das sind die Auswirkungen der Neustrukturierung des Asyl- und Flüchtlingswesens von 2016. Die nach eidgenössischen Vorgaben scharfe Trennung zwischen aufgenommenen und rechtskräftig abgewiesenen Asylbewerbern im Kanton Bern sollte in diesem Frühjahr umgesetzt werden.

Letztere würden in drei grosse fertiggestellte Rückkehrzentren nach Biel, Aarwangen und Gampelen verlegt werden. Nur noch dort soll die Nothilfe ausbezahlt werden, doch wegen Corona, so berichtet der Migrationsdienst des Kantons Bern, wurde das Vorhaben vorläufig auf Eis gelegt. Lediglich vulnerable Personen werden umverteilt, wie ein lungenkranker Tibeter, der Hondrich verlassen musste.

Karma betrifft es nicht. Pechu und ihre Kinder würden dann wohl einem der Zentren zugeteilt. Angesichts dessen bekommt die Einzimmerbleibe in Hondrich für die vierköpfige Familie einen Wert, obwohl Pechu klagt, dass sie und Karma sich abends gemeinsam ins WC zurückziehen, um die Kinder nicht beim Einschlafen zu stören. «Das WC ist unser Wohnzimmer». Sie sagt es mit abgelöschter Miene, ohne es als humorvolle Pointe darzubieten, was ein weiterer Hinweis auf ihr mangelndes Erzähltalent ist.

Der Traum von einem Beruf

Vor Kurzem hatten Pasang und 21 andere abgewiesene Tibeter und Tibeterinnen aus dem Kanton Bern noch eine Hoffnung auf eine Aufenthaltsbewilligung gehabt, doch Anfang März wurden ihre Gesuche auf Härtefallanerkennung abgelehnt, mit dem Argument, sie würden bei der Offenlegung ihrer Identität nicht mithelfen. Pechus Wiedererwägungsgesuch wurde noch nicht behandelt. Statt in einem anonymen Zentrum ein kasernenähnliches Dasein zu fristen, ist es gestattet, bei jemandem privat unterzukommen, allerdings ohne Nothilfe. Für Pasang und ihren tibetischen Freund besteht diese Möglichkeit.

Selbstständigkeit gibt es nur in den Tagträumen, die echt schweizerisch sind. «Pechu, was für einen Beruf möchtest du haben?» Erst jetzt strahlt ihr breites Gesicht und sie lächelt gar, wenn sie die in ihre langgereifte Antwort gibt: «SBB-Zugbegleiterin.» Pechu geht aufrecht durch die Waggons «Grüessech, Grüessech» und fordert alle höflich, aber bestimmt auf, das Recht auf Zugfahren unter Beweis zu stellen. Die Rollen sind vertauscht. Nicht sie muss sich vor anderen ausweisen und scheitern. Pechu trägt eine SBB-Uniform. Sie ist eine Respektsperson.

Die Geschichte von Pechu und Karma und ihren Söhnen bekommt eine halbwegs glückliche Wendung. Eine kleine Firma, die Käsereiprodukte vertreibt, stellt Karma ein halbjähriges Praktikum in Aussicht, allerdings erst nach der überstandenen Coronazeit. Der Migrationsdienst des Kantons Bern erteilte ihm eine Arbeitserlaubnis. So könnte die Familie eine eigene Wohnung beziehen, und Karma vorübergehend für alle aufkommen. Ein fragiles Glück.

Info: Irena Brežná kam 1968 als Flüchtling aus der Tschechoslowakei in die Schweiz. Sie ist Publizistin und Schriftstellerin und lebt in Basel.

Stichwörter: Tibet, Aysl, Schweiz, Spiez

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