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Fernweh

Gute Aussichten, bitte!

Schon bald reisen Camilla Landbø und ihr Sohn Amaru zurück nach Málaga. Der Blick ins neue Jahr mutet seltsam an. Aber die Hoffnung, dass das Leben bald wieder offener und lauter wird, gibt Camilla Landbø nicht auf.

Wie in Watte gehüllt aber dennoch voller Menschenlärm und Kindergeschrei: der Gurten. 
Standort: Bern
  • Dossier

Camilla Landbø

Es ist sehr still am Neujahrstag. Ich bin mir nicht sicher, ob es in der Schweiz jedes Jahr so still ist am 1. Januar. Amaru und ich sind noch in Bern. Ich schaue aus dem Küchenfenster über die Dächer der Hauptstadt. Es liegt Schnee auf den Hügeln rundherum. Auch der Gurten, der Hausberg von Bern, ist weiss. Ich öffne das Fenster. Kälte schlägt mir entgegen. Doch, ja, es ist stiller als sonst.

Málaga scheint so weit weg. Als ob es ein Ort, ein Leben an diesem Ort, aus anderen Zeiten wäre. Einst. Anno dazumal. Eigentlich liegen die Tage, an denen wir an der Meeresküste auf und ab gingen, nicht so weit zurück. Zudem: Schon bald sollten wir wieder dort sein. Dadurch aber, dass es coronatechnisch seit Herbst in der Schweiz und europaweit zeitweise sogar im Tagesrhythmus zu Neuheiten kommt und zusätzliche Massnahmen eingeführt werden, hält man uns dauernd auf Trab.

Singen tue ich nicht mehr. Das ist ganz vorbei. Seit Anfang Dezember. Seit dem Singverbot, drinnen und draussen. Mein letztes Konzert war auf einem Spielplatz in Bern angekündigt, mit dem Titel «Ausgebrochen». Ja, wir Musiker wollten ausbrechen – aus der musiklosen Zeit, aus der kulturlosen Zeit, aus der bühnenlosen Zeit. Aber vielleicht auch aus der drohenden Lethargie, die sich durch die vielen Einschränkungen einzuschleichen wagte. Aber statt «Ausgebrochen» hiess es dann «Abgebrochen».

 

Lehre aus 2020: Alles kommt anders

Da, wieder die Stille. Hier und dort sehe ich aus dem Küchenfenster einen Kamin rauchen. Ich glaube, die Leute haben in der Nacht aufs neue Jahr so richtig verstanden, wie intensiv 2020 gewesen ist. Der Abend davor, der hatte noch was Feierliches. Er war begleitet vom Eindruck und dem Gefühl Ah-jetzt-ist-das-endlich-überstanden-dieses-2020. Judihui, wir stossen an. Mal ausgeschlafen, findet man sich im 2021 wieder. Oha, here we are.

Wie wird 2021? Klar, Prognosen gibt es, dass es besser wird, dass es sogar wieder gut wird. Vermutlich spätestens ab Mitte des Jahres. Aber am Ende hat uns das vergangene Jahr eines gelehrt: dass alles anders kommen kann, als man glaubt. Und dass Geplantes wie ein Kartenhaus zusammenbrechen kann.

Wie sehr das letzte Jahr die Menschen verändert hat, stelle ich fest, als ich zum Glückwünschen mit einem Freund aus Buenos Aires via Skype rede. Mit einer wilden und nun langen Haarpracht blickt Lucas in die Kamera und erzählt, dass er fast das ganze 2020 nur zuhause gesessen sei. Zwar darf man in Argentinien, so der 50-Jährige, mittlerweile wieder aus dem Haus nach dem monatelangen Corona-Lockdown. Aber es sei nicht mehr so wie früher. Sogar der typische argentinische Asado, das hedonistische Grillieren mit Freunden, fände kaum noch statt, obwohl man könnte. Lucas hat keine Kinder und keine Partnerin oder keinen Partner, weswegen er zurzeit sehr isoliert im Hochhaus lebt. Er, der eigentlich so gesellig ist. «Camilla, ich sage dir, ich bin komisch geworden, asozial, untauglich für die Welt da draussen.» Tja, Lucas wird sich wohl langsam wieder an die Menschen gewöhnen müssen.

 

Wie bei einer Gruppenmeditation

Das Coronajahr. Nicht nur Lucas scheint davon benommen zu sein. Ich blicke um mich herum und sehe viele Menschen, die konsterniert wirken und es wohl auch sind. Das Coronajahr mit seinen einsamen Momenten hat die Leute auf sich selber zurückgeworfen. Da es aber nicht nur einzelnen passierte, sondern es eine globale Angelegenheit ist, potenzierte sich der Effekt. Wie bei einer Gruppenmeditation. Da ist es doch auch so, man denkt nicht alleine über ein Thema nach, man hat nicht nur alleine ein Gefühl gegenüber einem Sachverhalt, nein, sondern mit vielen Anderen gemeinsam. Es wird also extremer, intensiver. Genau das ist im letzten Jahr passiert: Die Menschen haben zur selben Zeit auf der ganzen Welt innegehalten, nachgedacht, sich mit den gleichen Themen beschäftigt, mit Angst, mit Corona. Was dies auslöste? Wenn man bislang wegschauen konnte, in seinem Leben, Problemen aus dem Weg gehen konnte, 2020 war es schier unmöglich. Sie schwappten an die Oberfläche, wurden sicht- und spürbar. Kurzum: Die Menschen kamen durchgerüttelt, geschüttelt und aufgeschreckt am Jahresende an. Wohl deswegen die ungewohnte Stille.

Am zweiten Tag des neuen Jahres fasse ich den Schnee auf meinem Fenstersims an. Ein paar Stunden später stehen Amaru und ich auf dem von Schnee eingelullten Gurten. Wie gut, dass Kinder so laut sind, denke ich ausnahmsweise. Obwohl die Landschaft wie in Watte gehüllt ist, alles gedämpft wird, hört man Menschenlärm, Gejauchze, Geschrei, wenn mit dem Schlitten hinuntergesaust wird. «Achtung, bitte aus dem Weg gehen!» oder «Ojojojojoooo, shit, bremsen, bitte breeeeemsen!» Wir geniessen diese letzten Momente in der Schweiz.

 

Eine Reise, lauter Fragen

Amaru und ich sind bereits mehrmals mit einem Fuss in Málaga gestanden. Am Ende hielten uns die Festtage zurück, die wir in Bern verbringen wollten, und der Wunsch, die Lage in Spanien ein wenig von der Ferne aus zu beobachten. Einen totalen Lockdown, wie wir ihn damals im März bis Anfang Mai in Spanien erlebt hatten, mit Ausgehverbot, das muss nicht unbedingt nochmals sein. Vor ein paar Tagen jedoch schickte mir Guillermo, ein Freund aus Málaga, eine Sprachnachricht: «Ich erwarte, dass sie uns ab Januar für ein paar Wochen wieder in die Häuser einsperren.» Die Ankündigung, dass, wer sich nicht impfen lässt, als böser Impfverweigerer in Spanien in einem Register fichiert wird, löst ebenfalls keine Jubelschreie bei mir aus. Nicht, weil ich gegen Impfen wäre, das soll jeder selber bestimmen. Sondern weil ich unter freier Entscheidung etwas anderes verstehe.

Wie sollen wir reisen? Braucht ein Siebenjähriger einen PCR-Test? Für Spanien ja. Und wenn wir nicht das Flugzeug nehmen, wie kommen wir durch Frankreich? Mit dem Zug? Eine Reise, lauter Fragen. Das binationale Leben zu Zeiten von Corona ist nicht einfach.

Aber ja: Wir sind dabei, unsere sieben Sachen zu packen, um hoffentlich in den nächsten zwei Wochen die Reise nach Málaga anzutreten. Dorthin, wo zurzeit ein winterlicher Wind vom Meer her weht. Da es gefühlt so weit weg liegt, Málaga und unser Leben dort, und die Vorfreude auf die andalusische Küste so manches Mal in den letzten Wochen getrübt wurde, wage ich es kaum, der jetzigen Freude freien Lauf zu lassen. Ich bin noch ein wenig verhalten. Aber ich wage eine Prognose: 2021 wird wieder lebendiger – und lauter.

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