Sie sind hier

Abo

Tom Kummer

«Gute Eltern 
zelebrieren 
die Versöhnung»

Der Journalist und Autor Tom Kummer schreibt in seinem neuen Roman «Von schlechten Eltern» über 
das Vatersein, Todessehnsucht und nächtliche Fahrten. Im Gespräch erzählt er, was seine Art von Literatur ausmacht 
und warum er Biel so liebt.

Zieht Leserinnen und Leser seit jeher in seinen Bann: Der ehemalige Journalist Tom Kummer hat als Romanautor sein literarisches Zuhause gefunden. Bild: Keystone

Interview: Helen Lagger

Tom Kummer, der Titel Ihres Buches lautet «Von schlechten Eltern». Da fragt man sich natürlich, ob Sie sich und Ihre 2014 verstorbene Frau Nina damit meinen ...

Tom Kummer: Ich hatte lange Zeit ein Buchkonzept mit diesem Titel in der Schublade, das tatsächlich von mir und Nina als Eltern in Los Angeles handelte. Meine Idee war es, das Elternsein grundsätzlich zu hinterfragen, was man ja als Eltern automatisch tut. Der Buchtitel hat mir gefallen. Er passte aber eigentlich nicht mehr zu dem Buch, das schliesslich entstand. Aber er entsprach meinem Konzept, das darin besteht, die Leserinnen und Leser auf eine falsche Fährte zu lenken. «Von schlechten Eltern» spielt mit verschiedenen Plots, die anfangen und wieder aufhören. Es geht nicht, wie man denken könnte, um eine skandalöse Geschichte, sondern um ein Lebensgefühl. Die Leserinnen und Leser müssen sich in den Sound des Textes hinein versetzen.

Die Kritikerinnen und Kritiker 
sprechen häufig von einem Sog, 
den Ihr Schreiben auslöse. Was ist Ihr Trick? Fängt die Sog-Wirkung 
mit diesem Titel an?

Ja, das kann sein. Man könnte natürlich denken, jetzt entblösst Tom Kummer, was für schlechte Eltern er und seine Frau Nina waren. Aber am Ende ist es ja fast das Gegenteil, was dabei herauskommt. Der Sog in meinen Texten wird aber nicht nur durch falsche Fährten erzeugt, sondern es hat vielmehr etwas mit der Art des Schreibens an sich zu tun. Ich habe einen gewissen Stil, den ich über die Jahre entwickelt und verbessert habe. Ein Stil, der es mir erlaubt, die Leserinnen und Leser an der Hand zu nehmen und sie mitreissen zu können.

Ihr Buch ist zwar Fiktion, aber die Hauptfigur im Buch – dieser überfürsorgliche Vater – scheint doch sehr nahe an Ihnen selbst angelegt zu sein.

Der Vater im Buch ist ambivalent. Am Anfang ist man nicht ganz sicher, wie traumatisiert oder sogar wie gefährlich er ist. Ich zeige ihn als unberechenbaren Charakter. Bereits auf den ersten 20 Seiten wird aber auch klar, dass er grosse Zärtlichkeit für seine Kinder empfindet. Er sucht eine unglaubliche Nähe zu seinem jüngeren Sohn Vince, der bei ihm lebt. Über dieses Kind sucht er den Kontakt zu seiner verstorbenen Frau. Seine Vorstellung ist es, über den Geruch eine Verbindung zu Nina zu finden. Klar, stellt sich die Frage: Was ist fiktiv, was ist Realität? Ein Roman ist immer etwas Komprimiertes.

Es gab Stimmen, dass die im Buch beschriebene Nähe zu dem Kind an Pädophilie grenze. Hat Sie das getroffen?

Nein. Das ist eine bewusste Provokation. Was bedeutet Literatur? Literatur soll die Leserinnen und Leser in einen Grenzbereich ziehen. Sie dürfen sich ruhig auch mal abgestossen fühlen. Wichtig ist, dass ihnen eine Türe geöffnet wird. Übrigens: Der Vorwurf der Pädophilie ist vielleicht einmal gefallen, während etliche andere Kritikerinnen und Kritiker fanden, es handle sich um eine fantastische, schöne Beschreibung von Zärtlichkeit.

Sie haben ganz bewusst mit dieser Ambivalenz gespielt?

Ja, klar. Das meiste, was ich mache, ist bewusst. Das hat sicher auch etwas mit meiner Vergangenheit als Formatrebell zu tun.

Was ist das, ein Formatrebell?

Das ist einer, der versucht, die Form oder die Gattung zu brechen, die ihm vorgegeben wurde. Die ganze Kulturgeschichte ist voller Formatrebellen. Einer meiner grossen Helden ist etwa Jean-Luc Godard, der die Filmsprache verändert hat. Als Autor interessiert es mich, den Leserinnen und Lesern Momente zu liefern, die für Unsicherheit sorgen. Doch das Thema des aktuellen Buches war für mich so wichtig, dass die formalen Spielereien fast in den Hintergrund gerückt sind.

Der Sohn im Buch sagt zu seinem 
Vater: «Ich brauche kein gekühltes Getränk, ich brauche Internet.» 
Ein Generationenkonflikt?

Ja, klar. Das Buch thematisiert in vielerlei Hinsicht Generationenkonflikte. Ich schreibe ja auch, dass ich meinen Sohn mehr brauche, als mein Sohn mich. Es ist klar, dass Vince mir Hoffnung gibt. Der Ich-Erzähler möchte ja eigentlich ins Totenreich zu seiner Frau gehen. Der Grundtenor des Buches ist, dass wir auf unsere Kinder vertrauen können. Es ist doch so, dass unsere Kinder uns den Weg zeigen. In allen Debatten, die wir im Moment haben, den Klimawandel betreffend oder in der Politik.

Das Auto des Vaters, der als Fahrer nachts reiche Diplomaten herum chauffiert, findet der Sohn völlig 
absurd.

Er findet es sogar «krank». Es ist ein Auto, das auch meinen eigenen Werten nicht entspricht. Aber es passte. Ich kann mich erinnern als ich als Junge in Bern war, dass diese Welt der Botschaftsfahrer sehr mysteriös war. Das hat mich inspiriert.

Also ist diese Fahrergeschichte 
gänzlich fiktiv?

Nein. Ich war tatsächlich Chauffeur. Als 20-Jähriger war ich der Sonntagsfahrer des brasilianischen Botschafters. Es war ein Aushilfsjob, weil sein offizieller Fahrer am Sonntag frei hatte. Er brauchte ab und zu jemanden, der ihn zum Auktionshaus Dobiaschofsky oder nach Zürich fuhr. Das Fahren im Roman ist allerdings auch symbolisch zu verstehen. Aus der Bewegung heraus zu schreiben, das hat mich immer sehr interessiert.

Haben Sie Romane wie Jack Kerouacs «On the Road» beeinflusst?

Die Beat-Generation ist mit Sicherheit eine wichtige Referenz für mich. Aber nicht nur. Es ist grundsätzlich ideal, wenn die Bühne, in dem sich ein Drama abspielt, ein bewegtes Gefährt ist. In meiner Geschichte geht es darum, dass ich als Fahrer einen Zugang zum Totenreich finde. Das passiert über die Windschutzscheibe.

Es gibt im Buch nicht nur viele Dialoge zwischen dem Fahrer und den Passagieren, sondern auch interessante Gespräche zwischen dem Vater und der Lehrerin von Vince, seinem Sohn. Auch hier möchte man wissen, ob man Ihnen als Vater im echten Leben tatsächlich gesagt hat, Ihr Sohn sei ein sogenanntes Sternenkind?

Ich kann jedenfalls bejahen, dass man mir über meinen Sohn schon sehr viel gesagt hat. Er ist ein in Los Angeles aufgewachsenes Kind und hat eine besondere Einstellung mit nach Bern gebracht. Ein fantastischeres Denken, würde ich sagen. Die Kinder in L.A. sind näher dran an der Unterhaltungsindustrie und an der Popkultur. Es gab sicher ähnliche Gespräche wie im Buch, aber es ist mir auch darum gegangen, Vince eine geheimnisvolle Innerlichkeit zu verpassen.

Dazu kommt eine Szene mit dem 
Jugendamt, das den Vater befragt.

Die musste sein. Dieses Beobachtetwerden ist mir anfangs, als ich wieder zurück in Bern war, extrem aufgefallen. Los Angeles ist die pure Anonymität, man ist häufig im Auto unterwegs. Wenn man nicht will, hat man keine menschlichen Kontakte. Sagen wir es mal so: Anonymität, das war dort ein grosser Teil der Lebensqualität. Der Erzähler kann die Schweiz nicht ertragen. Es irritiert ihn. Deshalb spielt sich auch alles in der Nacht ab. Man muss das aber trennen: Die Figur im Buch und ich als Mensch, der natürlich die Schweiz auch wahnsinnig schätzt.

Warum sind Sie zurückgekommen?

Ich habe gemerkt, dass ich L.A. ohne Nina anders erlebe. Unangenehmer und verlorener. Es war damals eine Team-Entscheidung, in diesem Moloch zu leben. Zusammen waren wir stark.

«Die Schweizer glauben nicht mehr an ihr Paradies», sagt eine Figur im Buch. Was läuft schief?

Die Schweiz ist auch ein Land mit einer gewissen Schuld, dieses Wohlstandsparadies ist ja aus verschiedenen Gründen entstanden. Wir wissen, dass die Schweiz etwa mit dem Bankgeheimnis Diktatoren protegiert hat et cetera. Aber ich bin kein explizit politischer Autor. Für mich ist Ethik in einem gewissen Sinne weniger wichtig als Ästhetik. Die Kritik an diesen Botschaftern ist vorhanden, aber mein Ziel war es vielmehr, die Leserinnen und Leser in eine gewisse Stimmung zu versetzen. Was kann Trauer in einem Menschen auslösen? Diese Frage hat mich umgetrieben.

Hilft das Schreiben gegen die Trauer?

Schreiben ist meine Arbeit und macht mich grundsätzlich glücklich. Ja, schreiben hat eindeutig mit Lebensglück zu tun. Ich kann es jedem empfehlen, der eine schwere Zeit durchmacht, ein Tagebuch zu führen.

Es passiert viel Metaphysisches in Ihrem Buch. Was für eine Beziehung haben Sie selbst zum Übersinnlichen?

Dass es Kraftorte oder Unorte gibt, Örtlichkeiten, die eine Ausstrahlung oder Wirkung haben, daran möchte ich glauben. Mein Vater war ein Bergsteiger und hat ganz stark an die Kräfte der Berge geglaubt. Bei meinen Kunstprojekten, etwa der Umgestaltung des Europaplatzes oder der Befreiung eines Bildes in Mürren habe ich gemerkt, wie stark meine eigene Beziehung zu Orten ist. Die Aare, das Zehndermätteli in Bern – ich könnte jetzt ganz viele Orte aufzählen, die Kraft ausstrahlen. In meinem Roman lade ich Orte magisch auf. So lasse ich etwa unspektakuläre Autobahnstrecken geheimnisvoll erscheinen.

Und nach dem Tod? Hegen Sie diese Idee, dass Menschen zu Geistern werden, das etwas von den Verstorbenen bestehen bleibt?

Mit dieser Frage wächst man ja auf. Schon als Kind fragt man sich doch, was wohl mit den Toten passiert, wenn etwa das eigene Haustier stirbt.

Sie kommen in den Himmel, sagt man den Kindern. Aber irgendwann glaubt man das doch nicht mehr, oder?

Ja, es gibt auch die gnadenlose Haltung, die besagt, dass wir verrotten. Punkt. Aber es gibt eben auch einen fantastischen Realismus, der das Leben erst lebenswert macht. Dass man Sehnsucht hat und diese versucht auszuleben. Da ich eine sehr grosse Liebe erlebt habe, fand ich es einfach unerträglich, dass Nina für mich nicht mehr existieren sollte.

Ihre Frau ist im Buch aber kein 
unproblematischer Geist.

In meinem vorangehenden Roman «Nina und Tom» steht im letzten Satz, wenn sie von dem Buch wüsste, würde sie mich umbringen. Es gibt auch eine Stelle, in der sie sagt, es sei unfair, dass sie tot sei und ich noch leben würde. Dahinter steckt der Gedanke, dass absolute Liebe wäre, wenn ich auch sterben würde. Es gibt ja diesen legendären, japanischen Film, «Im Reich der Sinne», der verboten wurde. In dieser Story wird Liebe bis in den Tod zelebriert, gemeinsam auf dem Höhepunkt gestorben. Ich habe immer gefunden, dass Liebe so extrem ausgelebt werden sollte wie möglich.

Was machte diese besondere 
Beziehung zu Ihrer Frau aus?

Nina und ich, wir waren beide Lebenskünstler und haben eine Art Bohémien-Leben geführt. Ein Vorteil davon ist, dass man exzessiv leben kann. Ich finde, es braucht solche Leute. Unsere Gesellschaft funktioniert dank soliden Menschen, die arbeiten und dafür sorgen, dass der Wohlstand fortbesteht. Aber es braucht auch Aussenseiter, die Grenzbereiche aufzeigen. Als ich 20-jährig entschied, aus dieser Mainstream-Welt auszusteigen, war das meine Motivation. Und ich hatte das Gefühl, dass ich etwas zu erzählen habe.

«Nomen est omen» sagen manche Leute. Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob der Name Kummer einen Einfluss auf Ihr Leben hatte?

Mein Name verweist in erster Linie auf ein solides Emmentaler-Geschlecht. Als Junge hat man mich manchmal gefragt, ob ich von den Kummerbuben käme. Ich habe diesen Namen allerdings nie als Last empfunden. Ich bin im echten Leben kein depressiver, sondern eher ein zufriedener, ausgeglichener Mensch.

Dann sind Sie weit weg von diesem Ich-Erzähler im Buch und seiner ständigen Todessehnsucht?

Es ist ein literarischer Entwurf, ganz klar. Für mich gibt es aber auch die Melancholie als Lebensentwurf. Ich empfinde Schwermut nicht als unangenehm. Ich würde sogar von einer heiteren Melancholie sprechen. Mein Buch zeigt auch auf, dass man ein Leben in einem melancholischen Zustand führen kann. Das Buch sei in Moll geschrieben, hat eine Kritikerin gesagt. Für mich ist das ein zutreffendes Lebensgefühl.

Wie ist es für Ihre Kinder, in Ihren 
Büchern vorzukommen?

Ich würde nicht über sie schreiben, wenn sie dagegen wären. Aber sie sind sehr eng mit mir und meiner Frau aufgewachsen. «Nina und Tom», das war ein sehr viel entblössenderes Buch als «Von schlechten Eltern». Es enthält mehr Sex und Gewalt. Das war für meine Söhne nie ein Problem, denn wir sind immer sehr offen mit den beiden umgegangen.

Was machen gute Eltern aus?

Das Entscheidende ist, dass Eltern Versöhnung zelebrieren, auch vor ihren Kindern. Man kann den grössten Streit haben, aber es braucht immer wieder versöhnende Gesten. Die Liebe muss letztlich siegen. Ich habe sehr ausgeglichene Kinder, die wissen, dass ich Künstler bin. Bei einem Uhrenmacher ist der Alltag vom Uhrenmachen bestimmt. Unser Alltag wird durch existenzielle Debatten dominiert. Das fängt bereits am Morgentisch an. Natürlich nütze ich Nina in Anführungs- und Schlusszeichen aus. Ich habe mich entschieden, sie zur Hauptdarstellerin einer Trilogie zu machen.

Mit dem Schreiben von Fiktion sind sie am richtigen Ort angekommen. Sie waren eigentlich nie Journalist, sondern immer schon Künstler, oder?

Ja, natürlich. Das war ich tatsächlich immer schon. Meine Entscheidung im Journalismus tätig zu sein, hatte damit zu tun, dass mein Schreiben sehr geschätzt wurde. Ich musste nicht anders schreiben, als wenn ich Bücher geschrieben hätte, und wurde sehr gut dafür bezahlt. Man sprach damals von «literarischem Journalismus» oder «New Journalism».

Ermüdet es Sie, immer wieder auf diesen Medienskandal, den sie im Jahr 2000 ausgelöst haben, angesprochen zu werden?

Es ist verjährt. Ich bin, wie Sie richtig gesagt haben, jetzt in dem Feld, in dem ich immer hätte sein sollen.

Es gab 2010 einen Film über Sie mit dem Titel «Bad Boy Kummer». Können Sie sich mit diesem Begriff identifizieren?

Ich finde es schmeichelhaft, als bald 60-Jähriger so genannt zu werden. Meine Jungs amüsiert das natürlich. Aber es zeigt auch, wie sehr es im Journalismus «Labels» braucht. Dieses Interview, das ist für das «Bieler Tagblatt», richtig?

Ja.

Das freut mich. Nina, meine Frau, kam aus Biel. Ich habe einen grossen Bezug zu dieser Stadt, die ich stets als offen und multikulturell erlebt habe. Ich habe diese Stadt durch meine Frau wahnsinnig gerne bekommen.

*****************

Zur Person

  • Tom Kummer wurde 1961 in Bern geboren.
  • Er ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, der im Jahr 2000 mit erfundenen Interviews für den vielleicht grössten Medienskandal des Landes sorgte.
  • Es kam heraus, dass Kummer Interviews mit Stars wie Charles Bronson oder Sharon Stone nicht selbst geführt, sondern sich das Gesagte ausgedacht, oder aus Ausschnitten anderer Interviews zusammengesponnen hatte.
  • Kummer selbst stellte in einem Essay seine «publizistische 
Grundidee» als Ausdruck unserer postmodernen Welt dar.
  • In der Folge schrieb Kummer zwar weiterhin Reportagen und 
Essays, wurde aber immer wieder mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert.
  • 2017 veröffentlichte er seinen ersten Roman «Nina und Tom» in dem seine verstorbene Frau Nina erstmals als Protagonistin auftritt.
  • In seinem neuen Roman «Von schlechten Eltern» geht es ebenfalls um einen Mann namens Tom, der seine Frau verloren hat und mit seinem jüngeren Sohn aus Los 
Angeles in die Schweiz zurückgekehrt ist. In der Nacht fährt er als Chauffeur von Diplomaten und dubiosen hohen Tieren durch die neue, alte Heimat und versucht, seine Trauer zu überwinden. Seine tote Frau erscheint ihm als Geist, sie möchte ihn zu sich ins Totenreich ziehen. Am Leben halten ihn seine beiden Söhne.
  • «Von schlechten Eltern», ist 2020 im Tropen Verlag erschienen. hl/jat

Nachrichten zu Fokus »