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Titelgeschichte

Hinter den prachtvollen Fassaden

Solothurn gilt gemeinhin als «schönste Barockstadt» der Schweiz. Das Label verdankt sie den guten Beziehungen einflussreicher Patrizier zum französischen Hof des Sonnenkönigs Louis XIV. Die Barocktage Solothurn, die am Samstag beginnen, laden dazu ein, diesen Spuren nachzugehen.

Schloss Waldegg, Bild: zvg

Annelise Alder

Trompe-l'œil – Täuschung. Davon ist beim Rundgang durch Solothurn oft die Rede. Die Fassade zählt, der schöne Schein, die Illusion von Grösse und Weite. «Diese Säulen hier sind aus Solothurner Marmor», sagt Susanne Im Hof, Stadtführerin von Solothurn. Sie steht mitten in der Jesuitenkirche, deren prächtiger Innenraum hell erstrahlt, deren Wände und Decke mit üppigen Stuckaturen in italienischer Manier verziert sind und deren Altar von hohen, bis in die Decke ragenden Säulen eingefasst ist.

Solothurner Marmor? «Das gibt es natürlich nicht», sagt die Stadtführerin lachend. «Damit ist ganz einfach Kalkstein aus dem Jura gemeint.» Edel gibt sich die Kirche mit ihrem kostbaren Hochaltar aus marmoriertem Holz trotzdem, auch wenn die Stadtführerin nachschiebt: «In der Kirche drinnen ist kein Stück Marmor vorhanden.» Die Bodenverhältnisse hätten dies gar nicht zugelassen. «Er ist viel zu morastig.»

Die Jesuitenkirche ist nicht das einzige Gebäude, das vom Einfluss der Jesuiten auf die Stadtentwicklung zeugt: Auch das heutige Schulhaus Kollegium und das Stadttheater gehen auf das Engagement der Glaubensbrüder zurück. 1646 war die katholische Ordensgemeinschaft nach Solothurn berufen worden, um die Lateinschule zu übernehmen. Kurze Zeit später entstand das Kollegiengebäude mitsamt Gymnasium. 1680 wurde der Grundstein der Kirche gelegt. Dies alles kostete viel Geld. Die Stadt und die in Solothurn wohnhaften vermögenden Patrizier unterstützten die Vorhaben jedoch in grosszügiger Weise.

Die Jesuiten waren nicht nur für die schulische Ausbildung der Solothurner Patrizierkinder zuständig. Sie prägten auch das kulturelle Leben des Städtchens. Davon zeugt das Stadttheater, das hinter der Jesuitenkirche erbaut wurde. Bei seiner Sanierung vor sieben Jahren kamen im Innenraum farbenfrohe Dekorationsmalereien zum Vorschein. Sie wurden im 18. Jahrhundert von Felix Joseph Wirz angebracht. «Zwei Restauratorinnen waren während eines ganzen Jahrs damit beschäftigt, die Malereien zu restaurieren und von den darüberliegenden Schichten aus Farben und Schmutz zu befreien. Dabei haben sie eine Ananas-Quark-Mischung als Reinigungsmittel benutzt», sagt Svea Haugwitz, Dramaturgin bei Theater Orchester Biel Solothurn. Das Stadttheater geniesst heute den Ruf, «schönster Theaterraum der Schweiz» zu sein.

 

Die französischen Botschafter brachten Savoir-vivre in die Schweiz

Die Jesuitenkirche zählt zu den schönsten Barockbauwerken der Schweiz. Die Fassade der Kirche ist mitten in die Häuserflucht der Hauptgasse eingebunden. Die meisten Passanten spazieren deshalb achtlos daran vorbei. Dabei lohnt es sich, stehen zu bleiben und die Front zu inspizieren. Zu entdecken sind die Figuren der wichtigsten Ordensheiligen, darunter Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens. Besonders bemerkenswert ist eine Inschrift in goldenen Lettern über dem Hauptportal. Es handelt sich um einen Hinweis auf die Freigebigkeit von Louis XIV. Kein geringerer als der Sonnenkönig hatte nämlich die Fassade gestiftet.

Es ist kein Zufall, dass Spuren des weltberühmten Monarchen bis an den Jurasüdfuss reichen. Die Gesandten der französischen Könige residierten während mehr als 250 Jahren in Solothurn. Die Stadt wird heute deshalb gerne auch «Ambassadorenstadt» genannt. Die Botschafter Frankreichs brachten höfischen Glanz und Savoir-vivre in die damals ländliche Kleinstadt an der Aare. Umgekehrt pflegten vor allem im 17. Jahrhundert die lokalen Patrizierfamilien beste Beziehungen zum französischen Hof, wie das Beispiel der Familie Besenval illustriert.

Ihr Stadtpalais hat sich bis heute erhalten. Es liegt unweit von Jesuitenkirche und Theater direkt an der Aare. «Das prächtige Anwesen wurde bewusst am Wasser erbaut», sagt Susanne Im Hof. Die Bewohner des imposanten Baus wollten damit die Menschen beeindrucken, die auf ihren Schiffen am Haus vorbeizogen, auch wenn es sich nur um einfache Händler auf dem Weg zum danebenliegenden Kornhaus handelte.

Das Palais Besenval machte nicht nur wegen seiner Grösse Eindruck, sondern auch aufgrund seiner Architektur. Es war nämlich in der Eidgenossenschaft völlig neu für seine Zeit. Das Anwesen wurde exakt nach dem Vorbild eines französischen Adelspalasts erbaut. Sein Bautyp entspricht einem «Hôtel entre cour et jardin»: Vor dem Haus befindet sich ein Zufahrts- und Ehrenhof und hinter dem Haus ein in barocker Art angelegter Garten.

Heute zeugt nur noch die Aussenfassade vom barocken Vorleben des Baus. Im Innern dominiert zeitgemässer Komfort. Das Palais Besenval wird heute nämlich als Seminarzentrum und als Hochzeitslocation genutzt.

 

Schloss Waldegg gehört zu den schönsten Barockanlagen im Land

Peter Joseph von Besenval, einer der Erbauer des Palasts, hielt sich nur im Winter in seinem Stadthaus auf. Im Sommer, wenn es heiss wurde, verlegte er seinen Wohnsitz aufs Land. Hier hatte sein Vater, Johann Victor I. von Besenval, ein prächtiges Anwesen errichtet: Schloss Waldegg. «Es ist noch heute ein barockes Gesamtkunstwerk», sagt Andreas Affolter, Leiter von Schloss Waldegg. Das wird einem bereits bei der Zufahrt zur Anlage vor Augen geführt: Eine leicht ansteigende, schnurgerade Strasse, gesäumt von blühenden Lindenbäumen, führt direkt auf den mittleren Turm des Schlosses zu. Dieses stellt mit seinen fünf Türmchen eine übersteigerte Form des für die Gegend von Solothurn typischen, sogenannten «Türmlihauses» dar.

Vor der prächtigen, rund 80 Meter langen Fassade breitet sich ein typisch barockes Gartenparterre aus. Die Rabatten sind streng symmetrisch angelegt und von kleinen Buchshecken umgeben. In der Mitte befindet sich ein achteckiger Springbrunnen.

Geschmückt wird der Barockgarten von Obelisken und Säulen, die in die Höhe ragen. Sie zeugen vom Machtanspruch des Erbauers.

Nicht genug damit: Im Westen des Anwesens befindet sich die Orangerie. «Exotische Pflanzen bildeten damals ein Statussymbol», sagt Andreas Affolter. Am liebsten möchte man sich eine von den Zitrusfrüchten pflücken, aber der Rundgang geht weiter über den Rosengarten zum nördlich gelegenen Nutzgarten, wo eine unglaubliche Vielfalt an Gemüsesorten vorwiegend der alten Pro-Specie-Rara-Sorten angebaut werden. Auch diese Gartenanlagen wurden, wie auch der Barockgarten, in letzter Zeit nach und nach rekonstruiert. Alte Stiche und ein freigelegtes Wegsystem ermöglichten dabei einen originalgetreuen Nachbau des Barockgartens.

Es gibt auch echte Zeugen der Geschichte von Schloss Waldegg. Sie befinden sich im Hof des Anwesens: Es sind weit in die Höhe ragende, prächtige Sommerlinden. «Sie sind mehr als 300 Jahre alt und sie bilden einen Lebensraum für unterschiedliche Tiere wie Käuze und Käfer», sagt der Leiter des Schlosses.

 

Das Gefühl, direkt in den Himmel zu schauen

«Barock, das meint auch Spiel mit Wahrnehmung und Realität», sagt Andreas Affolter, ein promovierter Historiker. Von vorne, von seiner repräsentativen Seite also wirkt Schloss Waldegg mit seiner knapp 80 Meter langen Fassade höchst imposant. Von der Seite aber gibt sich das Anwesen eher bescheiden. Der Bau misst an seiner breitesten Stelle lediglich 13 Meter.

Typisch für die Barockzeit ist auch die Illusionsmalerei. Sie ist im Innern des Schlosses immer wieder zu entdecken, vor allem an den Decken. «Oft wird im Schloss Waldegg durch die bemalten Decken der Eindruck erweckt, dass man direkt in den Himmel schauen kann.»

Barocke Üppigkeit verkörpert in der Schlosskapelle dagegen der ausladende Altarretabel mit seinem schweren, weit ausschwingenden Rahmen. Die den Innenraum zierenden, grossformatigen Bilder wurden direkt aus Paris importiert. «Wenn man die äusserlich einfach gehaltene Kapelle betritt, überrascht einen die Grosszügigkeit des Raums und seine raffinierte, prächtige Ausstattung», sagt der Leiter des Anwesens.

 

Reichtum dank Handel mit Salz und Söldnern

Die üppige Ausstattung der Kapelle sowie der Räumlichkeiten von Schloss Waldegg zeugen vom Reichtum der damaligen Schlossbewohner. Womit hat die Familie Besenval ihr Geld verdient? «Salz und Söldnerwesen», sagt der Leiter des heutigen Museums. Martin Besenval, der aus dem Aostatal nach Solothurn eingewandert war, handelte zunächst mit Silberwaren, Getreide, Wein und Schiesspulver, später mit Salz. Dabei kam ihm zugute, dass ihm der Kleine Rat Solothurns 1648 das Salzmonopol verlieh. Mitte des 17. Jahrhunderts stieg er zudem ins Söldnergeschäft ein, einem für viele Solothurner Patrizier äusserst lukrativen Wirtschaftszweig. An der Vermittlung von Schweizer Soldaten nach Frankreich verdienten auch die Familien Besenval ein erhebliches Vermögen. «Heute würde man von Millionären sprechen», sagt Susanne Im Hof.

Die Solothurner Patrizier liessen es sich gut gehen. Davon zeugt nicht nur das exquisite Mobiliar auf Schloss Waldegg, wie etwa Stühle mit aufwendig besticktem Polster oder reich geschnitzte Betten und Konsoltische. Die Wände wurden teils mit kostbaren Ledertapeten ausstaffiert. Überhaupt orientierte sich der gesamte Lebensstil der Schlossbewohnerinnen und -bewohner an dem des französischen Hofs. Der Schlossherr trägt auf einem Porträt, das in einem der Räume des heutigen Museums zu sehen ist, die exakt gleiche Perücke wie der Sonnenkönig. «Man kleidete sich nach französischer Mode und man sprach französisch», sagt die Stadtführerin. Auf Schloss Waldegg und in der Stadt gab es damals rauschende Feste und imposante Feuerwerke. Bei besonderen Anlässen soll aus Brunnen statt Wasser sogar Wein geflossen sein.

 

Zwei komplett getrennte Welten in einem einzigen Gebäude

Ein Leben in Saus und Braus: Das geht nicht ohne ein Heer von Bediensteten. Für die damaligen Schlossbewohnerinnen und Besucher blieben sie indes meist so gut wie unsichtbar. Die meisten Angestellten fristeten zudem ein äusserst bescheidenes Dasein. Wie solche Parallelwelten nebeneinander bestehen konnten, lässt sich besonders gut im Museum Blumenstein erkennen.

Das historische Gebäude befindet sich heute am Rande der Altstadt von Solothurn. Ursprünglich gehörten zum herrschaftlichen Sommersitz der Patrizierfamilie Greder mehrere Gebäude sowie ausgedehnte Gartenanlagen und landwirtschaftliche Flächen. «Sie alle fielen der Stadterweiterung zum Opfer», sagt Erich Weber, Konservator des Museums.

Einen Eindruck vom damaligen Leben erhält man vor allem, wenn man das Innere des spätbarocken Baus betritt. In der Eingangshalle fällt als Erstes die breite, repräsentative Treppe auf, die sich in die Höhe schwingt.

Von der Halle führt zudem eine zweite Treppe in die oberen Stockwerke. Sie verbirgt sich allerdings hinter einer unscheinbaren Tür. Die Treppe ist eng und dunkel. Ihre Stufen führen direkt in die Kammern des Dienstpersonals. Die ärmlich eingerichteten Verschläge kontrastieren stark mit den prachtvollen Räumlichkeiten, die sich nur wenige Meter entfernt im Untergeschoss des Gebäudes befinden. «Das waren zwei voneinander komplett getrennte Welten», sagt Erich Weber, der das heutige Museum Blumenstein leitet. «Es gibt nur noch sehr wenige Häuser in der Schweiz, wo die Trennung zwischen Herrschaft und Bediensteten derart deutlich zu sehen und zu spüren ist.»

Schloss Blumenstein wurde im 18. Jahrhundert erbaut. Heute beherbergt es das historische Museum der Stadt Solothurn. Nicht nur das Gebäude an sich ist sehenswert. Das Museum sammelt Objekte, welche die Geschichte der Stadt repräsentieren. Die Räume im Parterre sind mit kostbaren Möbeln ausgestattet. Zusammen mit den Wechselausstellungen in den oberen Räumen und einem umfangreichen Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm führen sie den Besucherinnen und Besuchern vor Augen, wie das damalige Solothurner Patriziat gelebt hat – und unter welchen Bedingungen das Dienstpersonal sein Dasein fristete.

Im Untergeschoss lässt sich eine historische Küche bestaunen. In den Räumlichkeiten der Bediensteten ist derzeit eine Ausstellung zu sehen mit dem Titel «Seife, Sex & Schokolade – Vom Umgang mit den Körpersäften». Sie greift auf unprätentiöse Weise ein Thema auf, das damals in besonderem Masse, aber auch heute noch mit Scham und Tabus behaftet ist.

Und im Salon ist ein Spieltisch aufgestellt, auf dem sich Tarock-Karten befinden. In der Barockzeit spielten die Solothurnerinnen und Solothurner fast täglich Tarock oder «Troggen», wie das Spiel damals genannt wurde. Heute noch wird im Wallis und im Bündnerland eine Variante davon gepflegt. Wer die Spielregeln kennenlernen möchte, hat im Rahmen der Solothurner Barocktage Gelegenheit dazu. Sie dauern vom 14. bis 22. August (siehe Infobox).

 

Fliessende Übergänge der verschiedenen Baustile

Solothurn gilt weitherum als schönste Barockstadt der Schweiz. Tatsächlich besitzt sie ein Altstadtbild mit verschiedenen bedeutenden barocken Elementen und in den Aussenquartieren viele prächtige Landsitze aus dieser Zeit. «Was die Struktur angeht, ist Solothurn aber im Grunde eine mittelalterliche Stadt», präzisiert Erich Weber. Und auch Susanne Im Hof relativiert: «Die verschiedenen Baustile gehen fliessend ineinander über.» Als ältestes Bauwerk der Stadt gilt die Zytglogge. Und auch die elf in der Stadt verteilten Brunnen stammen aus vorbarocker Zeit. Die Trägerbalken des vornehmen Hotel Restaurant Couronne, dem zweitältesten Hotel der Schweiz, stammen aus dem Spätmittelalter. Und die St. Ursen-Kathedrale, das Symbol der Altstadt, ist im frühklassizistischen Stil erbaut.

Der prächtige Sakralbau gilt zudem als ein Meisterwerk der magischen «Elf»: Die imposante Treppe führt in dreimal elf Stufen empor zur Kathedrale. Im Innern des Baus gibt es elf Altäre und der Turm ist sechs Mal elf Meter hoch und hat elf Glocken. Es gäbe noch mehr zur Bedeutung der magischen Zahl elf in Solothurn zu erzählen, doch würde dies den vorgegebenen barocken Rahmen sprengen.

Barock in Reinkultur verkörpert dagegen die Fassade des Reinert-Hauses: «Das ist die schönste Hausfassade der Stadt», sagt die Stadtführerin nicht ohne Stolz. Die stilisierten Lilien an den Gitterstäben vor dem Fenster zeugen von der engen Verbundenheit der damaligen Stadt mit dem französischen Königshaus, die hohen Fenster im Parterre und im ersten Stock, der «Belle Etage», von der adeligen Attitüde ihrer vornehmen Bewohnerinnen und Bewohner. Die kleinen Fenster unter dem Dach geben zu verstehen, dass ein stilvolles Leben damals nicht ohne Dienstpersonal möglich war. Die wunderschöne historische Fassade lässt beinahe vergessen, dass dahinter längst die ernüchternde Gegenwart Einzug gehalten hat.

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