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Therapie

«Ich darf nicht glücklich sein, ich habe das nicht verdient»

Eine junge Frau in Ausbildung leidet unter dem unkontrollierbaren Impuls, sich die Haare auszureissen. Sie tut es im Versteckten und empfindet im Nachhinein Schuldgefühle. Was kann eine Therapie hier ausrichten?

Wohin mit all der Wut und den dunklen Gedanken? "Zum Abschrecken" von Paul Klee (1940). Bild: zvg/Zentrum Paul Klee, Bern
Regula Gilg
 
Jasmine* ist angehende Lehrerin, dynamisch, sensibel und intelligent.
 
Wenn sie redet, ist stets ein Lachen dabei, das alles nicht ganz ernst zu nehmen scheint und auch mich als Therapeutin etwas irritiert und infrage stellt. Eigentlich laufe es gut mit der Ausbildung und auch in der Beziehung, sagte sie in der ersten Sitzung. Wäre nur das Problem mit dem Haareausreissen nicht. Sie verliere unnötig Zeit und stosse beim Freund auf Unverständnis und Ärger. Sie habe schon Verschiedenes probiert, war bei einer Kinesiologin und auch bei einem Naturheiler. Jeweils gab es eine gewisse Beruhigung, doch dann fiel sie wieder ins alte Muster zurück. Jetzt wolle sie es mit kognitiver Verhaltenstherapie versuchen; sie verspüre auch einen gewissen Druck von ihrem viel älteren Freund.
 
Jasmine leidet in Stresssituationen an selbstabwertenden Gedanken wie «Ich bin schlecht, ich darf nicht glücklich und zufrieden sein, habe das nicht verdient». Dann flieht sie in Träumerei, aber verfällt in autoaggressives Verhalten wie Haare ausreissen.
 
Sich selber genau beobachten
Jasmine wird von der Therapeutin dazu angeleitet, ihr Problemverhalten genauer zu erfassen. Dreimal täglich notiert sie in einem Protokoll ihren Stresslevel (von 1 bis 10), ob sie das Verhalten gezeigt, wie viele Haare sie sich ausgerissen, ob es besondere Auslöser gegeben und wie sie sich danach gefühlt habe. 
 
Jasmine ist erstaunt über die Häufigkeit und realisiert auch, wie sie nach dem Reissen für kurze Zeit innerlich ruhiger wird. Aber am meisten überrascht sie, dass sie sich vermehrt Haare ausreisst und diese mitsamt Haarwurzel fasziniert betrachtet, wenn sie innere Leere und Langeweile verspürt. 
 
Mit der Verhaltensbeobachtung macht sie ferner die Erfahrung, dass durch das Protokollieren der Impuls etwas gebremst und gemildert wird. 
 
Im Gespräch erinnert sie sich an Situationen in der Kindheit, in denen sie auf sich allein gestellt war und sich ähnlich leer und einsam gefühlt hatte und wie sie damals an ihren Nägeln kaute. Das Haare reissen begann erst in der Pubertät, als die Eltern sich trennten. Belastende Situationen tauchten auf, wenn die Eltern sich stritten. 
 
Jasmine hatte den Eindruck, es sei wegen ihr. Die Eltern waren eigentlich gut zu ihr, wenn auch sehr streng. Die schulischen Leistungen waren ihnen äusserst wichtig. Jasmine, ein verträumtes Kind, liess sich bei den Aufgaben leicht ablenken. Die Mutter regte sich auf und stellte ihr dann die ältere Schwester als Vorbild hin. Jasmine kam sich dann so dumm und schlecht vor. In der Musik war sie der Schwester überlegen. Sie improvisierte gerne am Klavier und konnte in die Töne eintauchen und sich vergessen. Doch das Klavier stand im Salon, auch da wurde sie von den Eltern kontrolliert. Improvisieren war aus Sicht der Mutter nicht richtiges Üben. Erst später konnte sie sich freier ausdrücken, an der Orgel. Noch heute hat das Orgelspielen für sie eine befreiende und beruhigende Wirkung. 
 
Einen sicheren Ort suchen
Die Therapeutin begleitet Jasmine in der sanft suggestiven Hypnose auf eine innere Reise: Der Atem wird ruhig, geht gleichmässig und die Hände werden schwer und auch leicht, warm und zugleich angenehm kühl und die Gedanken sind frei.
 
Jasmine taucht ein in die innere Welt der Bilder; begibt sich in ihren Gedanken an den Lieblingsort ihrer Kindheit, auf die Blumenwiese im grossen Garten. Sie ist, wie so oft, allein und hält einen bunten Papierdrachen in der Hand, lässt ihn steigen, steigt selber mit dem Drachen bis zu den Wolken, sieht die Vögel. Sie lacht. So frei, so weit oben und unten alles so klein; sie winkt der kleinen Jasmine im Garten zu. «Du bist ja nicht allein, da sind überall Blumen, Schmetterlinge und Vögel.» Jasmine geniesst den Moment, nimmt ihn mit allen Sinnen wahr, die Düfte die Farben. Die Therapeutin suggeriert ihr auch die Wärme der Sonne und einen sanften Wind, der ihr über das Gesicht streicht und mit ihren lockigen Haaren spielt. Jasmine spürt die sanfte Bewegung auf ihren Haaren wie eine Liebkosung. Dann wird sie behutsam zurückgeleitet ins Hier und Jetzt.
 
Die Therapeutin fragt, wie es den Händen gehe und was sie tun möchten? Jasmine hebt langsam ihre Hände und streicht mit ihnen liebevoll und sanft über das Haar. In der Nachbesprechung wird Jasmine dazu angeregt, die imaginäre Reise daheim für sich zu wiederholen, wenn sie sich einsam fühle oder abends vor dem Schlafen.
 
Die Drohung
Jasmine hatte wieder heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Freund, er kritisiere sie, wenn sie ins Träumen verfalle und ihm nicht richtig zuhöre; er tadle sie, wenn sie Dinge verlege oder vergesse, wie jeweils die Eltern und sie fühle sich so schlecht; dann komme eine unbändige Wut in ihr auf, ihre Hände würden zittrig und sie reisse aus Verzweiflung Haare aus, bis die Kopfhaut zu brennen beginne. 
 
Die Therapeutin fragt Jasmine  nach einem Wesen, das den unbändigen Impuls am ehesten symbolisieren könnte. Jasmine überlegt nicht lange: «Ein Piranha mit scharfen Zähnen.» Die Therapeutin holt Stifte und Papier und Jasmine zeichnet mit dunklen Farben den Fisch mit offenem Mund und gefährlichen Zähnen; umgibt ihn mit einem violetten Rahmen, der solle den Fisch schadlos machen. Lachend sagt sie, das ist mein Mandala, in dem der Piranha gebannt ist, das soll mich schützen. Jasmine hängt später die Zeichnung über ihrem Arbeitstisch auf.
 
In der Folge tauchen Kindheitserinnerungen an den Vater auf. Er war wiederholt übergriffig unter Alkohol. Oft hielt er sie zum Spass auf seinem Schoss, Jasmine war angewidert, sie musste sich jeweils losreissen und war innerlich äusserst aufgebracht. Die Trennung der Eltern erfolgte, als Jasmine in der Oberstufe war, der Hauptgrund war Vaters Alkoholproblem. 
 
In der folgenden Zeit wird nach alternativen Handlungen gesucht für die aggressiven Impulse. Was könnten die Hände anderes tun, als sich die Haare auszureissen? Zum Beispiel einen Igelball drücken, dabei den starken Reiz spüren ohne Verletzung und wahrnehmen, wie der Impuls allmählich nachlässt. Oder den Händen eine angenehme Beschäftigung geben, wie das Spielen mit einer Perlenkette. Handlungen, die hilfreich waren, wenn sich Jasmine schwertat mit der Konzentration und Langeweile empfand, etwa in Momenten der Vorbereitung für die Schule.
 
Es kommen die Sommerferien. Jasmine kommt heiter zur letzten Sitzung. Sie hat den Entschluss gefasst: «Ich höre auf mit  dem Haareausreissen». Staunen der Therapeutin. Grund: Der Freund drohe, sie zu verlassen, wenn sie nicht aufhöre. Das bewirkte mehr als jede Therapie. Sie höre auf mit dieser Manie,  mit dem lohnenden Ziel, die Freundschaft zu erhalten. 
 
*Name geändert
Stichwörter: Therapie, Psyche, Verhalten, Impuls

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