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Ian Anderson

«Ich denke nicht an 1971, wenn ich ‹Locomotive Breath› spiele»

1967 tauschte er seine Gitarre gegen eine 30-Pfund-Querflöte. Mit dieser hat er Rockgeschichte geschrieben: «Locomotive Breath» und «Thick As A Brick» sind Hits, die Jethro Tull noch heute bekannt machen. Diese Songs seien auch heute noch aktuell, sagt Ian Anderson – ihr Inhalt lasse sich mit der heutigen Zeit verknüpfen.

Ian Anderson: «Es war eine der besten Entscheidungen, nicht in Woodstock aufzutreten». Bild: Keystone/a

Interview: Reinhold Hönle

Ian Anderson, wie verrückt war es, vor 52 Jahren als Rockmusiker von der Gitarre zur Flöte zu wechseln?
Ian Anderson: Ich hörte auf, Gitarre zu spielen, da wir schon einen Gitarristen in der Band hatten und ich mich auf meine Rolle als Sänger fokussieren wollte. Daraufhin habe ich meine Thunder Stratocaster gegen eine 30-Pfund-Querflöte eingetauscht. Ich hatte nicht mal wirklich einen guten Grund dazu, sie sah hübsch aus und ich dachte mir: «Wow, die nehme ich!» Und als ich versuchte, darauf zu spielen, brachte ich nicht mal einen Ton heraus – bis mir im Dezember 1967 jemand erklärte, dass das Ganze funktioniert, wie wenn man über eine Glasflasche bläst. Und tatsächlich klappte es. Ich war beeindruckt. Dann habe ich es geschafft, einen anderen Ton zu spielen. Ich fand heraus, wo ich meine Finger hinsetzen musste, und schon bald konnte ich fünf verschiedene Töne spielen – und den Blues.


Wie wurden Sie zu Jethro Tull?
Als wir einen Auftritt im legendären Londoner Marquee Club bekamen, brauchten wir einen Namen und unser Booker nannte uns Jethro Tull. Wir fanden später heraus, dass der im 18. Jahrhundert Landwirtschaftspionier war. Aber da war es schon zu spät, den Namen noch zu ändern.


Wie stand es denn da um Ihre Querflötenkünste?
Ende Januar, als wir effektiv zu Jethro Tull wurden und unser Vermittler uns unseren Namen gab, konnte ich Querflöte spielen.


Warum war es zu spät, den Namen zu ändern?
Wir hatten herausgefunden, dass unser Vermittler ein Geschichtsstudent war, und dass er uns nach einem schon lange toten Typen aus den Geschichtsbüchern benannt hatte. Doch da hatten wir als Jethro Tull schon für Furore gesorgt. Wir waren nun die Band mit dem verrückten Kerl, der Querflöte spielt. Das war marketingmässig natürlich schon ein tolles Alleinstellungsmerkmal gegenüber den vielen gitarrenlastigen Bluesbands wie Savoy Brown, Chicken Shack und wie sie alle hiessen. Wir waren keine gitarrenbasierte Band – wir waren eine Bluesband mit der Querflöte als Leitinstrument!


Wie gut waren Sie damals schon?
Mein Spiel war noch sehr roh. Ich besuchte auch keinen Instrumentalunterricht. Ich war definitiv nicht der beste Querflötenspieler in London, aber wahrscheinlich der lauteste! (Lacht)


Was meinten die Kritiker?
Naja, da die Journalisten etwas bekamen, worüber sie schreiben konnten, weil Jethro Tull so anders war, waren ihre Reaktionen auf mein Flötenspiel ziemlich positiv. Die Fans schienen es auch zu mögen, nur unser Manager nicht. Er fand, dass die Querflöte nicht in eine Bluesband gehört und dass Gitarrist Mick Abrahams ein weitaus besserer Sänger wäre. Deshalb wollte er, dass ich nur noch im Hintergrund Keyboards spiele ... Ich dankte ihm für seinen Ratschlag und ignorierte ihn. Und dann war da noch Mike Vernon, der Boss von Blue Horizon Records, einem Label, das damals viele Blueskünstler verzeichnen konnte. Er besuchte den Marquis Club, um uns zu sehen, und meinte: «Nicht einmal in einer Million Jahren werden die Erfolg haben!» Doch die Zweifler, die es gab, haben mich zusätzlich motiviert, die Herausforderungen der Querflöte anzunehmen.


Woran denken Sie?
Live war sie als akustisches Instrument schwierig in die Rockmusik zu integrieren, weil sie mich zwang, direkt am Mikrofon zu stehen. Erst in den 80ern war die Technologie endlich weit genug, dass ich ein Mikrofon mit drahtloser Übertragung an meine Querflöte befestigen konnte, sodass ich mich auch auf der Bühne bewegen konnte.


Hatten Sie eine Vision, was Sie erreichen wollten?
Ich dachte zuerst, dass die Querflöte vor allem für Soli geeignet wäre und habe dabei sehr viel improvisiert. Erst, als ich mein Songwriting weiterentwickelte und richtige Arrangements zu schreiben begann, komponierte ich auch für die Flöte festgelegte Melodien. Ich fing an, mehr aus der Perspektive eines Komponisten zu denken, der auch den musikalischen Anteilen der anderen Musiker Beachtung schenken muss. Manchmal erfanden die anderen ihren Anteil selbst, und manchmal schrieb ich Songs, in denen sie bereits einen festgelegten Platz im Arrangement hatten. Das schlug sich auf den Alben «Thick As A Brick», «Songs From The Wood» und «Heavy Horses» nieder.


Wie lässt sich Ihr Spiel mit demjenigen des in der Schweiz wohnhaften, berühmtesten klassischen Querflöten-Virtuosen Sir James Galway vergleichen?
Als ich ihn das letzte Mal traf, erzählte er mir, dass er Instrumentalunterricht für Querflöte nehmen würde. Ich hielt es nicht für möglich, dass jemand wie er, der als Superstar die Welt bereist und sein Wissen in Meisterklassen jungen Talenten weitergibt, wieder in die Schule geht. Er antwortete: «Ich nehme Jazz-Lektionen!» Und erklärte mir dann, dass er selbst traditionelle irische Musik immer nur ab Blatt gespielt habe. Nun wolle er aber die Kunst der Improvisation lernen. Und da dachte ich mir: «Wow, das ist eine überraschende Wendung.» Ich meine, James Galway ist jetzt 78 oder so, und um dann noch zu versuchen, die Jazz-Improvisation zu erlernen, ist es eigentlich schon sehr spät!


Was denken Sie, warum er das tut?
Ich glaube, dass viele klassisch ausgebildete Musiker zwar wissen, dass es da noch diese andere Seite der Musik gibt – die dunkle Seite, die Musik des Teufels, die direkt aus dem Herzen und der Seele kommt. Sie haben jedoch Berührungsängste, weil man sich für sie emotional ziemlich aus der Deckung wagen muss. Ich habe zu James gesagt: «Einer Sache musst du dir bewusst sein: Wenn du improvisieren möchtest, darfst du keine Angst haben, Fehler zu machen. Wenn du keine Fehler machst, lernst du auch nicht, wie man es richtig und am besten macht!»


Und Sie sind furchtlos?
Wenn man vor ein Publikum tritt und improvisiert, ist es immer schwierig, denn alle erwarten, dass man brillant spielt. Aber dorthin kommt man nicht, ohne sich ein wenig wie ein Kind zu verhalten – man muss naiv sein und spontan. Kinder haben keine Angst, Fehler zu machen, sei es auf einem Instrument oder auf ihrem Laptop. Musiker, die sich alles selbst beigebracht haben, wie ich zum Beispiel, Leute aus der Ära des Punk, Blueser und Jazzer, schaffen es. Ich wünsche James, dass es ihm auch gelingen wird!


Würden Sie dann mit ihm jammen?
Als ich mit Jethro Tull ein Konzert in Chicago gab und er dort auch einen Auftritt hatte, war schon mal geplant, dass er mit uns etwa 16 Takte improvisieren würde, doch dann war er leider verhindert. Dazu ist es aber nie gekommen, und so werden wir wohl niemals wissen, ob James es wirklich geschafft hätte, etwas aus dem Herzen zu spielen, ohne Noten. Anderseits könnte ich ein klassisches Werk noch viel weniger als er interpretieren! (Lacht)


Um auf Ihre Technik zurückzukommen: Bewegen Sie Ihre Lippen und die Zunge auf die gleiche Art und Weise wie Galway es tut, um Ihren distinkten Sound zu bekommen? Oder spielen Sie noch immer so, wie Sie es am Anfang entdeckt haben?
Naja, wie ich schon erwähnt habe, hatte ich noch nie Instrumentalunterricht, darum weiss ich auch nicht wirklich, wie es Leuten beigebracht wird. Aber zirka im Jahr 1991 habe ich versucht, das Querflötenspiel mit der korrekten Fingertechnik zu erlernen, und auch etwas mehr über die Klangerzeugung zu lernen – und ich glaube, mit Sicherheit sagen zu können, dass James Galway Ian Anderson besser auf der Querflöte imitieren kann, als Ian Anderson das bei James Galway könnte. Sein Sound, seine Technik sind etwas, das er über 60 Jahre oder so entwickelt hat. Er hat also einen sehr fortgeschrittenen Sound, der bestimmte Harmonien inkorporiert. Und das macht man, indem man die Art und Weise, mit der man die Noten betont, verändert, und Harmonien aus der kleinen Oktave in den Sound der tiefen einbringt. Für viele Leute, insbesondere für die Schüler, die von James Galway gelernt haben, ist das die Art und Weise, in der sie zu spielen gelernt haben. Vielleicht wird das Ganze sogar etwas ins Extreme getrieben, denn sobald sie einmal lernen, so zu spielen, machen sie es immer.


Ich habe gelesen, dass Ihr Vater eine Fabrik hatte. Wann war er stolzer auf Sie – als Sie zum Rockstar wurden oder als Sie ein eigenes Lachsgeschäft hatten?
Unglücklicherweise ist mein Vater, kurz nachdem ich ins Lachsgeschäft eingestiegen bin, verstorben, darum hat er davon nicht mehr wirklich viel mitbekommen. Ich glaube, dass er stolz auf meinen Erfolg als Musiker war, aber er hat als Elternteil die richtige Entscheidung getroffen und versucht, mir das Verfolgen einer musikalischen Karriere auszureden. Er wollte, dass ich etwas Konventionelleres mache, dass ich Ingenieur werde, Doktor oder Lehrer, dass ich also einen «richtigen Beruf» lerne. Er war überhaupt nicht einverstanden mit dem, was ich tat, aber ich würde allen jungen Leuten heute genau denselben Ratschlag erteilen.


Wie lautet der genau?
Folgt auf jeden Fall euren Träumen, aber stellt sicher, dass ihr einen Plan B habt. Auch einen Plan C, falls das möglich ist. Als ich mich entschied, dass ich Musiker werden wollte, hatte ich einen Plan B und einen Plan C. Hätte ich mit der Musik nach ein paar Jahren keinen Erfolg gehabt, hätte ich gewusst, was ich als nächstes tun würde.


Für die meisten Ihrer Fans ist es eine Zeitreise in Ihre Jugend, wenn Sie bei Ihren Konzerten Hits wie «Locomotive Breath», «Bourée» oder «Thick As A Brick» wiederhören – und für Sie?
Ich glaube, für das Publikum geht es auf unserer aktuellen 50-Jahre-Jethro-Tull-Tournee vor allem um die Nostalgie. Man fühlt sich in die Jahre zurückversetzt, als man diese Musik zum ersten Mal gehört hat. Es ist jedoch ziemlich schwierig, Nostalgie für etwas zu entwickeln, das kaum 24 Stunden her ist – wie mein letzter Auftritt live auf der Bühne! Wenn ich «Locomotive Breath» spiele, das ich 24 Stunden zuvor das letzte Mal interpretiert habe, denke ich nicht an 1971, sondern an andere Dinge.


An welche?
Ich betrachte diesen Song als Metapher für Migration, Expansion und Globalisierung, die mich schon damals sehr besorgt in die Zukunft blicken liessen.


Wie meinen Sie das?
Man befindet sich auf einem führerlosen Zug, von dem man nicht runterkommt, und genau das passiert jetzt, mit dieser Explosion der Weltbevölkerung. Allein in meinem Leben hat sie sich verdreifacht und laut neusten Schätzungen der UN wird sie sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts nochmals fast verdoppeln. Hinzu kommt der Klimawandel und sein Einfluss auf die globale Nahrungsmittelproduktion. Die Verzweiflung wird Menschen aus Ländern mit Hungersnöten, Dürren und turbulentem Wetter zu uns treiben. «Aqualung» ist ebenfalls noch immer aktuell.


Weshalb?
In diesem Lied geht es nicht um einen lustigen alten Mann, der in gebrauchten Kleidern durch die Strassen spaziert, sondern um Obdachlosigkeit! Der prozentuale Anteil der Bevölkerung, die in den Städten kein Dach über den Kopf hat, ist vielleicht nicht gross angewachsen, aber die absolute Zahl. Obdachlosigkeit trifft heute auch nicht mehr so sehr Leute in den Vierzigern oder Fünfzigern, sondern auch viele junge Leute, die dem Sog der Welt der Drogen und Prostitution nicht widerstehen konnten.


Was bedeuten Ihnen Ihre Evergreens?
Ich bin sehr zufrieden, in meinem Leben einige Lieder geschrieben zu haben, die auch inhaltlich Bestand haben werden. Ich bin lieber der Typ, der «Locomotive Breath» geschrieben hat, als der Typ, der «If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair» geschrieben hat – einer der Songs, die ich am meisten hasse!


Schade für Scott McKenzie, der ihn geschrieben hat.
Peinlicherweise war ich einmal bei einer TV-Show in Deutschland zu Gast, und auf der Verlaufsplanung sah ich meinen Namen zusammen mit Scott McKenzies, und ich war absolut geschockt, als der Produzent zu mir sagte: «Oh, wir würden dich gerne mit Scott spielen sehen, du kannst ein bisschen Querflöte in einem seiner Songs spielen.» Und ich antwortete, dass es in «If You’re Going to San Francisco» gar keine Flöte gäbe, und er meinte: «Nein, aber das wird toll klingen!» Und ich dachte mir «Oh scheisse», denn der arme alte Scott McKenzie freute sich so darauf, dass ich Flöte spielen würde, und ich konnte nicht einfach sagen: «Oh übrigens, das ist einer der Songs, den ich am meisten hasse!» Also habe ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht und die Flöte in seinem grauenhaften Song gespielt – und nicht lange darauf ist er gestorben.


Warum hassen Sie denn den Song?
Es hat nichts mit Scott McKenzie zu tun, sondern mit der Gefühlslage, die absolut in der Zeit stehen geblieben ist und nicht mal wirklich wahr ist. Das Lied handelt von einem «Summer of Love», aber eigentlich waren es drei oder vier Sommer der Liebe, die in einem furchtbar hässlichen Chaos geendet haben. Wenn man sich das Isle-of-Wright-Festival ansieht, erkennt man gut, wie das Hippie-Ideal von Gier, Aggression, Wut und Politik in Stücke gerissen wurde. Ich denke, dass eine der besten Entscheidungen in meinem Leben war, nicht in Woodstock aufzutreten. Sonst hätten wir als Hippie-Band gegolten und wären dieses Label nie mehr losgeworden.


Was haben Sie bei Ihren vielen Konzerten in der Schweiz schon erlebt?
Es wäre schwierig, eine Anekdote zu erzählen, ohne meine Freundschaft mit Claude Nobs und Montreux zu erwähnen. Claude war ein echter Schweizer, obwohl er aus dem französischsprachigen Teil kam, mehrsprachig war und immer Swissair flog.


Und persönlich?
Claude war ein sehr extrovertierter Mensch, der es liebte, Leute zu unterhalten und in seinem Chalet unterschiedliche Künstler zusammen zu bringen. Allerdings gab es auch eine andere Seite, die mir am meisten in Erinnerung bleiben wird: der private, manchmal sehr einsame Mann.


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Zur Person

- geboren am 10. August 1947 in Dunfermline, Schottland

- Sohn eines Fabrikbesitzers, gründete 1963 mit Schulfreunden seine erste Band

- 1967 Gründung von Jethro Tull mit dem Schlagzeuger Clive Bunker, dem Gitarristen Mick Abrahams und dem Bassisten Glenn Cornick. Anderson beginnt als Autodidakt mit dem Querflötenspiel, mit der Band bleibt er bis 2014 zusammen.

- Die Band veröffentlichte über 20 Studioalben, die bekanntesten dürften «Aqualung» (1971) und «Thick As A Brick» (1972) sein.

- Seit 2015 tourt Anderson mit dem Projekt «Jethro Tull – The Rock Opera». tg

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