Sie sind hier

Abo

Titelgeschichte

«Ich würde nie sagen, die Familie sei mein ‹Ein und Alles›»

Wie geht heute eigentlich Familie? In «Wir Eltern» schöpfen Eric Bergkraut und Ruth Schweikert aus dem eigenen Leben und zeigen Erziehung und Beziehung als Kampf und Krampf. Das ist lustig, schmerzlich – und letztlich eben doch ein Plädoyer für die Familie.

Abtauchen wär auch mal schön: Eric Bergkraut spielt den überforderten Familienvater Michael Kamber-Gruber. Bild: zVg

Interview: Tobias Graden

Eric Bergkraut, wie kommt man dazu, das eigene Familienleben vor dem Kinopublikum auszubreiten?

Eric Bergkraut: Das ist doch nicht das eigene Familienleben! Es ist eine erfundene Geschichte, die mit vielen Elementen spielt, die tatsächlich aus dem realen Leben kommen. Weder Ruth Schweikert noch ich finden, dass unser eigenes Leben a priori so wahnsinnig interessant wäre, dass es einen Film darüber bräuchte. Sondern wir haben gemerkt – sowohl im realen Leben als auch bei Recherchen –, dass viele Fragen, die sich in unserer Familie tatsächlich stellen, sich auch für andere Familien stellen. Das hat sich bei der Premiere in Locarno denn auch bestätigt. Viele Menschen sind zu uns gekommen und haben uns gesagt: Darin erkenne ich mich wieder.

Wenn man den Trailer sieht, gewinnt man aber den Eindruck, Sie hätten schlicht Kameras in der Wohnung montiert und aus dem echten Leben einen Film zusammengeschnitten.

Der Film ist so entstanden, wie ein Spielfilm entsteht: Wir haben ausführlich geprobt, jede Szene sieben, acht Mal gespielt, jede Kameraeinstellung besprochen. Aber tatsächlich war genau dies das Ziel: Dass es wirkt, als hätten einfach Kameras ein Familienleben aufgenommen. Dieser Eindruck ist aber sehr artifiziell hergestellt.

Hat Ihnen also Ihre Erfahrung als Dokumentarfilmer bei diesem Projekt geholfen?

Ja. Respektive: Natürlich haben wir das Authentische gesucht. Wir wollten es nutzbar machen für die Geschichte, die wir erzählen. Eine Familie hat ja immer ihren eigenen Code: Wie schaut man sich an, wie spricht man, wie sitzt man am Tisch? Diese Authentizität haben wir als Werkzeug für die Charakteristik des Films genutzt. Im Hintergrund steht aber eine sehr exakte Dramaturgie mit Steigerungen und Wendepunkten. Auch der Auftritt der «Zeugen» des Familiendramas ist jeweils exakt gesetzt, etwa, als die junge Frau aus Amerika in die Familie eintritt. Da kann sich der etwas eifrig wohlmeinende rot-grüne Familienvater, den ich spiele, als guten Menschen inszenieren und die Familie wieder über eine Runde retten.

Dieser «wohlmeinende rot-grüne Vater» dürfte nah am realen Leben sein ...

Wenn ein Schauspieler einen Mörder spielt, muss er irgendwo den Mörder in sich finden. Das ist das Wesen dieses Berufes. Bestimmte Elemente meiner Rolle habe ich absichtlich übertrieben – ich könnte so sein, bin es aber nicht. Ich kann Ihnen garantieren: Wenn meine Söhne gamen und ich verlange, dass sie abstellen, dann stellen sie auch ab. Für die Geschichte ist es aber interessanter, wenn der Vater nur noch hilflos dasteht und die Söhne nicht mal mit den Wimpern zucken. Aber wohlverstanden: Das ist Fiktion.

Das ist Ihnen zu wünschen.

Es ist so, garantiert.

Gleichwohl: Sie haben in Ihrer eigenen Wohnung aufgenommen, abgesehen von der Mutter spielen sich alle Familienmitglieder gleich selber – es braucht schon ein gewisses Mass an Exhibitionismus, dies zu tun. Macht das Spass?

Ich sehe darin überhaupt keinen Exhibitionismus. Viele Kunstwerke leben davon, dass man etwas sehr Persönliches darin einbringt. Unser Film ist persönlich, aber nicht egozentrisch. Wir nehmen uns als ein Beispiel. Es gibt so viele Familien … wie viele Leute schlucken Antidepressiva jeden Tag? Immer wieder sehen wir am TV Bilder aus einer properen Vorstadtsiedlung, die Nachbarn sagen, dies sei so eine nette Familie gewesen, nur hat gerade der Vater die Familie ausgelöscht. Ich glaube: Es ist ein Zeichen von Selbstbewusstsein, dass wir hinstehen und uns so zeigen können. Und nicht zuletzt ist der Film eine Komödie, im Publikum wird viel gelacht. Um Komik generieren zu können, braucht es von allen am Film Beteiligten eine gewisse Distanz.

Ist der Film tatsächlich eine Komödie? Der Schluss zumindest ist ja eigentlich recht traurig.

Wir nennen den Film eine Groteske. Wir wollten die Geschichte übersteigern und ins leicht Surreale treiben – aber bloss, damit bestimmte Zusammenhänge deutlich werden. Die Direktorin des Festivals in Locarno hat gesagt, sie präsentiere nun erstmals eine Mischung aus Komödie und Horrorfilm. Im realen Leben hat nie eines unserer Kinder mit dem Anwalt gedroht, und der Schluss ist doch ziemlich versöhnlich. Der 12-jährige Benji sagt: Aus Fehlern lernt man doch.

Haben Ihre Söhne absolut frei entscheiden können, ob sie mitspielen wollen oder nicht?

Aber selbstverständlich!

Es könnte ja gerade im Fall des jüngsten sein, dass er in zehn Jahren darüber anders denkt als heute.

Dass er es womöglich nicht ganz überblicken kann, was es bedeutet, wenn der Film auch im Ausland läuft, mag sein. Nach der Schweiz wird «Wir Eltern» vorerst in Österreich und Deutschland gezeigt, und das finden die Söhne total interessant – alle drei wollen
sich selber auf Hochdeutsch synchronisieren.

Für die Kinder ist das Publikum im Ausland ja auch weniger ein Problem als womöglich die Leute im Haus nebenan.

Noch einmal, ganz deutlich: Wir alle spielen Rollen in diesem Film. Niemand spielt sich selber. Und wenn im Publikum gelacht wird, werden nicht meine Söhne ausgelacht, sondern das Publikum lacht, weil sie ihre Rolle so authentisch spielen. Es geht auch nicht um Gags oder Schadenfreude – die Zuschauer lachen letztlich über sich selber mit.

Warum lässt sich denn Ihre Frau Ruth Schweikert als einziges Familienmitglied von einer Schauspielerin vertreten?

Sie wollte nie spielen. Ich wollte das auch nicht, gerade weil dies die nötige Distanz schafft. Ich hätte nie einen Film gemacht, in dem eine Kamera unseren realen Alltag filmt, denn mir ist meine eigene Intimsphäre wichtig und die meiner Familie.

War es denn für Sie nicht etwas seltsam, Familienleben mit einer «fremden» Frau zu spielen?

Überhaupt nicht. Ich habe auch bei meinen Söhnen bisweilen vergessen, dass sie es sind, mit denen ich spiele. Elisabeth Niederer habe ich ausgesucht, weil ich sie seit 40 Jahren kenne. Sie weiss, was es heisst, langjährige Beziehungen zu führen, denn der Film handelt auch davon. Sie konnte in diese Familie hineinwachsen. Sie war öfters mal bei uns zuhause, hat bei uns gekocht, und sie konnte gleichwohl diese professionelle Distanz wahren, die ich für essenziell halte.

Sie selber sind erstmals seit 29 Jahren wieder als Schauspieler vor der Kamera gestanden – statt als Filmemacher dahinter, wie man Sie kennt. Wie war das?

Ich hatte als Schauspieler immer grosse Mühe, dem Regisseur ganz vertrauen zu können.

Das dürfte dieses Mal weniger das Problem gewesen sein.

(lacht) Das ist so, ich hatte es mit einer Regisseurin und einem Regisseur zu tun, die ich recht gut kenne. Es hat grossen Spass gemacht, diesen zuweilen unsicheren, selbstgerechten Michi Kamber zu spielen und ihn auch mal unsympathisch zu machen.

Haben die Dreharbeiten die Lust am Schauspiel wieder geweckt?

Durchaus. Ich wollte als Schauspieler immer Geschichten miterzählen. Wenn ich das mehr gekonnt hätte, wäre ich vielleicht Schauspieler geblieben. Aber ich werde mich jetzt nicht wieder auf den Schauspielermarkt werfen. «Wir Eltern» ist kein Bewerbungsfilm. Eigentlich ist das alles ja sehr verwandt.

Was genau?

Ein Schauspieler ist ein Medium zwischen dem Text und dem Publikum. Ein Dokumentarfilmer ist auch ein Medium, beispielsweise zwischen dem russischen Albtraum der Putin-Ära und jemandem, der in der Schweiz diesen Film schaut. Nun sind wir ein Medium zwischen Erziehungsfragen, einer Familiengeschichte und dem Zuschauer. Gewiss, es gibt grosse Unterschiede in der Technik. Doch ein Schauspieler ist a priori ein abhängiger Mensch, das hat mich immer sehr gestört.

«Wir Eltern» ist also die Idealform: Sie können als Schauspieler eine selber mitgeschriebene Geschichte spielen.

Ja. Wir hatten trotz Zeitdruck und wenig Geld viel Spass. Was auch noch wichtig ist: Ich improvisiere sehr gerne. Und «Wir Eltern» ist eine Mischung aus Struktur und Improvisation. Manche Szenen haben wir weiter gespielt, als sie geschrieben waren. Improvisation funktioniert aber nur, wenn vorher Strenge herrscht. Eine Improvisation, die nicht aus klaren Bedingungen heraus kommt, c’est n’importe quoi. Beim Schnitt waren wir dann wiederum sehr streng mit den eigenen Einfällen.

Solche Improvisationen dürften gerade darum entstanden sein, weil Sie sich als reale Familie kennen.

Ich denke, es rührt eher daher, dass man weiss, wie eine Figur reagiert, wenn man in ihr zu leben beginnt. Ich hatte während des Spielens manchmal eine absurde Wahrnehmung: Ich dachte, mir könne jetzt gar nichts passieren, ich wisse ja, wie der Michi reagieren würde, auch wenn der Regisseur mich schlecht dirigieren würde. Ich habe also in der Figur zu leben begonnen, und das ist das Grunderlebnis des Schauspiels.

Kann das auch unheimlich sein?

Im Gegenteil. Es ist reinigend und spassvoll, etwas auszuleben, das irgendwo ganz klein in einem selber drin ist, auch wenn es – etwa im Falle eines Mörders – im Leben nicht sehr manifest ist. Das ist viel gesünder, als wenn man ständig alles unterdrücken und unter Kontrolle haben muss. Ich glaube, die grossen Familiendramen geschehen gerade dort, wo alle denken, es müsse alles clean und perfekt sein. Es ist viel gesünder, auch mal Dinge zulassen zu können, die nicht ganz einfach sind.

Wenn Sie sagen, Sie hätten in Ihrer Figur zu leben begonnen – hat denn die Figur jeweils auch nach Drehschluss in Ihnen weitergelebt?

Überhaupt nicht. Ich konnte das sehr gut trennen. Es ist wie ein Kind, das in einer Rolle spielt – es kann problemlos aus- und wieder einsteigen.

Sie haben zum ersten Mal ein Projekt mit Ihrer Frau realisiert. Ging das reibungslos?

Ich würde sagen: Wir haben während des Drehs ab und zu recht engagierte Diskussionen geführt, die für das Team wohl nicht immer sehr angenehm waren. Aber ich glaube, das geht nicht anders. Es ging immer um die Sache, und aus der Reibung ist Positives erwachsen. Viele sagen, es sei unbedingt zu vermeiden, als reales Paar künstlerisch zusammenzuarbeiten. Für uns war es eine tolle Erfahrung.

Es gibt durchaus auch positive Beispiele dafür.

Ja, vor allem solche, in denen sich Paare dazu gleichschalten. Aber das ist nun wirklich nicht unser Temperament. Wir haben im Kern immer das Gleiche gewollt, aber den Weg dorthin haben wir uns unterschiedlich vorgestellt. Ich finde es toll, dass wir dies nach 25 Jahren Paarleben gewagt haben. Generell ist das ein Projekt, für das wir sehr viele Risiken auf uns genommen haben, wir haben auch eigenes Geld in den Film gesteckt. Und ich mag mich selber lieber, wenn ich ein bisschen kühn bin.

Der Film ist ja mit minimalem Budget in nur 15 Tagen gedreht worden. Hätten Sie lieber einen anderen Film mit mehr Geld und mehr Zeit gemacht?

Nein, das war genau richtig. Alles musste schnell gehen, als sich die Gelegenheit mit Locarno ergab, war der Film noch nicht mal ganz fertig. Ruth und ich haben auch schon jahrelang an einem Spielfilm gearbeitet und mussten dann aufgeben, weil die Zeit für die angedachte Geschichte nicht mehr gestimmt hat. Es ist eine Frage des Momentums: Wenn ein Projekt ein bestimmtes Momentum hat, ist man gut beraten, Ja zu sagen – was beim Film nicht ganz einfach ist, weil es sich um eine kostenintensive Sache handelt.

Entstanden ist der Film dank des neuen Förderinstruments «Fast Track» der Zürcher Filmstiftung, die junge, innovative Filme rasch auf den Markt bringen soll. Es steckt eine gewisse Ironie darin, wenn nun gerade Sie als altgedienter Dokumentarfilmer
davon profitieren, nicht?

Vom Gestus und der Frische des Projekts ist «Wir Eltern» ein sehr jugendliches Unternehmen, finde ich.

Im Pressedossier schreiben Sie, der Film habe «nebenbei zur Ausweitung unserer Beziehungen» geführt, «wir konnten einander anders begegnen». Was hat der Film mit Ihrem ganz realen Familienleben gemacht?

Für eine Familie ist es immer toll, ein gemeinsames Projekt zu haben. Ein Film mit all seinen Risiken ist der Inbegriff eines gemeinsamen Projekts. Die Vorbereitungen, das Drehen, die Promotion … das gibt einen Kitt. Und gleichzeitig ist ein Sohn jetzt wirklich ausgezogen – die Fiktion hat auch zurück ins Leben gespielt.

Hatte das Filmprojekt also eine familien therapeutische Wirkung?

Ich würde diesen Ausdruck nicht verwenden. Natürlich, es ging um Themen, die wir kennen. Und klar hat das eine Auswirkung auf die Familiendynamik, im Moment eine ausschliesslich positive. Aber uns ging es nicht um eine Therapie.

Der Familien- und Entwicklungsforscher Remo Largo sagt im Film, die Kleinfamilie von heute sei komplett überfordert. Ist das ein Gefühl, das Sie kennen?

Die heutige Zeit mit ihrer Leistungsgesellschaft, in der so viel schon vorgedacht ist, ist keine gute Zeit für das Abenteuertum. Man kann als junger Mensch ja nicht mal mehr Autostoppen. Viele Menschen leben in Vereinzelung und Vereinsamung; und das gilt auch für die Familie – sie ist mit vielen Themen alleingelassen. Das ist es, was Largo meint.

Letztlich ist «Wir Eltern» ein Plädoyer für die Familie.

Eindeutig, es ist schön, dass Sie das sagen. Ein Plädoyer für die Familie mit all ihren Schwierigkeiten, die sie mit sich bringt.

Immerhin bleibt sie zusammen, die Familie im Film, trotz allem.

Ja, die Menschen haben zwar grosse Probleme miteinander, aber letztlich haben sie sich gern. Ein Plädoyer gegen die Familie, das wäre das Letzte, was Ruth und ich machen wollten. Aber es ist ein Plädoyer gegen falsche Vorstellungen von Familie. Ich würde zum Beispiel auch nie sagen, die Familie sei «mein Ein und Alles», wie das Politiker gerne tun.

Warum nicht?

Das hat etwas Totalitäres. Die Möglichkeit des Scheiterns ist in einer Familie immer da. Wenn dies eintrifft, ist es nicht gesund, wenn man die Familie als «Ein und Alles» für sich definiert hat.

Wie sieht denn Ihr Familienideal aus?

Mein Familienideal besteht darin, dass man sich einerseits aufgehoben fühlt, dass man aber gleichzeitig seine autonomen Erfahrungen machen kann, und dass man diese in geeigneter Form wiederum miteinander teilt. Das gilt übrigens auch für eine langjährige Partnerschaft.

Der Psychologe Henri Guttmann sagt im Film, Kinder hätten heute zu viel Macht und Eltern müssten eben Nein sagen können. Braucht es schlicht wieder mehr echte Autorität in der Erziehung?

Was ist Autorität? Das alte Vatermodell ist für mich kein Ziel. Ich glaube eher, man sollte als Vater ein Beispiel geben, vielleicht gar ein Vorbild. Ich kann zum Beispiel ein Vorbild darin sein aufzuzeigen, was es braucht, um ein Projekt durchzuziehen. Oder man kann versuchen, ein Beispiel zu sein, wie man mit Konflikten umgeht. Aber es stimmt schon, ich bin nicht gerne der böse Vater. Es fiel mir nicht leicht, dem einen Sohn zu sagen, es sei Zeit, dass er nun gehe.

Im Film oder real?

Real. Jemandem, den man profund liebt, zu sagen, jetzt gehst du, das ist nicht ganz einfach. Ich bin weder als Regisseur noch als Vater ein Freund militärischer Methoden. Ich hab es gerne, wenn Dinge sich entwickeln und wachsen. Für Kinder ist das wohl eine Herausforderung. Ich will auch mit meinen Filmen nicht belehren, sondern auf Augenhöhe sein mit dem Publikum.

Im Film lassen es die älteren Söhne komplett an Respekt vermissen. Wie, wenn nicht durch Autorität, kann ein Verständnis fürs Gegenüber entstehen?

Der Film behandelt auch die Frage: Was ist Freiheit? Wie geht man mit ihr um? Ich neige dazu, zu glauben, dass die Adoleszenz heute länger dauert, dass die Ablösung mehr Zeit braucht, und dass junge Menschen diese erhalten sollen. Als Eltern erlebt man seine Kinder in der Pubertät in der Ablehnung aller Werte, von denen man glaubte, sie halbwegs konsistent vorgelebt zu haben. Und: Die Experten kommen im Film ja nicht nur darum vor, weil ich wollte, dass sie gescheite Sachen sagen. Sondern ich wollte damit auch das Expertentum relativieren.

Der Vater im Film will vor den Problemen schliesslich einfach davonlaufen und eine Auszeit nehmen. Ist «Wir Eltern» auch ein Abgesang auf den Vater als Mann?

Im Film geht es auch um längere Beziehungen. Und auch hier: Er ist nicht direkt autobiografisch, auch wenn ich selber auch schon Ayurveda gemacht habe. Ich habe noch nie von einer 25-jährigen Beziehung gehört, die nicht auch schwierigere Phasen gehabt hätte, Phasen der Erschöpfung. Auch das zeigt der Film mit einer gewissen Selbstironie.

Können Sie Erziehungstipps geben für gestresste Eltern mit anmassenden Teenagern?

Da muss ich auf die bekannten Ratschläge zurückgreifen: Liebe und Zuneigung zu den Kindern beinhaltet auch, dass man Grenzen setzt, und dass man auch sich selber abgrenzen kann. Man sollte vertrauen können, seine eigenen Ängste nicht übertreiben und nicht übertragen. Und: Man sollte auch Vertrauen in Konflikte haben, man sollte sie annehmen und darauf vertrauen, dass es einen Lösungsweg gibt.

Die letzten Werke sowohl von Ihnen als auch von Ihrer Frau schöpfen in erster Linie aus dem Autobiografischen. Was kommt als Nächstes?

Ich habe zuvor jahrzehntelang nichts Autobiografisches gemacht, ich habe mich mit Tschetschenien und dem System Putin beschäftigt. Ich hatte nie das geringste Bedürfnis, von mir selber zu reden. Offenbar ist es eine Altersercheinung, dass ich – mit meinem Buch – eine Standortbestimmung machen wollte: Wer sind meine Eltern, wer bin ich? Aber ich werde nun sicher nicht bis ans Ende meiner Karriere sämtliche autobiografische Details verwerten. Nun habe ich Lust, etwas zu machen, das gänzlich erfunden ist, in welchem Medium auch immer.

*****************************************************

Wie ein scharfer Blick ins eigene Leben

Widerworte prallen an ihnen ab wie der Regen an einer Gore-Tex-Jacke, ihre dreckige Wäsche stapelt sich ebenso wie ihre leeren Pizzakartons in der Küche, und mit Kiffen und Gamen ist der Horizont ihrer Lebenswelt praktisch auch schon erreicht: Die Zwillinge Anton und Romeo (Elia und Ruben Bergkraut) machen es ihren Eltern Veronika und Michael Kamber-Gruber (Elisabeth Niederer und Eric Bergkraut) nicht eben leicht. Zwar volljährig geworden, verweigern sie den Schritt ins Erwachsensein. Ums Thema der Maturarbeit können sich doch die Eltern kümmern, und als ihnen der Grossvater kurz vor seinem Tod als Startkapital ins Leben einen stattlichen Batzen übergibt («Hey Alte! 80 Riese! Wosch mi verarsche?»), investieren sie erst mal in einen neuen grossen Fernseher. Die Eltern sind am Ende ihres Erziehungslateins, haben nach langjähriger Ehe inmitten von Wahlkampf (die Mutter) und Überhaupt-Überdruss (der Vater) allerdings auch genug mit sich selber und als Paar zu kämpfen. Sämtliche in bestem Willen und Glauben beschlossenen Vorsätze bleiben wirkungslos und die Drohungen greifen ins Leere, weil ihre Durchsetzung dann doch nicht ins eigene linksliberale antiautoritäre Menschenbild passen würde. Das 50/50-Modell? Aber sicher doch, rezitiert die abgekämpfte Mutter ins Mikrofon einer jungen Reporterin, die komplette Gleichberechtigung werde in ihrer Familie seit je überzeugt praktiziert – bevor am Abend dann doch wieder sie die übrig gebliebene Haushaltsarbeit leistet, derweil sich der Pater familias gedanklich schon in seiner lang ersehnten zweimonatigen Ayurveda-Auszeit befindet. Unter der Misere leidet arg der Familiensegen, besonders aber der Nachzügler Benji (Orell Bergkraut), dem bloss noch sein Plüschäffchen Trost spendet.

Menschlich, allzumenschlich geht es zu und her in «Wir Eltern», dem ersten Film, den der als Dokumentarfilmer bekannte Eric Bergkraut und seine Frau, die am Bieler Literaturinstitut lehrende Autorin Ruth Schweikert, zusammen gedreht haben; und es wäre abgrundtief traurig, wenn es nicht auch so komisch wäre. Inmitten des Chaos hocken (echte) Experten wie Remo Largo und Henri Guttmann, die dieses mit lakonisch vorgetragenen Weisheiten zu ordnen versuchen («Am einfachsten wäre es, man würde nun dieses Paar befreien vom Mythos der spontanen Sexualität.») Es hilft alles nichts. Unbeirrt setzen die renitenten Teenies ihre Ansprüche durch und spiegeln den Eltern gnadenlos tatsächliche oder vermeintliche Versäumnisse zurück («Es ist, weil ihr uns nie Geborgenheit gegeben habt. Darum bleiben wir hier, bis wir 25 sind.»). Die «Lösung» schliesslich empfinden beide Seiten als Triumph, doch umgehend wird klar, dass es nur ein vermeintlicher und vorübergehender sein kann.

Bis auf Ruth Schweikert spielt die Familie Bergkraut Schweikert die gewiss überzeichnete Geschichte gleich selber, in der eigenen Wohnung. Ihre Mitglieder und Elisabeth Niederer als Mutter tun dies so authentisch, dass sich im Kino gar manch eine Zuschauerin und ein Zuschauer fühlen dürfte, als werfe sie oder er einen scharfen Blick ins eigene Leben – und dass bei allen Beteuerungen (siehe Interview) der Verdacht nicht ganz weicht, die Bergkrauts Schweikerts könnten für ihren gelungenen Film doch etwas mehr aus der eigenen Familienbiografie geschöpft haben, als sie öffentlich zugeben mögen. tg

Info: «Wir Eltern», Kinostart am 10. Oktober, der Film läuft in Biel im regulären Programm.

****************

Gratis ins Kino

Das «Bieler Tagblatt» verlost für die Bieler Vorpremiere 5 x 2 Tickets. In Biel anwesend sein werden Ruth Schweikert und Eric Bergkraut sowie ihr jüngster Sohn Orell Bergkraut, der in «Wir Eltern» den kleinen Benji spielt. Die Autorin Sandra
Rutschi moderiert das Gespräch.

Wann: Samstag, 5. Oktober, 18.30 Uhr.

Wo: Kino Rex 2, Biel.

Wer die Karten gewinnen will, der schreibt bis morgen Freitag, 14 Uhr, eine E-Mail an
verlosungen@bielertagblatt.ch

Nicht vergessen: den eigenen Namen und das Stichwort «Wir Eltern». raz

Stichwörter: Kino, Familie, Wir Eltern

Nachrichten zu Fokus »