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Geschmackserleben

Immer der Nase nach

Die Sensorik- und Ernährungswissenschaftlerin Christine Brugger riecht und schmeckt von Berufs wegen. Sie analysiert Lebensmittel und fasst Aromen in Worte.

Sensorik- und Ernährungswissenschaftlerin Christine Brugger, Bild: zvg

Angela Bernetta

Unlängst habe sie Dahlienknollen verkostet, erzählt Christine Brugger. «Ich dachte zunächst, die sind giftig, wurde dann aber von einer Bekannten, die über die ganzheitliche Verwertung von Gemüse schreibt, aufgeklärt. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Die Aromen der Knolle reichen von Mango über Litschi, Banane bis hin zu Rose, und ihre Textur erinnert an Ingwer», schwärmt sie. Sie suche nach ausgefallenen kulinarischen Erlebnissen und teile sie mit Menschen, die wie sie kulinarik-affin seien. «Essen, Trinken und Geniessen sind meine Passion», gesteht sie, «denn gutes und gesundes Essen macht nicht nur glücklich, es ist Teil meiner Lebensphilosophie.»

Fachvokabular als Raster
Die Sensorik- und Ernährungswissenschaftlerin Christine Brugger vermisst, analysiert und bewertet Nahrungsmittel mit den Sinnen. Sie zerlegt sämtliche Aromen eines Produkts und schlüsselt sie mit einer eigens dafür entwickelten, sensorischen Sprache auf, die Aussehen, Geruch, Geschmack und Textur beschreibt. Ausserdem den trigeminalen Effekt, der über einen Mund und Nase verbindenden Gesichtsnerv ausgelöst wird, und Temperaturreize wie Schärfe oder Säure anzeigt.

Verkostet Christine Brugger beispielsweise eine Salami, nimmt sie die Wurst zuerst über einen würzigen, speckigen oder geräucherten Geruch wahr, bevor sie die Textur im Mund als glatt, fest oder trocken erkennt. Beim Kauen entfalten sich tierische, speckige oder geräucherte Aromen mit salzigem, bitterem oder saurem Geschmack. Ein pikanter Abgang im Mundraum rundet die Verkostung ab.

«Ob würzige, speckige oder ranzige Note – das Fachvokabular dient als Raster bei den Verkostungen und ermöglicht eine sehr genaue Beschreibung der Lebensmittel», erklärt Christine Brugger. Die Messungen und Beschreibungen der sensorischen Eigenschaften eines Produkts und die Erstellung von sensorischen Profilen seien vor allem in der Produkteentwicklung, Produktion oder Qualitätskontrolle gefragt. «An den Verkostungen, die von Firmen in Auftrag gegeben werden, nehmen zehn bis zwölf Lebensmittelprüfer teil, die sich anhand eines Trainings vorab das produktspezifische Vokabular aneignen.»

Grosse Berufserfahrung
Es dauerte Jahre, bis Christine Brugger ihre eigene Aromabibliothek angelegt hatte. Alles begann mit der Arbeit bei Givaudan vor 15 Jahren, welche die Entwicklung eines sensorischen Vokabulars für unterschiedliche Aromafacetten aller Arten von Lebensmitteln zum Ziel hatte. Täglich roch sie an zahlreichen Geruchskomponenten und entwickelte sie in Zusammenarbeit mit Parfumeuren und Aromatikern weiter. Dieses Wissen baute sie später bei ihren Engagements in der Lebensmittelindustrie, Forschung und als Hochschul-Dozentin ein. Parallel dazu lancierte Christine Brugger ihr Unternehmen «Aroma/Reich», dem sie sich heute hauptberuflich neben ihrer Organic Distillery widmet (siehe Zweittext unten).

Wie eine Sportlerin muss auch Christine Brugger regelmässig trainieren, will sie ihr «sensorisches Level» halten. «Ich mache Blindverkostungen und Quervergleiche in meiner Freizeit und schule so Nase und Gaumen.» Wie gut jemand Aromen unterscheiden kann, sei hauptsächlich genetisch bedingt und habe viel mit Erfahrung zu tun. Und davon habe sie auf dem elterlichen Bio-Obsthof am Bodensee von klein auf reichlich sammeln können.

Essen macht glücklich
Heute vermittelt Christine Brugger die sensorische Sprache an Kunden, Kollegen und Lebensmittelprüfern auf der ganzen Welt. Mit ihrem Unternehmen «Aroma/Reich» gelingt ihr so der Spagat zwischen Wissenschaft und Endkonsum. Ferner schreibt sie Bücher über Geschmacksbegegnungen, arbeitet für Kochmagazine und ermöglicht mit Sensorik-Seminaren Firmen und Privatpersonen Einblicke ins Reich der Aromen.

Ebenfalls bewandert ist Christine Brugger in «Food-Pairing». Dieser Gastronomie-Trend steht für ungewöhnliche Geschmackskombinationen. «Ein sensorisches Universum», schwärmt sie. «Weisser Spargel beispielsweise gegart mit einer Vanilleschote ist unglaublich. Oder gehobelter Fenchel gewürzt mit Kubebenpfeffer. Er verleiht dem stark anis-haltigen Aroma des Gemüses einen Hauch von frischem Eukalyptus.»

Dass Essen glücklich macht, ist für Christine Brugger nichts Neues. Stimmungsaufhellende Lebensmittel hat sie erforscht und über Mood-Food ihre Diplomarbeit geschrieben. «Die Schlüsselsubstanz für das Glück ist der Neurotransmitter Serotonin, der als körpereigenes ‹Glückshormon› gilt.» Serotonin wird zwar im Hirn produziert, kann aber nicht über die Nahrung aufgenommen werden. Isst man beispielsweise dunkle Schokolade, fördert ein darin enthaltener Eiweiss-Baustein die Serotoninbildung und macht glücklich.

Frisch gepflückt
Begeistert ist Christine Brugger von der authentischen japanischen Küche. Besonders beeindruckt hat sie die hohe Qualität der Rohprodukte, die wenigen Zutaten und die einfache Zubereitung. «Restaurants in Japan sind in der Regel nur auf eine Spezialität ihrer Landesküche wie beispielsweise Tempura oder Fugu-Fisch spezialisiert. So perfektionieren sie die Zubereitung», schwärmt sie. Auch die italienische oder französische und insbesondere die indische Küche mit ihrer Vielfalt an vegetarischen Gerichten gefallen ihr. «Ich bin da sehr vielseitig interessiert.» Auf Reisen schlendert sie gerne durch Lebensmittelläden oder lässt sich über Märkte treiben und verkostet dies und das. «In einer Strassenküche in Vietnam ass ich den besten Salat meines Lebens. Die Sauce enthielt ein Insektensekret, das nach Birne schmeckte. Eine tolle Überraschung.» Dennoch springt sie nicht auf jeden Trend auf. Skeptisch steht sie beispielsweise der Empfehlung diverser Forscher gegenüber, der Umwelt zuliebe Insekten und Mehlwürmer als alternative Proteinquelle zu Huhn, Schwein oder Rind zu verzehren.

Seit kurzem engagiert sich Christine Brugger für das kulinarische Erbe der Alpen, getragen von einer Gruppe von Menschen, die ihre Liebe und Leidenschaft für die kulinarische Geschichte des Alpenraums, seine Terroirs und seine erstklassigen Produkte eint. «Ich bin auf einem Bio-Obsthof aufgewachsen und halte es nach wie vor mit regionalen und saisonalen Produkten. Frisch gepflückt und ausgereift genossen machen die mich letztlich sensorisch am glücklichsten.»

www.aromareich.ch

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Internationale Sensorik-Sprache entwickelt
Christine Brugger ist am Bodensee auf einem Bio-Obstbaubetrieb aufgewachsen. Sie studierte an der TU München und JLU Giessen Ökotrophologie (Ernährungswissenschaften). Für Givaudan, den weltweit grössten Hersteller von Aromastoffen, entwickelte die Sensorik- und Ernährungswissenschaftlerin in einem fünfjährigen Projekt eine internationale Sensorik-Sprache für den Ausdruck von Aromafacetten. Während ihrer Zeit als Forscherin bei Agroscope in Wädenswil baute sie die Fachstelle für Sensorik auf und entwickelte mit dem «Apfelrad» eine Methode zur Bestimmung verschiedener Apfelaromen. Unter dem Label «Aroma/Reich» führt Christine Brugger heute regelmässig Seminare und Geschmackserlebnisse mit Degustationen für Profis und Interessierte durch. In ihrer Organic Distillery brennt sie edle Spirituosen nach alter Familientradition. Sie ist Autorin der Bücher Geschmacksbegegnungen «Apfel» und «Spargel». net

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