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Titelgeschichte

Kampf gegen Windmühlen

Norwegen sind gegen den Willen des samischen Urvolks mehrere Windparks errichtet worden. 
Daran mitbeteiligt ist der Berner Energiekonzern BKW.
 Doch das einstige Vorzeigeprojekt ist gewaltig ins Wanken geraten.

Die Storheia war seit Generationen Winterweideland für die Rentierherden der Samen. Heute zerschneiden hier über 80 Windräder die Landschaft. Bild: David Engmo

Quentin Schlapbach 
und Cedric Fröhlich

Leif Arne Jåma karrt mit seinem Pick-up-Truck über den Berg, sachte, mit Tabak unter der Oberlippe, und vorbei an den gigantischen Windrädern. Er sagt: «Sorry für das Wetter.» Auf Storheia geht der Wind, es regnet, und ein zäher Nebel liegt über der Landschaft. Früher war das hier schwer zugängliches Gelände, voller Seen und Bäche, Moos und Fels. Nun schlängeln sich Strassen über den Bergrücken, breit genug für einen VW Amarok. Und ständig ist da dieses dumpfe Rauschen. Wusch, wusch, wusch. Der Sound der Rotoren im Wind.

Leif Arne Jåma ist Angehöriger des nordischen Urvolkes der 
 Samen. Seit Generationen war Storheia das Winterweideland der Rentierherden seiner Familie. Heute stehen hier 80 Windräder, jedes 144 Meter hoch. Sie bilden das Kernstück des zweitgrössten Windparkprojekts, das bisher auf europäischem Festland gebaut wurde.

Jåma hält an. Er greift nach dem Feldstecher auf dem Armaturenbrett, steigt aus, knallt die Wagentür zu. Wusch, wusch, wusch.

Der Mann hat Storheia an die Windkraft verloren. Er will den Berg zurückhaben. Für sich, ­seine Nachkommen, sein Volk. Er hat eine klare Forderung. ­Gegenüber dem norwegischen Staat, aber auch gegenüber dem Berner Energiekonzern BKW. Jåma zeigt auf die Turbinen und sagt: «Take this shit down!»

 

Das Dilemma

Dies ist die Geschichte eines Kampfes um Windmühlen. Will man ihr gerecht werden, muss man vier Dinge verstehen:

1. Eine norwegische Vision

2. Ein historisches Unrecht

3. Die BKW

4. Das Rentier

In den Windanlagen, eine Autostunde nördlich von Trondheim, stecken auch Schweizer Millionen. Die BKW hat auf der Halbinsel Fosen rund 100 Millionen Franken investiert. Alles fing gut an: mit sauberem Strom und ­einer Menge Selbstlob. Aber der Wind hat gedreht.

Im Oktober kam das höchste norwegische Gericht zum Schluss, dass die kulturellen Rechte der Samen bei der Lizenzvergabe verletzt wurden. Sechs Familien hatten gegen die zwei grössten von sechs Teilparks geklagt, Storheia und Roan. Das Urteil stürzt die Regierung in Oslo in ein Dilemma. Und die BKW droht über ein vermeintlich bombensicheres Vorzeigeinvestment zu stolpern.

 

Kollateralschaden

Die Windräder auf Fosen sind das Produkt einer politischen Vision. Norwegen ist auf bestem Weg, das erste europäische Land zu werden, das ins postfossile Zeitalter eintritt. Die Elektrifizierung von Wirtschaft und Gesellschaft ist bereits weit fortgeschritten. Künftig soll alles mit Strom laufen: Autos und Schiffe, Flugzeuge und Heizungen. Bisher konnte das Land seinen Bedarf praktisch komplett mit Wasserkraft decken. Aber mit der fortschreitenden Elektrifizierung steigt der Hunger nach Energie. Eine neue Quelle soll diese Lücke schliessen: die Windkraft.

Drei Faktoren spielen eine Rolle, wenn man eine Windturbine aufrichten will: viel Wind, viel Land, wenig Leute. Auf Fosen kommt all das zusammen. 278 Windturbinen, verteilt auf sechs Windparks, wurden hier zwischen August 2016 und März 2021 errichtet. Kostenpunkt: 1,1 Milliarden Euro. Sie generieren jährlich mehr Strom als das Atomkraftwerk Mühleberg zu seinen besten Zeiten.

Erdacht hat das Projekt die norwegische Regierung, erbaut hat es ein Konsortium namens «Fosen Vind». Mehrheitseigner dieser Firma ist der staatliche Energiekonzern Statkraft.

40 Prozent hält eine Gruppe, die von der Schweiz aus operiert und zu der die BKW gehört. Wer ein Projekt dieser Grössenordnung umsetzt, nimmt Kollateralschäden in Kauf. Von Anfang an war allen bewusst, dass sich die Windräder und die Rentiere auf Fosen in die Quere kommen würden. Die Samen wurden gefragt. Aber nie wirklich gehört.

 

Die Norwegisierung

Leif Arne Jåma trägt eine dünne Jacke und eine Mütze mit Ohrwärmern, die er nach oben geklappt hat. Seit zwei Stunden kurvt er nun über den Berg. Mal nickt er: «Hier habe ich einen Vielfrass geschossen, ist ein paar Jahre her.» Mal hält er unter ­einem Windrad an. Meistens schweigt er. Zusammen mit seinem Onkel und seinem Bruder führt er eine Gruppe von etwa 
30 samischstämmigen Rentierhirten an, die gegen die Windmühlen kämpfen.

Die Vorfahren der Samen zogen bereits vor Jahrtausenden durch ein Gebiet, das vom heutigen Norwegen über Schweden, Finnland bis nach Russland reicht. Bis ins 20. Jahrhundert verfolgte Norwegen gegenüber seiner indigenen Bevölkerung eine unnachgiebige Assimilierungspolitik. Die «Norwegisierung» war Staatsräson und fusste auch auf hässlichen Überzeugungen: Die Samen wurden als unzivilisiert angesehen, wie Rückständige behandelt. Man vertrieb sie von ihrem Land, verbot ihre Sprache, drängte viele in bittere Armut.

In Norwegen fand in den letzten Jahrzehnten eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit statt. Die Samen erhielten Reparationen, politische Sonderrechte und ­ihren Platz in der Gesellschaft. Wenn Leif Arne Jåma von früher spricht, dann tut er das einsilbig, fast gehemmt: «Vieles ist heute besser. Aber nicht alles.»

Jåma ist 55 Jahre alt, er hat sie noch erlebt, die letzten Jahre der «Norwegisierung»: «Wir wurden behandelt wie Untermenschen.» In der Generation seines Vaters leugneten viele ihre Herkunft: «Sie wurden wütend, wenn man sie darauf ansprach.» Noch immer gibt es Konflikte. Oft drehen die sich um das Rentier. Das Tier ist das identitätsstiftende Merkmal der samischen Kultur. Sein Lebensraum aber schrumpft. Grund dafür sind Strassen und Staumauern. Nun kommen auch die Windfarmen hinzu. Das Surren der Rotoren macht die Rentiere nervös. Die gigantischen Schatten, welche die Räder auf die umliegenden Hügel werfen, verschrecken sie.

Leif Arne Jåma tritt abermals auf die Bremsen seines Amarok. Er deutet auf die Trafostation, die eine natürliche Rampe im Felsen versperrt. «Über diese Passage haben wir jeweils die Rentiere getrieben», sagt Jåma. «Sie schlugen uns vor, wir sollten doch einfach die neue Strasse benützen.» Die Energiekonzerne hatten vor dem Bau der Windparks Experten nach Fosen geschickt, die mit den Samen verhandelten. Jåma nennt sie die «Anzugträger aus Oslo» und sagt: «Das war kein Dialog. Es war ein Monolog.»

Rentiere sind keine Milchkühe, sie wurden nie domestiziert. Die Herden trotten nicht wie bei einem Alpaufzug über irgendwelche Passstrassen. Jåma: «Diese Leute haben keinen Plan und wollen mir erzählen, dass das hier alles gar kein Problem ist!»

Jahrelang wehrten sich die Samen vor Gericht – erfolglos. 2013 bestätigte das norwegische Ministerium für Öl und Energie die Baubewilligung für die Windfarmen. Lange Zeit passierte auf Storheia aber nichts. Das Projekt drohte gar wieder in der Schublade zu verschwinden.

Doch dann tauchte 2016 eine Delegation aus der Schweiz auf. Ein Finanzfonds, der damals zur Credit Suisse gehörte, und die BKW waren vom Projekt überzeugt. Gemeinsam erwarben sie 40 Prozent an Fosen Vind.

 

Im Wachstumsrausch

Der Hauptsitz der BKW ist ein wuchtiger Bau. Vom ersten Stock aus überblickt man die Berner Altstadt. Seit 2013 führt Suzanne Thoma von hier aus das Unternehmen. Zur Begrüssung reicht sie einem die Hand. Thoma hat die BKW vom angestaubten Kraftwerkbetreiber zu einem weit verästelten Energiekonzern umgebaut. Sie hat diversifiziert, Dutzende Unternehmen dazugekauft, den Aktienkurs vervierfacht. Während die einen sie dafür beklatschen, üben andere Kritik am Wachstumskurs (siehe auch Interview auf Seite 22).

Der Umbau des Konzerns folgt einer gewissen Logik. Denn das Geschäft mit dem Strom ist über die Jahre komplizierter geworden. Klimakrise und Atomausstieg – eigentlich braucht es dringend Alternativen. Doch die Energiewende kommt in der Schweiz kaum voran, auch weil neue Staumauern und Windräder ständig juristisch bekämpft werden. Nicht zuletzt deshalb fand die BKW 2016 den Weg nach Norwegen. Auf der Halbinsel Fosen wartete ein pfannenfertiges Projekt nur noch auf die richtigen Geldgeber. Die Beteiligung am damals grössten Onshore-Windpark Europas verkaufte die BKW öffentlichkeitswirksam als nachhaltige Investition. Über mögliche Schwierigkeiten mit ­lokalen Rentierhirten verlor das Unternehmen kein Wort.

Erst 2018, als eine Delegation der Samen mit einem Rentier vor dem BKW-Hauptsitz aufkreuzte, nahm die Schweizer Öffentlichkeit überhaupt Notiz von den Problemen auf Fosen. Die BKW behandelte die Sache zunächst wie ein PR-Problem. Spätestens mit dem Urteil des höchsten norwegischen Gerichts kann sie das nicht mehr. Thoma sagt, die BKW akzeptiere das Verdikt. Aber es richte sich aus ihrer Sicht in erster Linie an die Regierung in Oslo. «Norwegen muss nun Lösungen aufzeigen, wie die Rechte der Samen besser berücksichtigt werden können.» Was für sie klar ist: Die Demontage der Anlagen, wie die Samen sie fordern, könne keine Option sein.

Wenn Suzanne Thoma über den Fall spricht, schwingt ein gewisses Unverständnis mit. Für sie ist das ein Widerspruch: Die grosse Mehrheit will klimafreundlichen Strom; ein paar Einzelpersonen können alles verhindern. In Norwegen seien es samische Rentierzüchter, bei uns in der Schweiz zum Beispiel Chaletbesitzer, die ihre Aussicht nicht durch Windräder verbaut haben wollen. «Ich frage mich einfach: Wo landen wir da?» Sie wolle die Beweggründe der einzelnen Leute gar nicht qualifizieren, sagt Thoma. «Es geht da um echte Verletzungen – die gilt es ernst zu nehmen.» Aber man müsse auch das grosse Ganze im Auge behalten: «Die Anliegen von rund 40 Hirten mit ihren 3000 Rentieren gilt es dann abzuwägen mit den Interessen einer klimaneutralen Stromversorgung für Hunderttausende Haushalte.» Thoma sagt, dass der Windpark in der lokalen Bevölkerung auch viel Zuspruch erfahre. Und dass längst nicht alle die Windräder weghaben wollten.

 

Millionensegen

Es ist kurz vor 16 Uhr, stockdunkel und regnet in Strömen, als ­Vibeke Stjern das Fosen-Fjord-Hotel betritt. Die Bürgermeisterin von Åfjord kommt gerade von einer Budgetdebatte. Ein langer Tag sei es gewesen, sagt Stjern, bestellt sich eine Tasse Kaffee und wickelt ein schwarzes Haargummi in ihre blonden Locken. Die Windräder auf Storheia, die wie Mahnmale über der Gemeinde thronen, sind ihr politisches Erbe. Sie haben Åfjord und viele seiner Bewohnerinnen und Bewohner vermögend gemacht. Trotzdem sagt Stjern heute, dass sie das Wort Windkraft fast nicht mehr hören könne. «Wir fühlen uns alleingelassen.»

Stjern ist seit 2007 Bürgermeisterin von Åfjord. Eines ihres ersten Meetings hatte sie mit denselben Leuten, die Leif Arne Jåma seinerzeit die Rentierzucht erklären wollten. Stjern sagt, dass ihr Windturbinen rein optisch auch nicht gefallen würden. Aber sie erkannte rasch, dass dieser Windpark eine Chance für ihre abgelegene Gemeinde ist. Also wurde sie zu einer der prominentesten Befürworterinnen des Projekts. Dank der Windparks wurde Åfjord Teil der grünen Vision Norwegens – und zugleich auf einen Schlag zu einer der wohlhabendsten Kommunen des Landes. Ein neuer Hafen, eine neue Transitstrasse und eine Schwimmhalle zeugen vom neuen Reichtum. Die Gemeinde streicht jährlich rund sechs Millionen Franken an Steuergeldern von den Windparkbetreibern ein.

Stjern hat mit den Windparkbetreibern zudem ausgehandelt, dass 20 Prozent der Investitionssumme in die lokale Wirtschaft zurückfliessen – umgerechnet rund 250 Millionen Franken. «Es war hier wie am Klondike», sagt sie. Der Geldsegen war laut der Bürgermeisterin ein bedeutender, aber nicht der einzige Faktor. «Nachhaltigkeits- und Klimaziele waren genauso wichtig dafür, dass wir in Åfjord Ja zum Projekt gesagt haben.» Stjern erzählt vom vielen Lob, das sie erhalten habe. Sie klopft sich mit der Hand auf die linke Schulter und fährt fort: «Uns wurde gesagt, dass wir etwas Gutes tun. Etwas für Klima.»

Wann die Stimmung gekippt ist, lässt sich ziemlich genau sagen. Es gab da diesen Schlüsselmoment auf einer kleinen Insel vor Fosen. Auf Frøya ketteten sich Rentner an Stühle, blockierten Menschen die Strassen, als die Bagger der Stromfirmen auffuhren. Auch auf Frøya wurde ein Windpark errichtet. Das war im Frühling 2019. Vor Frøya waren die Samen und die Naturschützer mit ihrem Widerstand gegen die Windkraft praktisch allein. Seit den wilden Protesten steht das halbe Land hinter ihnen.

Die öffentliche Debatte rund um die Windkraft sei heute vergiftet, sagt Stjern. Aus den Schulterklopfern von einst seien Wegducker geworden. Sinnbildlich dafür war,dass zur Eröffnung des Windparks Ende 2019 nicht einmal Norwegens Energieminister aufkreuzte. Oslos Polit-Bubble will sich nicht mehr vor Wind­rädern in der Pampa ablichten lassen. «Ich würde dem Projekt dennoch wieder zustimmen», sagt Stjern. Sie nimmt einen letzten Schluck Kaffee und tritt hinaus in die Dunkelheit. Es hat aufgehört zu regnen.

 

Über das Rentier

Über den Hof hallt Hundegebell, unter den Füssen knirscht der Schnee. Eine Lampe an der Hauswand taucht das Wohnhaus und die Scheune in ein fahles Licht, beide Gebäude sind falunrot gestrichen. Sissel Holtan öffnet die Tür, bittet herein, setzt Kaffee auf und fragt: «Ingwerplätzchen?» Die Frau ist 39 Jahre alt, hat die Haare an ihrer rechten Schläfe zu einem feinen Zopf geflochten und verkörpert die junge, nächste Generation der Samen.

Auf dem Küchentisch liegt eine Karte der Halbinsel Fosen. Holtan hat darauf die Windparks und die Weideflächen eingezeichnet. Leif Arne Jåma und ­seine Leute haben Storheia «verloren», Holtan und ihre Gruppe den Hügel Roan. Für die Urteilsverkündung reiste sie am 11. Oktober 2021 extra in die Hauptstadt. «Was zum Teufel ist gerade passiert?» Das seien ihre Worte gewesen, nachdem die Richter einstimmig für die Samen votiert hatten. Das Urteil kam völlig überraschend, war für viele ein Schock.

Der UNO-Pakt II garantiert die Einhaltung der fundamentalsten Rechte jedes Menschen. Artikel 27 schützt zudem Minderheiten wie die Samen. Das Gericht kam zum Schluss, dass die Windräder auf Fosen die Samen an der Ausübung ihrer Kultur behindern. Das schlagende Argument: Den Wind auf Fosen könnte man auch ernten, ohne die Weiden komplett zu überbauen. Nur steht im Urteil nirgends, dass die Turbinen abgestellt und wieder abgebrochen werden müssen. Niemand weiss genau, was nun passieren soll. Alle warten auf ­einen Entscheid aus Oslo. «Sie halten uns hin», sagt Holtan. «Sie sind komplett überfordert», sagen politische Beobachterinnen.

Holtans Ehemann Stian steht im Türrahmen, ein gross gewachsener, freundlicher Kerl, der über seine Rentiere sagt: «Eine Wissenschaft!» Die beiden zeigen Bilder vom letzten Sommer, als sie die Tiere zusammentrieben, um sie zu zählen und zu markieren. Die Rentierwirtschaft ist kein einträgliches Business mehr. Früher hatten die Holtans weit über 300 Tiere. Viele davon seien gestorben, sagt Sissel Holtan. Gefressen von Raubtieren, verdrängt durch menschliche Infrastruktur. «Vor 15 Jahren konnte man von der Zucht noch leben. Heute ist das für eine Familie kaum mehr möglich.» Nur noch ein Bruchteil der etwa 80 000 Samen in Skandinavien verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Handel von Fleisch und Fell. Viele aber bleiben dem traditionellen «Reindrift» verbunden.

Für Sissel Holtan ist klar: «Die Windparks müssen weg.» Sie rechnet nicht damit, ihre Herde jemals wieder nach Roan zu treiben. «Aber vielleicht können unsere Grosskinder das Land wieder nutzen.»

 

Der Druck steigt

Trondheim ist die drittgrösste Stadt Norwegens. Das Thermometer zeigt minus 9 Grad. Kari Merete Andersen spaziert um den Nidarosdom und bleibt plötzlich stehen. «Schaut», sagt sie und zeigt auf einen Baum. «Ein Rotkehlchen.» Andersen ist Ökologin und war lange Zeit Hochschuldozentin. Seit ihrer Jugend engagiert sie sich in Naturschutzvereinen, anfangs, um den Bau neuer Stauseen zu verhindern. Heute kämpft sie auch ­gegen die Windkraft. «Eine Energie, die so viel Umwelt zerstört, kann nicht sauber sein.»

Lange Zeit kam der Ausbau der Windindustrie in Norwegen nicht richtig voran. Die Turbinen waren zu wenig rentabel. Erst als die Regierung ins landesweite Stromnetz investierte und Subventionen einführte, geschah, was Andersen den «Ketchup-Effekt» nennt: Innert weniger Jahre wurden ganze Küstenlinien mit Windturbinen zugepflastert. Bald werden 70 Windfarmen in Betrieb sein. «Und die meisten werden mitten in die unberührte Natur gebaut», sagt Andersen. Ganze Ökosysteme würden geopfert.

Seit dem Urteil seien bereits Monate vergangen, und noch immer sei nichts passiert. «Diese Anlagen auf Fosen sind illegal», sagt Andersen. «Für die normalen Leute in Norwegen ist es unverständlich, dass sie noch in Betrieb sind.» Sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter wollen den Druck aufrechterhalten. Vor eineinhalb Jahren gründeten sie die Organisation Motvind – zu Deutsch: Gegenwind. Inzwischen hat sie bereits 19 000 Mitglieder.

In den Samen sehen die Naturschützer natürliche Verbündete. Auch deshalb lastet auf Leif Arne Jåma und Sissel Holtan enorm viel Druck. Die erstarkten Windkraftgegner Norwegens wollen, dass sie hart bleiben, jetzt nur nicht nachgeben, ja keinen Deal mit der Windlobby eingehen. Die Samen sollen bei ­ihrer Maximalforderung bleiben: Weg mit den Windrädern.

Im Ministerium für Öl und Energie wird man allerdings ­alles daransetzen, dass es nicht so weit kommt. Staatssekretär Amund Vik sagt, Norwegen brauche mehr erneuerbare Energie, um die grüne Wende vollziehen zu können. «Die Regierung wird deshalb weiterhin Windprojekte genehmigen, welche die rechtlichen, technischen und ökologischen Anforderungen erfüllen.» Noch sei es zu früh, um konkrete Aussagen machen zu können, was das Urteil für die Zukunft der Windenergie auf Fosen bedeute. «Wir haben alle Parteien angefragt und um Vorschläge gebeten.» Ende Januar werde die Regierung einen Zeitplan für das weitere Vorgehen präsentieren.

 

Die Fernbedienung

Ende November sind die Tage kurz in Mittelnorwegen. Drei, vier Stunden lang dämmriges Licht. Dann versinkt Fosen wieder in der Dunkelheit. Dann leuchten auf den Hügelzügen rote Lichter wie die glühenden Augen eines unförmigen Tiefseewesens. Jeder rote Punkt markiert eine Windturbine, die sich da draussen in der Wildnis dreht.

1999 hörten Leif Arne Jåma, sein Bruder und sein Onkel zum ersten Mal von den Plänen für die Windräder auf Fosen. Er erzählt von einem Ingenieur und dessen Verheissungen: Die Technik, habe der Mann gesagt, ­werde so fortgeschritten sein, dass die Jåmas die Mühlen einfach per Knopfdruck würden abschalten können. Wenn sie mit den Rentieren auf Storheia zögen, dann würden sie «Fernbedienungen» dabeihaben. Jåmas Onkel soll dem Ingenieur geantwortet haben: «Okay, dann schalte ich sie aber nie wieder an.»

Leif Arne Jåmas Rentiere waren seit Jahren nicht mehr auf dem Berg. Die Fernbedienung hat er nie erhalten.

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