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Kein einziges Gramm mehr zunehmen

Wie lange dauert das noch? Seit einer gefühlten Stunde sitze ich hier in der verkehrsfreien Einkaufsstrasse auf einer Schaufensterbrüstung bei 30 Grad im Schatten und warte. Sie sucht in nahen Kleidergeschäften nach passenden Sommerkleidern.

Bild: Niklaus Baschung

Niklaus Baschung

Mein Angebot, ihr bei der Auswahl beizustehen, hat sie dankend ausgeschlagen: «Du bist mir keine grosse Hilfe.» Da bin ich auch froh drüber, über diese Einschätzung, denn unter lauter Kundinnen inmitten Tausender von Damenkleidern fühlt man sich, irgendwie, wie ein Frosch auf der Autobahn.

Das dauert. Direkt vis-à-vis von meinem Sitzplatz präsentiert ein Glacegeschäft seine Auslage. In riesigen Kübeln bis zu 40 Sorten Eis in allen Farbschattierungen. In Gedanken habe ich die Hälfte bereits weggegessen, samt Kübel. Aber ich darf nicht. Zuvor waren wir zu zweit in einem Herrengeschäft, haben drei T-Shirts gekauft zum Preis von vier oder fünf, jedenfalls günstig. Innert zehn Minuten sind wir ins Geschäft eingetreten, habe ich jedes T-Shirt anprobiert, an der Kasse angestanden, bezahlt und schon standen wir wieder draussen. So geht das – mit dem Kleiderkaufen.

Nur bei der Grösse war ich unsicher. Mein viriler Körper bewegt sich seit Menschengedenken im Grenzbereich zwischen den Kleidergrössen L und XL. Wir haben uns diesmal für L entschieden. «Sie passen ganz genau», meinte sie, «aber du solltest von jetzt an kein einziges Gramm mehr zunehmen.»

Und gestern noch besuchten wir ein mittelalterliches Städtchen. Am Vortag massen sie dort eine Temperatur von 
46 Grad Celsius, ein ewiger Rekord. Viele Passanten nahmen es mit Galgenhumor. «Zum Trost machen wenigstens die Glaceverkäufer ein Riesengeschäft», meinten sie. Für mich ist das gar kein Trost, eher eine Kriegserklärung.

Mein genaues Gewicht liegt momentan im Dunkeln. Die Körperwaage spinnt. Wenn man auf sie steht, verändert sich das angezeigte Gewicht laufend, in einer Spannweite von gut zehn Kilos. Lehne ich mich ausserdem auf der Waage noch ganz nach vorne und stehe nur auf die Zehenspitzen, bin ich so leicht wie seit 45 Jahren nicht mehr. Ich könnte fliegen. Diese Position gelingt mir allerdings nur eine halbe Sekunde lang. Wegen der Schwerkraft.

Das dauert ewig. Eine kichernde Schulklasse schlurft hitzegeplagt vorbei. Plötzlich gerät die Gruppe in Fahrt und die Schüler und Schülerinnen stürzen sich geradezu aufs Glacegeschäft. Aber – das muss man ihnen zugutehalten – sie beschränken sich jeweils auf eine Kugel Eis, oder Boule, wie es hier heisst. Beeindruckend.

Auch ich nähere mich nun dem Eisverkäufer und entscheide mich für Joghurt-Pfirsich-Maracuja, Caramello-Argentino und Eierlikör-Gianduja. Pro gekauftes T-Shirt nur eine Glace-Kugel. Ich glaube, das ist ein vernünftiger Kompromiss. So verteilen sich die Kalorien direkt ins Unsichtbare.

Info: Niklaus Baschung ist Journalist, Kommunikationsfachmann und Hundehalter.

kontext@bielertagblatt.ch

 

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