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Alt und Jung

Liebes Tagebuch, nicht vom Fleck kommen 
sieht definitiv anders aus

Liebes Tagebuch, seit meinem letzten Eintrag ist schon wieder ein Jahr vergangen. Ich denke, dass ich dich mittlerweile wohl getrost Jahrbuch nennen könnte.

Luca Brawand

Ein Jahrbuch mag auf den ersten Blick nicht sonderlich prickelnd klingen. Es ist gewissermassen die Zusammenfassung eines Tagebuchs, einfach ohne die interessanten Details. Aber für ein Tagebuch besitze ich wohl schlichtweg zu wenig Selbstdisziplin oder bin einfach schon zu alt – oder noch zu jung dafür. Aber der Reiz an einem Jahrbuch liegt für mich vielmehr darin, die Veränderungen im Grossen anstatt im Kleinen zu sehen. In den grundlegenden Verschiebungen zwischen den Kalenderjahren anstatt den kleinen Problemen, mit denen ich tagtäglich hadere. 
Das Ganze ist bekanntlich mehr als die Summe seiner Teile.

Letztes Jahr habe ich geschrieben, dass es sich streckenweise anfühlte, als wäre ich zusammen mit der Zeit eingefroren. Dieses Jahr hingegen scheint das Wasser geschmolzen zu sein, und wir befinden uns alle auf offener See, zwar mit den Köpfen über dem Wasser, aber weit und breit 
kein Land, an das wir schwimmen könnten. Und eigentlich warten wir sowieso alle nur auf die Ebbe.

Trotzdem rieselt der Sand unaufhaltbar durch die Verengung der Sanduhr, und der Globus dreht sich unbeeindruckt vom Geschehen auf seiner Oberfläche um die eigene Achse. Und dies wird auch noch so sein, wenn das letzte Sandkorn in den Bauch meiner Uhr gefallen ist. Ein Vierteljahrhundert habe ich auf dieser Erde mittlerweile hinter mich gebracht. Zumindest mal ein Anfang, würde ich sagen. Inspiriert von meiner täglichen Fahrt auf der Fähre in den Norden von Amsterdam trug der Titel meines Textes im September den Titel «Die Zeit vergeht wie im Möwenflug». Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich diese These definitiv bestätigen, es war so was wie ein einziger langer Augenblick bis hierhin. Und an Wind für den nötigen Auftrieb und dem gelegentlichen aus der Bahn werfen, wie dies bei den Möwen der Fall ist, hat es sicherlich auch nicht gemangelt.

Hätte ich es auch so empfunden, wenn ich diese Zeit nicht in einem anderen Land verbracht hätte? Höchstwahrscheinlich schon. Vielleicht auch nicht. Was ich aber realisierte, war, dass die Welt grösser ist, als man meint und kleiner, als man denkt. Ich bemerkte, wie viel es noch zu erleben gibt und wie sehr es sich lohnt, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und daran zu wachsen. Gleichzeitig bemerkte ich das erste Mal bewusst, dass auch in dieser Stadt einfach nur Menschen mit ihren ganz persönlichen Sorgen und Träumen leben und dass auch ich nur einer davon bin – egal, wann und wo ich mich befinde.

Im Fragebogen von Max Frisch heisst es: «Was ist für Sie Heimat?» Als Auswahlmöglichkeiten gibt es ein Dorf, eine Stadt oder ein Quartier darin, einen Sprachraum, einen Erdteil oder eine Wohnung. Ich habe schon mit einigen Leuten über diese Frage diskutiert, und meistens zeigte sich, dass die Antwort zum einen sehr individuell ist und sie sich zum anderen auch über die Zeit verändern kann.

Mein Vater zitierte in meiner Kindheit oft den Satz: «Um zu wissen, wo man hingeht, muss man wissen, woher man kommt.» Zu wissen, wo ich hingehen will, war für mich jedoch nie wirklich das Problem. Mich hat der Satz in den letzten 
Monaten aber beschäftigt, weil er sich für mich sinngemäss umgedreht hat: «Um zu wissen, wohin man gehört, muss man zuerst weggehen.» Das Weggehen lernte mir zum einen, dass das Loslassen gar nicht so schwer sein muss. Deutlicher als erwartet, und dies, ohne jemals durch ein negatives Erlebnis ausgelöst geworden zu sein, wurde mir aber vor allem bewusst, dass erst das Weggehen einem ernsthaft vor Augen führt, wo man wirklich herkommt und wo man tatsächlich hingehört – wie auch immer die Antwort darauf lauten mag. Es war also auch dieses Jahr wieder viel in Bewegung, sei dies nun für mich persönlich oder auf der Welt als Ganzes, obschon man nach wie vor vom Gefühl begleitet wird, nicht vom Fleck zu kommen. Vielleicht lohnt es sich in diesem Fall, das eigene Leben einmal aus der 
Vogelperspektive zu betrachten. Denn manchmal braucht es nur einen Wimpernschlag, um zu 
sehen, dass es der innere Zugvogel auch dieses Jahr wieder in den Süden geschafft hat. Nicht vom Fleck kommen sieht definitiv anders aus.

Luca Brawand 
alias Landro

Info: Der 25-jährige Bieler Luca Brawand ist 
Musiker und und macht aktuell einen Master in Persuasive Communication an der Universität Amsterdam. 2018 hat er sein Debütalbum herausgegeben. Ende Juni hat er seine neuste EP mit dem Titel «Neverland» veröffentlicht. 
kontext@bielertagblatt.ch

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