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Fernweh

"Mach mal eine Ansage!"

Fernweh-Autor Donat Blum fragt sich, warum in Deutschland debattiert wird, während Schweizer lieber schweigen. Und gesteht, dass er wohl nie ganz auf den Gebrauch des Konkunktiv II wird verzichten können.

Im Online-Podium "Jour fixe - Kultur schafft Demokratie" mit der FAZ-Feuilletion-Chefin Sandra Kegel zum Thema Identitätspolitik wurde äusserst hart debattiert. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum


Seit ich mich eingehender mit 
Berlin und Deutschland befasse, beschäftigen mich die grossen Unterschiede in der Debattenkultur. Im Prinzip reicht ein Blick in die Parlamente, um das festzustellen. Während im Bundeshaus meistens alle artig in ihren 
Reihen sitzen und immer nur eine Person eine defensive Rede hält, wird im Bundestag frontal angegriffen, gebuht, dazwischengerufen und auch inhaltlich mit für schweizerische Verhältnisse harten, rhetorischen Bandagen gekämpft. Aber auch im persönlichen Zwiegespräch werden die Unterschiede immer wieder deutlich.  


Im Lektoratsprozess meines Debüts, in einem deutschen Verlag erschienen, kam es öfters zu Missverständnissen. Ich sagte zu meiner Lektorin, «dass mir dieses Cover besser gefallen würde als jenes» oder «dass ich die Pressetexte nach Möglichkeit gerne gegenlesen würde, bevor sie veröffentlich werden» und sie machte Gebrauch von der angebotenen Option, diese «Wünsche» nicht zu beachten.


Keinen Krieg im Biergarten
In geschäftlichen Dingen im Konjunktiv II zu kommunizieren, wie ich das tat und noch immer oft tue, ist in Deutschland unüblich. Dafür sind Floskeln wie «Mach mal eine Ansage!» oder «Ich kriege ein Bier» gebräuchlich. Formulierungen, die mir bis heute nicht über die Lippen gehen. Weder will ich im Biergarten einen «Krieg» vom Zaun brechen, noch im geschäftlichen Kontext «etwas ansagen» – was nach meinem schweizerischen Verständnis bedeuten würde, dass ich nicht offen für Rückmeldungen oder andere Ideen wäre.


Doch das greift zu kurz. Natürlich sind Deutsche nicht per se weniger offen als Schweizerinnen und Schweizer. Auf eine Ansage kann eine Gegen-Ansage folgen, Zustimmung oder Widerspruch. Wobei vor allem Letzteres bei Schweizern Angstschweiss auslösen dürfte.


Heftiger Widerspruch heisst in Deutschland allerdings noch lange nicht persönlicher Streit. Nicht selten finde ich mich in 
Situationen wieder, in denen ich mir mit diesem Satz gut zurede. Beispielsweise nachdem mir ein Buchhändler während zwei Stunden in einem Whatsapp-Chat Ansagen gemacht hat, warum er den einen Text in der neuen «Glitter», der Literaturzeitschrift, die ich herausgebe, total daneben findet. Ja, geradezu ein potenzieller Grund, sie aus dem Programm zu verbannen.


Auf der anderen Seite erfasst mich in der Schweiz immer öfter das Gefühl, wichtige Debatten würden von einem übermässigen Harmoniebedürfnis erstickt.
So geschehen mit einer Diskussion im Zürcher Kulturbetrieb, in die ich kürzlich verwickelt wurde. Eine schwarze Kollegin wies auf den strukturellen Rassismus hin, der von dem städtischen Kulturlokal «Karl der Grosse» begünstigt würde, und widersprach öffentlich einer Rede, die dort gehalten und in der ihr vorgeworfen wurde, sie sei nicht gesprächsbereit, was faktisch nicht stimmte – suchte sie doch nicht zuletzt mit der Replik auf besagte Rede das Gespräch. Statt dass nun aber eine Debatte über strukturellen Rassismus ausgetragen wurde, übte sich die Gegenseite in beharrlichem Schweigen. Bis heute liegt meines Wissens keine Reaktion vom «Karl der Grosse» vor.


Lauter Feuilleton-Streit
Ganz anders hier in Deutschland, wo kürzlich wieder eine öffentliche Debatte über Identitätspolitik aufflammte. 185 weibliche, männliche und non-binäre Schauspielerinnen hatten sich im «Süddeutsche Zeitung Magazin» als queer geoutet. Die Reaktionen waren überwiegend ermutigend – bis auf eine launische Polemik der Ressortleiterin des Feuilletons der «Frankfurter Allgemeine Zeitung» Sandra Kegel. Sie unterstellte den 185 Schauspielerinnen (männliche und non-binäre Menschen sind mitgemeint) in einem bewusst oder unbewusst queerfeindlichen Akt, sich ungebührlich wichtig zu machen.


Spätestens hier hätte die Debatte in der Schweiz geendet. In Deutschland nahm sie jetzt erst richtig an Fahrt auf. Denn besagte Ressortleiterin wurde von der SPD-Grundwertekommission zu einem Online-Podium eingeladen, zu dem sich einige queere Aktivistinnen (davon eine non-binäre Person) zwecks Widerspruch ebenfalls eine Einladung erkämpften. Ihre Voten wurden von der Moderation allerdings abgeklemmt, während die Ressortleiterin lange ausholen und LGBT-Anliegen unter anderem mit rechtspopulistischem Jargon als «Ideologie» abtun durfte.


Im Nachgang zum Podium wurde der Aufschrei folglich noch lauter – auch weil sich der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mit einem sogenannten Essay eher zufällig zu diesem Zeitpunkt in die Debatte einschaltete und Identitätspolitik relativ allgemein einen Hang zur «Cancel Culture» vorwarf. Der Streit um die Übersetzung des Gedichtes, das die Schwarze Dichterin Amanda Gorman bei Joe Bidens Amtseinführung vortrug, entfachte den Flächenband schliesslich vollends. Keine grössere Zeitung, Fernseh- oder Radiostation, die nicht darüber berichtet hätte. Zwei Monate nach besagtem Podium ist die Debatte weiterhin in vollem Gange. Gerade hat Sahra Wagenknecht neues Öl ins Feuer gegossen.


Geschockt von SRF-Serie «Frieden»
In der Schweiz scheint mir eine solch intensive Debatte unvorstellbar. Als vor Kurzem beispielsweise die Schweizer Serie «Frieden» in der Mediathek von Arte abrufbar wurde, fragte ich, einigermassen geschockt von den ersten beiden Folgen, meine Schweizer «Bubble» auf Facebook, ob ich wirklich weiterschauen solle. Ich hätte bisher nur Gutes über die Serie gelesen, sei aber unter anderem von der kitschigen 
Darstellung der KZ-Überlebenden und der ländlichen Schweiz – in der damals ganz bestimmt nicht so viel Swing getanzt wurde – arg irritiert.


Nach und nach füllten sich die Kommentarspalten unter meinem Post mit Kritik. Scheinbar hatte sich davor nur kaum jemand dafür gehalten, diese zu äussern. Oder es bot sich kein Anlass dazu. Im Worldwideweb waren gerade mal zwei kritische Rezensionen auffindbar. Beide aus jüdischer Perspektive. Die Macherin Petra Volpe gab im deutschen Radio zu Protokoll, die Serie habe nahezu ausschliesslich positives Echo ausgelöst. Eigentlich kaum vorstellbar bei einer Serie, die nach eigenen Angaben die Rolle der Schweiz während und nach dem Zweiten Weltkrieg «kritisch» beleuchtet.


Niemand will es sich verscherzen
Ein Grund, warum sich die Debatten in der Schweiz und Deutschland dermassen grundlegend unterscheiden, liegt auf der Hand: die schiere Grösse. Während in der Deutschschweiz gerade mal potenziell fünfeinhalb Millionen Menschen miteinander diskutieren, sind es in Deutschland mehr als 80 Millionen. Wobei die eigentliche 
Personenzahl für den öffentlichen Diskurs weniger entscheidend ist als die dadurch bedingte Medienvielfalt.


Die Sparmassnahmen in der Schweizer Medienlandschaft haben dazu geführt, dass insbesondere die Kulturberichterstattung nahezu monopolisiert worden ist. Produziert das Schweizer Fernsehen heute eine Serie, wird diese im Schweizer Radio und auf den Online-Kanälen der SRG vorwiegend positiv besprochen. Nicht zwingend weil das von oben so verordnet wird. Sondern schlicht und einfach, weil alle, die in der Medienlandschaft etwas mit Film zu tun haben, auch mindestens jemanden kennen, die oder der bei der teuersten Serie, die SRF je produziert hat, mitgewirkt hat. Und wer das nicht tut, die oder der wird es sich lieber mit niemandem der Beteiligten verscherzen – denn, wer weiss, vielleicht sitzt Petra Volpe in der nächsten Jury, die über die Finanzierung des eigenen Filmvorhabens entscheidet.


Die Art und Weise wie in der Schweiz 
und Deutschland öffentlich diskutiert wird, scheint mir grundverschieden. Mit der unterschiedlichen Wesensart oder mit der unterschiedlichen Sprache lässt sich allerdings nur ein minimaler Anteil begründen. Entscheidender ist wahrscheinlich: Je kleiner die Gruppe, desto grösser die Angst vor Widerspruch, der zum Ausschluss führen könnte.

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