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Fernweh

Merlot-Risotto statt
 meerfrische Moules marinières

Anders als geplant erkunden Bea und Pit Thalhammer die Südschweiz, statt auf kulinarischen Spaziergängen die Bretagne zu entdecken. Trotzdem lassen sie es sich nicht nehmen, in Erinnerungen an ihre Reisen in ferne Länder zu schwelgen.

In Wanderschuhen statt auf dem Fahrrad: Bea und Pit Thalhammer erkunden zu Fuss die frühlingshaften 
Wälder im Tessin.

  • Dossier

Pit Thalhammer

Eigentlich würden wir irgendwo zwischen Angers und Saint Malo pedalen, vielleicht jetzt gerade vor einer Boulangerie in der Sonne sitzen und den französischen Frühlingsmorgen bei Café et croissants au chocolat geniessen. Vielleicht würden wir in die Sonne blinzeln und an die leckeren lyonnaiser Spezialitäten denken, die wir in der zweitgrössten Stadt Frakreichs zu ausgiebig genossen. Ganz bestimmt würden wir uns aber freuen, nach einer längeren Velopause wieder touren zu dürfen.

Es kam anders als geplant und gehofft.

Das Virus mischt sich in Dinge ein, die ihm egal sein sollten. Wird eine Regierung heute auf den Schild gehoben, weil sie das Impfen besonders erfolgreich organisiert, müssen die Politiker und Politikerinnen vielleicht Tage später wegen hoher Ansteckungszahlen zurückkrebsen und einen weiteren Lockdown verkünden. Gestern top, übermorgen flop. Heute Daumen hoch, in zwei Wochen wieder runter. Eine Achterbahnfahrt, auf die wir alle gerne verzichten würden. Und keine guten Voraussetzungen für eine Veloreise. Zu hoch die Chance, irgendwo stecken zu bleiben – falls wir überhaupt in ein Nachbarland einreisen dürfen. Kaum ein Franzose würde uns zur Zeit mit offenen Armen empfangen. Bien sûr, die Rote Karte war zu befürchten, wir wussten das immer.

 

Für E-Bikerin gehalten

Sicher ist, dass ein Velohelmkauf aus Bea noch keine Tourenfahrerin macht. Sie kann da Geschichten erzählen.

Unsere Sagoschen mussten in den acht Reisejahren einiges erdulden. Bis 47 Grad Hitze im Iran ebenso wie Schlamm und Regen in Südamerika und Japan. Einige Male wurden sie unsanft auf Pickups und in Flugzeugbäuche geworfen. Ich habe Löcher verklebt und gebrochene Schnallen gewechselt. Unsere Sagoschen erzählen Geschichten von erfüllten Lebensträumen. Nie würden wir sie ohne Not im Müll entsorgen.

Anders der Velohelm. Damit er zuverlässig schützt, braucht es ab und zu einen neuen. Da Bea nicht als Freizeitsportlerin gekleidet in der Stadt einkaufen mag – als Frau hat sie da spezielle Präferenzen – hält man sie offenbar für eine Elektrobike-Einsteigerin, die ihren ersten Velohelm aussucht. Im Wintermantel und eleganten Stiefeletten sieht sie nicht wie eine Tourenfahrerin aus. «Aha, Sie fahren kein E-Bike?» Irritiert legt der Verkäufer den E-Bikehelm ins Regal zurück. Wir grinsen. Ob er Bea die Langzeit-Velotour-Geschichte wohl glaubt? Der neue gelbe Velohelm steht ihr übrigens bestens!

Beas Lenkertasche glich einem Emmentaler, zumindest was die vielen Löcher anging. Darum liess sie sich eine neue Tasche zum Abholen in den Veloladen liefern.

 

Kleider machen Leute

«Sie wissen, dass Sie eine Tasche kaufen, die an den Velolenker montiert werden muss», fragt der Verkäufer, das sonst übliche Du respektvoll vermeidend. «Ist mir völlig klar, meine alte Tasche hatte ich fast zehn Jahre. Die bisherige Befestigungsvorrichtung am Velolenker sollte mit der neuen Tasche kompatibel sein, ist das so?», fragt Bea nach. «Ja, das sollte gehen, aber Sie können die Lenkertasche nur am Lenker montieren», insistiert der Typ, meine Frau skeptisch musternd. Beas Äusseres scheint ihn gehörig zu irritieren. «Entschuldigung, ich werde doch wohl wissen, was ich bestellt habe!» Das Frage-und-Antwort-Spiel geht weiter. Langsam reisst Beas Geduldsfaden. Die Filialleiterin an der Kasse beendet die Diskussion schliesslich. Meine Frau darf ihre neue Lenkertasche mitnehmen.

Mit Anorak, Leggins, modernem Rucksack und schicken Veloschuhen ausgestattet, geht Frau beim Einkaufen in der Stadt als Mountainbikerin durch. Verzichtet sie jedoch städtisch geschniegelt und gebügelt darauf und verirrt sich in einen Outdoorshop, kann es lustig werden. Kleider machen Leute.

 

Appenzeller und anderer Käse

Wir sitzen auf dem Balkon, lassen unsere weissen Beine in der Tessiner Sonne bräunen. Die bergige Südschweiz mit ihren abgelegenen Tälern und alten Weinbergen passt wunderbar in eine Merlotflasche, dazu würzigen Prosciutto crudo und Pane Vallemaggia – was wollen wir mehr? Nein, im Ernst, es gibt für uns absolut keinen Grund zum Jammern. Wir gehören zu den wenigen Glücklichen ohne Agenda. Wir entscheiden jeden Tag neu, ob wir fahren oder bleiben, ob wir den Norden gerade lieber mögen als den Süden. Solche Freiheiten schätzen Langzeitreisende mehr als alles andere, sie sind unsere eigentlichen Reichtümer.

Der Veloradius beschränkt sich momentan auf die Schweiz. Zugegeben, das stinkt uns ziemlich, obwohl sich Helvetien frühlingshaft herausgeputzt hat. Und ja, natürlich lässt sich in der schönen Heimat mit dem Velo viel entdecken. Aber es ist eben wie mit dem Käse. Wir schätzen Sbrinz und gut gereiften Appenzeller sehr, doch ab und zu muss ein Ausländer auf den Teller, zum Beispiel eine der 500 Käsesorten, die es in Frankreich angeblich gibt.

Mit dem Tessin verbinden uns lediglich Kindheits- und Rektrutenschule-Erinnerungen. Ansonsten ist die Südschweiz – leider – weitgehend unbekanntes Land; also höchste Zeit, dass wir diesen Makel ausbügeln. Hier am Lago Maggiore riecht der Frühling anders als auf der nördlichen Seite des Gotthards, wenigstens unsere Nasen meinen, das zu schnuppern. Vielleicht weil der italienische Frühsommer lockt und unweigerlich Feriengefühle aufkommen, und wir doch eigentlich auf dem Velo sitzen wollten, anstatt die Wanderschuhe zu schnüren. Reisende soll man nicht aufhalten, mahnt ein Sprichwort. Es wird mit der Velotour klappen, eben etwas später.

 

Den Velofahrern freundlich gesinnt

Zum Glück hat unser Gehirn die Erinnerungen erfunden. Was täten wir Velofahrer, ja wir alle, ohne sie? Das Schöne bleibt haften, wie bei uns zum Beispiel die herzliche Gastfreundschaft im Iran. Unangenehmes verdrängt der Mensch meist – zum Glück.

Ein junger Tessiner beschreibt in einem mehrteiligen Dokumentarfilm auf SRF (Play Suisse, «Langsam ist schön»), wie er auf seiner ersten grossen Velotour nach Persien immer wieder beschenkt und zum Essen und Übernachten eingeladen wurde. Mehrmals war er schlicht sprachlos, bei so viel Gastfreundschaft. Gestern Abend, beim virtuellen Mitreisen vor dem Bildschirm, bekamen wir immer wieder feuchte Augen, wurden von Erinnerungen überwältig. Viele tolle Momente haben wir Jahre vorher selber in diesem muslimischen Land erlebt.

Wie schön, dass es die Gastfreundschaft im Iran und vielen anderen Ländern gegenüber Veloreisenden noch gibt. Wir freuen uns aufs Weiterreisen.

Info: Seit 2012 radeln die gebürtigen Safnerer Bea und Pit Thalhammer durch die Welt: 
www.bepitha.ch

 

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