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Gesundheit

Misteln steigern die Lebensqualität

Die Misteltherapie gehört zu den am häufigsten angewandten Verfahren in der komplementär-medizinischen Krebstherapie. Sie soll schulmedizinische Behandlungen aber nicht ersetzen, sondern erweitern.

Den Krebs überwunden: Beat Schranz bespricht mit Professorin Ursula Wolf die Dosierung der Misteltherapie. Urs Baumann

Sonja L. Bauer

«Hier sind die Nadeln. Sie spritzen das Präparat montags, mittwochs und freitags. Nach sieben Ampullen machen Sie eine Pause. Ich gebe Ihnen ein Dauerrezept für ein halbes Jahr...» Beat Schranz nickt. Fragt ein-, zweimal kurz nach, dann nimmt der ehemalige Krebspatient das Rezept und steckt es ein.

Er kennt das Prozedere bestens. Seit sechs Jahren unterzieht er sich einer Misteltherapie und denkt nicht daran, damit aufzuhören. «Ich bin überzeugt, dass es mir dank dieser Therapie heute wieder so gut geht.»

Ergänzung zur Schulmedizin

Ursula Wolf, Direktorin des Instituts für Komplementärmedizin am Berner Inselspital, erklärt es: Die Misteltherapie ist eine ernst zu nehmende Therapieform. Sie wird auf Wunsch ergänzend mit schulmedizinischen Behandlungen wie Chemotherapien und Bestrahlungen verschrieben. Der Patient kann sich den Wirkstoff, der aus verschiedenen Arten der Mistelpflanze gewonnen wird, selber spritzen. Ähnlich, wie es Diabetiker in den Bauch oder den Oberschenkel tun.

«Das Arzneimittel muss gespritzt werden, weil bei einer Einnahme die Inhaltsstoffe durch die Verdauungssäfte zerstört würden», erklärt Ursula Wolf. Die Dosierung werde, je nach Diagnose und Mensch, individuell bestimmt. «Deshalb ist das Gespräch mit der Patientin oder dem Patienten und dem behandelnden Onkologen besonders wichtig.»
Für Beat Schranz ist seit jeher klar, dass sich der Körper nicht ohne Geist und Seele denken lässt: Unmittelbar nachdem er von seinem Krebs erfahren hatte, entschloss er sich, die Krankheit nicht nur schul-, sondern auch komplementärmedizinisch anzugehen.

Wegen Taubheitsgefühlen im Bein hatte er sich 2010 im Inselspital untersuchen lassen. Diagnose: bösartiger Tumor im Kreuzbein.

Bereits während der Chemotherapie und der Bestrahlung suchte der heute 53-Jährige Ursula Wolf auf und liess sich die Misteltherapie verschreiben. «Ich bin überzeugt, dass sie dafür verantwortlich ist, dass ich die raue Zeit dieser Behandlungen gut durchgestanden habe», sagt der Patient und erzählt ein Beispiel: «Ich lag nach einer starken Chemotherapie in einem Sechserzimmer im Spital. Ich war der Einzige, der sich, trotz Übelkeit und diversen anderen Nebenwirkungen von Chemo und Bestrahlung, einigermassen gut fühlte.» Ursula Wolf ergänzt: «Forschungen haben gezeigt, dass der Wirkstoff der Mistel die Nebenwirkungen schulmedizinischer Massnahmen bei Krebs mildern kann.»

So seien Übelkeit und Müdigkeit nach der belastenden Chemotherapie erträglicher; Rötungen der Haut, ähnlich denen eines Sonnenbrands, die durch die Bestrahlung entstehen können, würden gemildert. Taubheitsgefühle in den Fingerkuppen, sogenannte Polyneuropathien, die durch defekte Nerven entstehen, würden sich vermutlich weniger stark ausbilden.

Für Wolf gibt es sowieso nur eine Medizin. «Eigentlich möchte ich nicht von Schulmedizin und Komplementärmedizin sprechen. Der Mensch ist eins und lässt sich nicht einfach in einzelne Teile auseinanderdividieren.» Deshalb sei es heute wichtig, Brücken vom einen zum anderen zu bauen. Inzwischen gebe es Studien, die belegten, in welchem Ausmass die Misteltherapie helfen könne. «Das gesamte Befinden eines Menschen wird verbessert. Und dadurch auch die Lebensqualität.» Neben ihrer Praxisarbeit am Inselspital hat die Professorin an der Universität Bern einen Lehrstuhl inne und forscht in Sachen Komplementärmedizin und deren Wirkung auf den Menschen. Wolf ist eine profunde Kennerin ihres Fachs, das auf der Anthroposophie Rudolf Steiners gründet. Auch Steiner habe, so Wolf, den Menschen zwar in die Physis, in den lebendigen Bereich, und in die Gefühle, also die Seele und den Geist, eingeteilt. «Doch er hat bei der Medikamentenentwicklung all dies auch immer berücksichtigt.» Durch die Misteltherapie könne der Mensch gestärkt werden, seinen «Lebensfaden» wieder aufzunehmen, die Konzentration werde auf das Wesentliche reduziert und die Lebensqualität erhöht.

Wie aber erklärt sich Ursula Wolf den Erfolg der Misteltherapie? «Die Pflanze wirkt auf Messbares, zum Beispiel die Blutwerte, und Nichtmessbares, zum Beispiel die Lebensqualität. Bei Letzterem ist es ähnlich wie bei den Gefühlen Liebe oder Hunger: Niemand kann quantitativ sagen, wie viel Hunger jemand hat, dennoch ist das Gefühl da. Die Mistel wirkt bei Krebs individuell wie Nahrung auf den Körper.» Die Ärztin erklärt, dass die Mistel, entgegen etwa der gängigen Volksmeinung und den Informationen im Internet, kein ausschliesslicher Parasit sei, sondern vielmehr eine Pflanze, die auf verschiedenen Bäumen wachse. «Das Einzige, was sie von ihnen nimmt, sind Wasser und Salze.» Je nachdem, auf welchem Baum die Mistel gedeihe, würden sich Art und Wirkstoff ändern.

Auf Weltreise mit Misteln

Beat Schranz indes beschloss bereits ein Jahr nach seiner Krebserkrankung, sein Leben von Grund auf zu ändern. Mit seiner Frau begab sich der Informatiker zwei Jahre auf Weltreise – mit dem Velo und mit Mistelarznei im Gepäck.
«Nach einem Jahr kam ich nach Hause, konsultierte Ursula Wolf, um mir ein neues Rezept ausstellen zu lassen», erzählt Schranz. «Dann machte ich mich wieder für ein Jahr auf den Weg durch die Welt und mein Leben.»

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Anerkannte Arzneimittel

Die Misteltherapie ist eine anerkannte Methode der anthroposophisch erweiterten Medizin und in der Grundversicherung enthalten. Alle Mistelpräparate, die von einem Arzt oder einer Ärztin mit staatlichem Diplom und einer Facharztausbildung (FMH) verschrieben werden, sind in der Regel durch die Grundversicherung der Krankenkassen gedeckt.

Zum besseren Verständnis: In der Grundversicherung sind alle schulärztlichen Konsultationen enthalten. Welche Medikamente ein Arzt verschreibt, liegt in seinem Ermessen. Diese Regelung gilt seit 2012. Alle anderen, nicht medikamentösen Massnahmen der anthroposophisch erweiterten Medizin sind durch die Zusatzversicherungen der Krankenkassen gedeckt. In der Grundversicherung sind immer nur Präparate enthalten, die von anerkannten Ärztinnen und Ärzten verabreicht oder verschrieben werden, wie zum Beispiel eben die Misteltherapie. slb

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